Mehr-als-wohnen — Partizipation in der Genossenschaft
Mitte der Neunzigerjahre begann in Zürich mit Kraftwerk1 eine neue Ära des genossenschaftlichen Bauens und Wohnens. Seitdem sind in der Limmatstadt verschiedene zukunftsweisende Grossbauten entstanden, die heutigen Lebensbedingungen und -bedürfnissen nicht nur gerecht werden wollen, sondern diese zugleich entwickeln und gestalten. Wo partizipative Lebensformen erprobt werden, liegt es nahe, auch in der Kunst entsprechende Modelle durchzuspielen. Ein Blick auf das Kunstengagement der Genossenschaft Mehr-als-wohnen.
Mehr-als-wohnen — Partizipation in der Genossenschaft
Gegründet wurde die «Supergenossenschaft» im Dezember 2007 durch den Zusammenschluss von 35 Genossenschaften. Gut zehn Jahre später stehen auf dem Hunziker-Areal in Zürich-Oerlikon dreizehn von verschiedenen Architekturbüros entworfene Wohnhäuser. Ein quirliges Quartier mit rund 1300 Einwohner/innen ist entstanden, und als «Quartier» und nicht als «Siedlung» wurde das Bauvorhaben Mehr-als-wohnen – nomen est omen – von Anfang an beworben, um den Anspruch auf urbane Grösse und Lebendigkeit schon im Wording klarzumachen.
Kunst für den sozialen Körper Hunziker-Areal
Mit dem Erwerb des Geländes von der Stadt Zürich ging die Auflage einher, für 0,5 Prozent der Bausumme Kunst zu realisieren. Die 2010 zusammengestellte Jury entwickelte ein Drei-Phasen-Konzept: In Phase 1 sollte die Brache angeeignet und mit öffentlicher Aufmerksamkeit versehen werden. Phase 2 sollte den Bauprozess begleiten, Phase 3 nach Fertigstellung des gebauten Quartiers die neuen Bewoh ner/innen miteinander ins Gespräch bringen. Dabei wurde nicht – wie üblich – von einer «Kunst am Bau» gesprochen, sondern von einer «Kunst für den sozialen Körper Hunziker-Areal». Inspiriert u.a. von Henri Lefebvres 1974 veröffentlichtem Text «La production de l’espace» habe man immer wieder über Stadt, Architektur und Gesellschaft nachgedacht, erzählt der bereits bei Kraftwerk1 involvierte Architekt und Projektentwickler Andreas Hofer, folglich habe man auch die Kunst als Teil der performativen Raumproduktion gesehen.
Brache und Brunnen
Unter dem Titel ‹PlayMobile› realisierte zunächst das Kuratoren-Duo Irene Grillo und Stefan Wagner diverse Interventionen auf dem noch unbebauten Areal. Teils ironisch gemeinte, teils kritische, teils poetische Aktivitäten fanden statt, man liess ein Trüffelschwein übers Gelände rennen, eine Mietwohnung zum Verlosen ausschreiben, eine Sängerin die Brache einweihen. In Phase 2, der Bauphase, waren Frank und Patrik Riklin vom Atelier für Sonderaufgaben involviert. Als Antwort auf den Trend in ihrer Heimatstadt St. Gallen, die Innenstadt in «Sleeping Zones» mit Lärmverbot umzubauen, liessen die Zwillinge als «kommunikatives Zentrum» eine Art Dorfbrunnen bauen – allerdings in Form eines Automaten, der auf Knopfdruck Bouillon, Kakao, Kaffee oder Tee spendet. «Bezahlt» werden muss in Form von Handlungen, welche die Riklins in ihrer Social Urban Zone, der SUZ, in Form eines dreiteiligen Anforderungsprogramms entwickelten: Ein auf dem Hunzikerplatz hängendes Telefon muss genügend oft läuten, Ballspiele in beliebige Wandöffnungen sollen stattfinden, zudem sind die Quartierbewohner/innen an gehalten, «ungewöhnliche Handlungen» auszuführen. Ein Index berechnet, wie viele Becher pro Stunde als Gegenwährung für die geleisteten Aktivitäten ausgeschenkt werden können. Seit August 2018 ist das nur ein Becher pro Stunde. Die SUZ als «Instrument zur kollektiven Verunüblichisierung des Alltags und Steigerung der Attraktivität öffentlicher Plätze und Räume» wird also kaum wahrgenommen – und das, obwohl eine im Quartier gebildete Brunnengruppe «ungewöhnliche Handlungen» initiiert und Treppenhausfeste oder Beamerprojektionen auf Sonnenstoren für den Index auflistet. Statt den so spärlichen Brunnenfluss jedoch als Anzeichen für ein beklagenswertes «Vertrocknen des lebendigen sozialen Raums» zu sehen – wie es die Riklins tun – müsste eher über