Paul Noble und Luisanna Gonzalez Quattrini — Nur nicht in die Zukunft denken
Ausstellungserfahrungen leben oft ebenso von den immanenten Qualitäten einer Werkauswahl wie den Resonanzen, die sich zu Sammlungsbeständen und anderen Programmpunkten der Institution wie auch ihrem breiteren Kontext ergeben. Bei der aktuellen Doppelschau von Paul Noble und Luisanna Gonzalez Quattrini im Musée des BeauxArts La ChauxdeFonds fügt sich alles glücklich zusammen.
Paul Noble und Luisanna Gonzalez Quattrini — Nur nicht in die Zukunft denken
Der 2018 als neuer Direktor des Musée des BeauxArts La ChauxdeFonds einge setzte David Lemaire hat bereits letzte Saison mit der Realisierung von zwei Ausstellungen pro Saison begonnen. Der zur religiösen Malerei von Delacroix promovierte und zuvor im Mamco Genève amtierende Kunsthistoriker hat die Programmierung mit gelehrten Analysen der Tradition des Museums und der ästhetischen Identität der Stadt an die Hand genommen, lässt aber auch freien Assoziationen zum Vorgefundenen Raum. Derartigen Bezügen ist zu verdanken, dass Paul Noble und Luisanna Gonzalez Quattrini eingeladen wurden, gleichzeitig im Museum auszustellen.
Plastische und ikonische Zeichen
Auf den ersten Blick verbindet die zwei Geschlechter, Generationen und Biografien repräsentierenden Kunstschaffenden wenig. Medium und Stil könnten,
abgesehen von der Konsequenz, mit der sie diese pflegen, nicht unterschiedlicher sein. Gonzalez Quattrini malt Serien kleinformatiger Notizen, interpunktiert von grossformatigen Ausführungen. Ins Auge fällt sofort das plastische Eigenleben der mit beschwingter Hand in leuchtenden Grün und Blautönen und fleischigen Braun, Rot und Gelbnuancen berührten Leinwände. Und allmählich zeigen sich dazwischen auch einige tier, menschen und yetiartige Mischwesen. Noble dagegen lässt auf riesigen Formaten (bis zu 4 x 5 m) glasklare Bilder menschenleerer Veduten, Landschaften, Meerstücke und Interieurs entstehen, die, was keineswegs anekdotisch ist, stets banale 10.45 Uhr spiegeln. Die haarfeinen Bleistiftzeichnungen, die er in wochenlangen Ausführungs und Verbesserungsprozessen erzeugt hat, die Kratzer, Krümel, ja sogar Blutstropfen, entdeckt man erst von ganz nah.
Inselartige Anderswelten
Beide Kunstschaffenden führen in inselartige Welten, in denen die Triebe eine grosse Rolle spielen. Bei Noble kommt man in der auf den Trümmern einer älteren Zivilisation oder felsigem, steinigem Land ex nihilo erbauten, fiktiven Stadt «Nobson Newtown» an, in deren befremdlich steriler Ästhetik nichtsdestotrotz Orales, Anales und Genitales so latent vorhanden sind, dass sie nicht nur in öffentlichen Skulpturen und kommerziellen Anschlägen skatalogische respektive pornografische Form finden. Selbst die Binnenformationen all der um sie herumliegenden Kiesel laden zu schlüpfrigen Interpretationen ein. Bei Gonzalez Quattrini wird man dagegen auf sumpfige, schlammige Kaps zwischen Wasser und Himmel versetzt. Diese evozieren ein Stadium noch vor dem Durchbruch des Homo sapiens und seines Superhirns, welches ihm das präzise Vorstellen, kreative Überdenken und radikale Verändern seines Daseins erlaubt. Die Hunde, die Pferde und die diversen Primaten gehen ohne Scham miteinander um, beäugen einander, kopulieren auf einer Wiese, pinkeln nebeneinander. Nicht zuletzt aufgrund des urbanen Kontextes der Ausstellungen werden Quattrini wie Noble als bataillesche Kritiker der Sackgassen moderner Architektur und Urbanistik virulent. So ist La ChauxdeFonds eine erst 1667 auf einer Juraplatte im Grenzland von Frankreich gegründete und nach einem Brand 1794 auf einem Raster neu erbaute «Manufakturstadt» (Karl Marx). Ihr berühmtestes Kind ist Le Corbusier, der – angefangen mit dem (zum Glück) nicht realisierten ‹Plan voisin› für Paris 1922/1925 – für einige der einflussreichsten architektonischen und urbanistischen Utopien des 20. Jahrhunderts verantwortlich zeichnet. Wo Noble jedoch in seinen Zeichnungen die heutigen zivilisatorischen Realitäten blosslegt und fantastisch und visionär überspitzt, da hat Gonzalez Quattrini bereits alles wieder verflüssigt. Dabei kommt das Denken der beiden Kunstschaffenden aus ganz anderen Richtungen.
