«The Starting Line» der Pinakothek der Moderne

John Bock & Michel Majerus · The Starting Line, 2002, Ausstellungsansicht

John Bock & Michel Majerus · The Starting Line, 2002, Ausstellungsansicht

Besprechung

Der grosse Publikumszuspruch und die oftmals euphorische Berichterstattung in Presse und Fernsehen kann nicht darüber hinweg täuschen, dass die Meinungen über die Archtektur und die erste – programmatische? – Ausstellung der Pinakothek der Moderne durchaus gespalten sind.

«The Starting Line» der Pinakothek der Moderne

Nicht wenige finden die Architektur dieses grössten Museumskomplexes in Deutschland einfach bieder und beklagen den konservativen Kunstgeschmack, der sich jetzt mit der Präsentation der Sammlungstätigkeit der letzten 50 Jahre offenbart. Zudem zeigt die Pinakothek eine von Bernhard Schwenk kuratierte, temporäre Ausstellung mit Gegenwartskunst. Der Ausstellungstitel «The Starting Line» lässt vermuten, dass sie programmatischen Charakter besitzt und den Anfang einer künftigen Ausstellungspraxis markiert. Schon allein deswegen lohnt es sich, ihre Konzeption und ihre Exponate genauer zu betrachten. Lobenswert ist Schwenks Versuch, die peinliche Ignoranz der Sammlung gegenüber Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts durch einen relativ hohen Frauenanteil in «The Starting Line» zu kompensieren. Als Thema dieser Ausstellung wird «Kindheit und Spiel» angegeben, wobei verschiedene Arbeiten mehr in Richtung Jugend(kultur) weisen.

Da die Exponate über zwei Geschosse und verschiedene Säle verteilt sind, nehmen nicht alle Besucher wahr, dass es sich hier um ein zusammenhängendes Projekt handelt. Für sie unübersehbar im Erdgeschoss aufgebaut ist jedoch Pipilotti Rists Installation «Himalaya Goldsteins Stube (Remake of the Weekend)» von 1998/99. Mit viel Nippes, Schuhen, Comics, Zeitschriften und jeder Menge bunter Lichter bildet sie einen Anziehungspunkt für jung und alt. Es ist erstaunlich, wo überall die Künstlerin hier Beamer versteckt hat: unter Stühlen und Tischen genauso wie in Lampen und Sofas. Auch die Wände werden bisweilen durch Projektionen von aussen durchbrochen. Ansonsten erinnern die Fotocollage-Wände in ihrem Format an Fototapeten und in der dichten Motivwahl an Richard Hamiltons Ikone «Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing». Rists Environment ist Neo Pop Art von seiner besten Seite. Ein achtjähriges Mädchen gab der Videoarbeit von Teresa Hubbard/Alexander Bircher den Titel «Eight», 2001. Der kurze Loop erzählt die Geschichte einer verregneten Geburtstagsparty im Garten. Die Gäste sind ins Haus geflüchtet, aber das Mädchen entscheidet sich, trotzdem nachts nochmals nach draussen zu gehen und sich ein Stück ihres Kuchens abzuschneiden. Die Aufnahmen wirken wie eine Schlüsselszene in einem Spielfilm, die einen Moment der Subjektkonstituierung des Mädchens zeigt, in der sie sich ihres eigenen, für andere vielleicht schwer verständlichen Willens bewusst wird. Für die Arbeit «The Buzzclub, Liverpool, UK/Mysteryworld, Zaandam, NL», 1996/97, war Rineke Dijkstra wieder als Model-Hunter unterwegs, diesmal in zwei Techno-Clubs. Vor weissem Grund nahm sie Teenager auf, wie sie tanzen, küssen oder einfach herumstehen. Die auf zwei benachbarte Leinwände projizierten Videos sind nach dem Rhythmus der Musik geschnitten. Irgendwie besitzen sie etwas Reisserisches. Wie Dijkstra die Jugendlichen darstellt, wirkt entlarvend, ja fast obszön. Und Eltern werden nach dem Besuch dieser Videoinstallation darüber beunruhigt sein, wie sexy, berauscht und gestylt junge Teenager in Clubs heutzutage aussehen.

Der andere Part von «The Starting Line» befindet sich einen Stock höher. Auf der mächtigen Treppe nach oben begegnet man Olaf Metzels Skulptur «Reise nach Jerusalem», 2002, benannt nach dem gleichnamigen Kinderspiel, das seine Dynamik aus einem Stuhl zu wenig entwickelt. Wellenförmige Bahnen aus Kunststoff umgeben eine isoliert platzierte Säule auf dem Treppenabsatz. Wie Stoffbahnen ragen sie auf beiden Seiten über diesen Absatz hinaus. Die kräftigen Farben verweisen auf einen feierlichen Anlass und eine dekorative Funktion. Blickt man in das Innere, den Hohlraum der Tonnenform, wird einem plötzlich der Titel klar. Denn darin befinden sich zahlreiche Gartenstühle, unregelmässig zu Türmen gestapelt. Es scheint als diene Metzels Skulptur als heimliches Lager, das zur Aufbewahrung unbesetzter Sitzgelegenheiten oder besser Posten in der neuen Institution dient. Warum Johan Grimonprez’ Arbeit «Dial H-I-S-T-O-R-Y» von 1997 in der Ausstellung gezeigt wird, ist verwunderlich: einerseits wurde sie schon so oft gezeigt (auch in München), andererseits ist der Zusammenhang von Flugzeugentführungen und dem Thema Kindheit/Spiel unklar. In einem anderen Saal treffen Gemälde von Michel Majerus auf Installationen von John Bock. Die in die Arbeiten von Bock integrierten Videos geben Aufschluss über die Aktionen, die in den drei präsentierten Szenarios ursprünglich stattfanden, einem Raum aus Schrank und Stoffbahnen, einer Holzröhre mit Tribüne und einem Metallviereck, das an einen Boxring erinnert. Die Gegenstände, die sich an diesen Orten befinden, erweisen sich als Relikte früherer Perfomances. Wie Pipilotti Rist bezieht sich auch Michel Majerus auf Pop Art, wobei dessen Gemälde im Vergleich zu den Werken der Begründer dieser Richtung wie Warhol, Rauschenberg oder Wesselmann seltsam ausgedünnt und blass wirken. Der Malgrund tritt bei ihnen auffallend stark in den Vordergrund. Die Kraft der populären Bildmotive wird durch malerische Raffinesse eher gedämpft als verstärkt. Eine speziell von Majerus für «The Starting Line» produzierte Licht-arbeit wurde von der Werbung eines Sportgeschäfts inspiriert. Mit an- und ausgehendem Rotlicht produziert sie aus den drei Teilen des Ausstellungstitels ein Wortspiel.

Was die Eröffnungsausstellung «The Starting Line» der Pinakothek der Moderne deutlich macht, ist einerseits, dass die neue Sammlungspolitik scheinbar Formaten wie Video, Installation oder Performance durchaus aufgeschlossen ist, und andererseits, dass sie sich in der Wahl der Künstler im Wesentlichen auf «big names» beschränkt.

Bis 
15.03.2003

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