Sinn und Unsinn eines Kontrollsystems nachgedacht werden, das den Fluss eines «Brunnens» bestimmt und vermeintlich die Qualität von sozialem Leben zeigt. Mitglieder der 1957 in Paris gegründeten, stadtkritischen Situationistischen Internationale/SI schlugen damals «die Konstruktion von Situationen» vor. Den wieder aufgebauten Städten, «Friedhöfen aus Stahlbeton», solle mit der «ästhetischen Besetzung des Feindeslands» begegnet werden, mit «zu konstruierenden Situationen», um konditionierende Milieus und die «Herrschaft der Banalität» zu durchbrechen. Mehr-als-wohnen ist keine urbane Wüste, stattdessen werden hier innovative Wohn- und Arbeitsformen ausprobiert. Welche Bedeutung lässt sich hier also dem Trinkbrunnen der Riklins zusprechen? Geht es – im Unterschied zum politisch-gesellschaftlichen Anspruch der SI – um den Konflikt zwischen individuellen Wünschen und den Rahmenbedingungen eines Kollektivs? Der Aufruf zur Differenz, zum Eigensinn kann dann schnell als Radical Chic gelesen werden, als Aufruf zu einer Anders heit, die sich eher als modische Differenz denn als inhaltliche Divergenz definiert.
Salon, Glocke und Wandmalerei
In Phase 3 verlagerte die Künstlerin Esther Eppstein ihren bis anhin im Zürcher Kreis 4 situierten ‹message salon› als ‹message salon embassy› in Zürichs Norden und betreute ihn dort als Madame l’Ambassadeur. Für rund ein Jahr quartierte sie vorwiegend aus Osteuropa stammende Kunstschaffende für jeweils elf Wochen in der Galerie am Dialogweg 6 ein, Vernissagen, Performances, Gespräche, Feste und Workshops fanden statt, und sogar Zürichs Kunstpublikum war bisweilen im «peripheren» Oerlikon anzutreffen. ‹Die Glocke› von Stefan Baltensperger und David Siepert ist im Rahmen des städtischen Ausstellungsprojekts ‹Neuer Norden Zürich› aufs HunzikerAreal gekommen. Aber nicht in der Höhe, in einem Turm kann diese Glocke schwingen und klingen stattdessen steckt sie zwischen Bebauung und Riedgraben in der Erde fest, nur Hals und Krone ragen aus dem Boden heraus. Wie in der Endszene des Films ‹Andrej Rubljow› des sowjetischen Regisseurs Andrei Tarkowski ein jugendlicher Glockengiesser erfolgreich eine Glocke zustande bringe, das habe sie inspiriert, sagen die Künstler, und dass sein Werk nach einer Zeit von Krieg und Chaos im mittelalterlichen Russland zum Zeichen des Aufbruchs, der Hoffnung, des wiedererstarkenden Glaubens wurde. Die Glocke von Baltensperger und Siepert allerdings zeigt sich als kontext loses, verstummtes und verschüttetes Relikt, sie soll eine Art Denkmal für eine ehemalige Glaubensgemeinschaft und deren kollektiven Aufbruch sein. Um das nötige Material für ihre Glocke zu generieren, lancierten die Künstler eine Aluminiumsammlung und deklarierten diese als «partizipativen Akt». Eher handle es sich wohl schlicht um eine Spende, gaben kritische Areal-Bewohner/innen zurück, in der Genossenschaft würde Partizipation anders definiert. Als «niederschwellige» Beteiligung vermochte die dreimonatige Sammelaktion jedoch viele zu involvieren – auch wer kein Deutsch spreche und nichts von Kunst verstehe, habe mitgemacht, wird berichtet, und auch derart würden Bezüge zum Quartier aufgebaut, Geschichten generiert und ein Ort geschaffen. Der letzte Akt des an den Baurechtsvertrag gebundenen Kunstengagements von Mehralswohnen war das 2018 fertiggestellte ‹Monociel – Zwei Welten unter einem Himmel› des Designers Kevin Benz und des Architekten Enrico Pegolo. Die Wandmalerei zeigt einen Sternenhimmel, der dem vom 5. Dezember 2007 entspricht, dem Gründungstag der Genossenschaft. Zudem einen spiegelverkehrten und verschobenen Kompass, den Smartphones als QR-Code entziffern, als Zugang zu Instagram-Bildern mit dem Hashtag #hunzikerareal. Das «klassische» Wandbild wird zur Schleuse, die vom Hier und Jetzt, vom Genius Loci, in kosmisch-digitale Weiten führt. Dort sollen sich – wie auf einem Schwarzen Brett – die nun digitalen Postkarten finden, die vom Hunziker-Areal berichten und den Community-Geist fördern.