Instinkt und Alphabet
Gonzales Quattrini entwickelte seit dem Ende der Neunzigerjahre während ihrer Reise von Lima über Florenz in die Schweiz – 2005 erhielt sie ihr Diplom an der HEAD, jetzt lebt sie in Basel – eine scheinbar anspruchslose Malerei, zu der sie die Bildränder von Matisse oder auch das «paintaspaint» von Jonathan Lasker anregten. Zugleich tastete sie sich in Geschichten von sanften Augenblicken instinktiver Verbindung mit dem eigenen und fremden Körpern an das Wesen der Malerei heran. Diese Narrationen liess sie mehr und mehr in ihre Arbeit mit Pinsel, Farbe und Leinwand einfliessen – immer auf der Hut indes, die Malerei nicht mit Inhalten zu erschlagen. Der seit 1987 in London lebende Noble fand bereits zwischen 1992 und 1995 zu seinem bis heute bestimmenden Projekt. Alles begann mit der Abkehr von der Malerei und der Farbe, für die er eigentlich eine gute Hand hatte, zugunsten banalster Bleistiftzeichnung. Es war für ihn «Busse», da er sich als Künstler «dumm» fühlte. Noble existierte damals in prekärer Situation und engagierte sich neben seiner Aktivität für den Offspace ‹City Racing› in Kensington im Kampf gegen neue Autobahnen oder gegen Produktionssteigerung und Konsum um jeden Preis, er sah aber nicht, wie er dies mit seiner Kunst unterstützen konnte. Er empfand Kunst als «immoralischen Ort», einen Bereich, in dem er als Kunst schaffender ein ähnliches Ego an den Tag legen musste wie die megalomanischen Wirtschaftsplaner und Stadtentwickler, deren Auswürfe ihn erschreckten und er starren liessen. Besonders erschütterten ihn Nicolas Ceaucescus grössenwahnsinniger Palast wie auch das Computerspiel SimCity, in dem sich jeder als Architekt und Urbanist verwirklichen konnte. Noble reagierte darauf mit einem eigenen, jedoch höchst ambivalenten Stadtentwurf, den man als ikonoklastische Ikone bezeichnen könnte: So vermied er in seinen Zeichnungen nicht nur alles Genialische, Bravouröse oder Akademische und fusionierte stattdessen die dem Sozialismus nahestehende Neue Sachlichkeit der Zwischenkriegszeit mit technischen perspektivelosen Aufris sen, wie er sie von Heizungsingenieuren in seiner Familie kannte. Inspiriert von seiner rabbinischen Unterweisung, setzte er verstärkt auch auf die Macht des Wortes mit einem selbst entworfenen Alphabet aus Bausteinen. Damit konnte er vom Spital über die Shopping Mall bis zur eigenen Villa alles rational aufbauen und mit visuellen Glossen ohne Autorität versehen wie ein mittelalterlicher Illuminator. Das zentrale Interesse dieser Methode besteht für ihn darin, dass sie dem «Publikum Raum gibt».