Testlabor Partizipation
Im Verlauf von sieben Jahren wurden für Mehr-als-wohnen Werke realisiert, die auf die eine oder andere Art auf Partizipation setzen. Wie in einem Testlabor wurden künstlerische Modi der Beteiligung durchexerziert, wobei unterschiedliche Quartierbewohner/innen involviert werden – der Brunnen der Riklins spricht vermutlich eher jüngere Menschen an, Eppsteins Salon vor allem Kunstliebhaber/innen, bei der Materialsammlung für die Glocke haben wahrscheinlich alle mitgemacht, ‹Monociel› ist besonders für Social-Media-Afficionados von Interesse. Gerade in ihren unterschiedlichen Ansätzen haben die künstlerischen Aktivitäten geholfen, aus dem eben erst entstandenen Quartier einen vielfältig lebendigen Ort zu machen. Diese Art der Wertschaffung, der Aufwertung eines Ortes durch den Einsatz von Kunst wurde in den letzten Jahren häufig kritisch gesehen, begründet im Tatbestand, dass Künstler/innen als «Raumpioniere» zu Gentrifizierungsprozessen beitragen. In den heutigen «Dienstleistungsstädten» wird Kunst in ihren verschiedenen Formen nicht selten instrumentalisiert – so beispielsweise um neue Aktivitäten in zu transformierende Stadtteile zu bringen, um hochqualifzierte Arbeitskräfte anzulocken oder den Tourismus und damit die lokale Wirtschaft zu fördern. Durch Kultur werden emotional aufladbare Images produziert, die für urbane Gesellschaften wachsende Bedeutung gewinnen. Auch Mehr-als-wohnen war mit seinem Kunstengagement interessiert, das Hunziker-Areal in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Allerdings ging es hier nicht um Kapitalaufwertungsprozesse, um Profitmaximierung, sondern darum, eine anregende, kommunikative und partizipative Atmosphäre herzustellen. Man mag die einzelnen Arbeiten als mehr oder weniger gelungen, intelligent, nachhaltig betrachten – allen gemeinsam ist, dass sie beigetragen haben, ein urbanes Quartier ent stehen zu lassen. Die Genossenschaft Mehr-als-wohnen hat Kunst als aktivierendes und kulturproduzierendes Anliegen gesehen – als Medium der Auseinandersetzung und nicht als Dienstleistung für Kunden.
Brita Polzer, Autorin und Dozentin, britapolzer@swissonline.ch
Mehr-als-wohnen, Hunziker-Areal, Zürich Oerlikon, alle Werke sind öffentlich zugänglich, www.mehralswohnen.ch
Mehr-als-wohnen ist der Zusammenschluss von 35 Genossenschaften. Ziel war es, auf dem früheren Standort der Betonfabrik Hunziker eine Mustersiedlung, ein «Stadtviertel der Zukunft» zu realisieren. Heute ist das 41’000 m2 grosse Areal Identitätsträger des ehem. Industriequartiers Leutschenbach. Masterplan-Büros waren Duplex Architekten und Futurafrosch, beteiligt waren zudem Müller Sigrist, Miroslav Šik, pool Architekten. Angeboten werden neben altbewährten auch neue Wohnformen: u. a. eine 13-1/2-Zimmer Gemeinschaftswohnung, zumietbare Wohn und Arbeitszimmer, Allmendräume und Freizeitinfrastruktur. Das Areal bietet Wohnraum für etwa 1300 Personen und etwa 150 Arbeitsplätze. Es gibt zwei Restaurants, eine Hotelanlage, ein Café, Läden, mehrere Ateliers und Büros, einen Musik Club, eine Galerie, einen Kindergarten, einen Hort ... Andreas Hofer, Leiter Forschung und Innovation, ist seit letztem Jahr Leiter der IBA Stuttgart 2027.
Institutionen | Land | Ort |
---|---|---|
Hunziker Areal/Mehr als Wohnen | Schweiz | Zürich |
Baltensperger + Siepert | |
Enrico Pegolo | |
Esther Eppstein | |
Philip Matesic | |
Riklin & Riklin | |
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Kevin Benz |
Brita Polzer | |
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