Schuld und Sühne
Die Ausstellung in La ChauxdeFonds des 2012 für den Turner Prize nominierten Noble ist auch für Leute, die sein Schaffen schon länger verfolgen, sehr spannend. Sie zeigt die Wende des Werks seit der grossen Retrospektive im Museum Boijmans Van Beuningen 2013 in Rotterdam. So ist die allerletzte, 2014/2015 entstandene, monumentale und mit ‹You Worm, Kneel› betitelte Zeichnung mit Ansichten seiner fiktiven Stadt «Nobson Newton» zu sehen, in der er sich mit einem von sich abgetrennten Bein in verschiedenen Massstäben die Frage stellt, wie gross der Raum ist, den er seit 1995 geschaffen hat, und wo er in ihm und überhaupt steht. Zugleich tauchen seltsame Türen in der Landschaft auf, hinter die er sich gleich darauf in eigenartig flächigen Interieurs zurückziehen sollte. Er erklärt: «Ich glaube, ich bekam Platzangst, als ich im Boijmans sah, wie viel Raum ich geschaffen hatte, und flüchtete hinter eine Tür, wobei ich nicht weiss, ob ich nun in einem Haus, einem Schrank oder einem Sarg bin.» Er schliesst jedoch auch eine Verbindung mit zeitgenössischen Befindlichkeiten nicht aus. «Die Menschen hatten wohl immer eine Vorstellung von Zukunft. Sie lag in den Händen der Götter. In der Moderne hielten wir uns für Meister der Zukunft. Seit rund zehn Jahren wollen die Leute jedoch lieber nicht mehr an die Zukunft denken.»
Gespräche mit Paul Noble: Gagosian Gallery Geneva, am 23.11.; Musée des BeauxArts La ChauxdeFonds, am 24.11.; Telefongespräche mit Luisanna Gonzalez Quattrini am 4.12. und 5.12.
Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin, Kuratorin, lebt mit ihrer Familie in Gland VD. kholderegger@hotmail.com
Paul Noble (*1963, Dilston und Northumberland), lebt in London
2012 Nomination für den Turner Prize, London
1983–1986 Humberside College of Higher Education, Lincoln 1982–1983 Sunderland Polythechnic, London
Einzelausstellungen (Auswahl seit 2001)
2019 ‹Open Shut›, Musée des BeauxArts La ChauxdeFonds
2018 Gagosian Gallery, Genf
2017 ‹New Works›, Gagosian, San Francisco
2014 ‹Nobson›, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam
2013 ‹The Gates›, Gagosian Gallery, Athen
2011 ‹Marble Hall›, Laing Art Gallery, Newcastle; ‹Welcome to Nobson›, Gagosian Gallery, London 2007 Gagosian Gallery,New York
2005 Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam; Migros Museum, Zürich
2004 Whitechapel Art Gallery, London; Maureen Paley Interim, London
2003 Albright Knox Gallery, Buffalo/NY
2001 Maureen Paley Interim Art, London; MAMCO, Genf
Luisanna Gonzalez Quattrini (*1972, Lima), lebt in Basel
2007 Eidgenössischer Kunstpreis
2005 Prix Théodore Strawinksy, Genf
2005 Diplom Haute Ecole d’art et de design Genève
Einzelausstellungen (Auswahl)
2018 ‹Accroupissements›, Musée des BeauxArts La ChauxdeFonds
2011 ‹Atelier›, Monrepos, Lausanne
2007 ‹Luisanna Gonzalez Quattrini, Esteban Pagés›, Art en Île, Genf
2006 ‹At the end the same monkey›, Galerie Bis Heute, Bern
2005 ‹Almost Nothing›, HEAD, Geneva
2002 ‹Gente del Agua›, Galería Artco, Lima
2001 ‹Pinturasy Dibujos›, Galería Forum, Lima
1998 ‹S/T›, Galería Forum, Lima
Institutionen | Land | Ort |
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Musée des Beaux-Arts La Chaux-de-Fonds | Schweiz | La Chaux-de-Fonds |
Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ |
Ort![]() |
Land | |
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Paul Noble | 04.11.2018 – 03.02.2019 | Ausstellung | La Chaux-de-Fonds |
Schweiz CH |
Luisanna Gonzalez Quattrini | |
Paul Noble |
Katharina Holderegger Rossier |