Mahtola Wittmer — In der Summe etwas Merkwürdiges
Am Anfang war ihr die Fotografie vor allem ein Tool der visuellen Recherche. Inzwischen macht die Bachelor-Absolventin der Hochschule Luzern den grossen Fundus ihrer dokumentierten Gegenstände, Gesten und Situationen zur Basis von assoziativen Bild-Erzählungen im Raum, in Zeitungen oder Magazinen. Ihre Installation im Aargauer Kunsthaus wird zudem auch von ihrer Aktivität als junge Performancekünstlerin geprägt. Beiläufige Überraschungen des Alltags erweisen sich als produktive Störungen. Oder sie führt umgekehrt dem Alltag beiläufige Überraschungen zu.
Mahtola Wittmer — In der Summe etwas Merkwürdiges
«Man kann es moderne Stillleben nennen.» Seit ungefähr fünf Jahren schon sammelt die 26-jährige Mahtola Wittmer Situationen, die sie mit dem Smartphone spontan einfangen kann. Sie reagiert, wenn Objekte, Körper und Konstellationen den Fluss der Normalität mit etwas Überraschendem, Absurdem, Unerklärlichem unterbrechen. Fragend richten sich die Dinge an den Blick der Künstlerin: Was ist passiert, wo ein rot-weisser Plastikbändel zwei Fundamente aus Beton behelfsmässig zusammenbindet? Wie lange floss kein Wasser, wenn ein grüner Spross das Chromstahlsiebchen im Lavabo durchdringt? «Ich suche nicht. Es ist so nahe am Alltag, dass es mir entgegenspringt.» Requisiten privaten und öffentlichen Lebens berichten von Wertschätzung oder kleinen Regelverstössen. Beides registriert Wittmer mit gleichbleibender Achtsamkeit. Unaufgeregt erhebt das Bild ihre Entdeckungen zu heimlichen Trophäen: Ein weisses Kissen bläht sich im Fensterrahmen einer Mietskaserne irgendwo im östlichen Europa. Über das Metallgerippe eines Abfalleimers vor mediterranem Baumbestand ist der Plastiksack gespannt wie eine noble Schürze. Ein Stück Rotkohl auf dem Schnittbrett zeigt sein aufgewühlt marmoriertes Inneres. Ob Fehler, Zufall oder Nachlässigkeit: Um zwei Gullydeckel wechselt das Strassenpflaster für je ein Rechteck seine Beschaffenheit.
Offenlassendes Erzählen
Die Einladung in die Ausstellungsreihe ‹Caravan› im Aargauer Kunsthaus nimmt die Künstlerin zum Anlass, ihren grossen digitalen Bilderschatz zu sichten und ausgewählte Motive in unterschiedlicher Grösse zu einem wortlosen Bild-Essay auszulegen. Der längliche Raum, von zwei Seiten erschlossen, situiert die Präsentation als Teil des Rundgangs durch Bestände der Aargauer Kunstsammlung. Das empfiehlt die Bildlektüre gleichsam im Vorbeigehen. Der Künstlerin kommt das entgegen: Es sind beiläufige Störungen, die sie selber innehalten lassen. Vergleiche herausfordernd und ohne absichtliche Erzählung bilden sich Bildpaare und visuelle Beziehungen. Spinat aus dem Tiefkühler ähnelt dem rauen, grünlichen Isolationsmaterial unter den Dielen eines Riemenparketts. Ein mit Steinen beschwertes Tuch blickt von der Wiese auf wie das Gesicht der Künstlerin aus der schimmernden Folie einer Einweg-Gesichtsmaske. Ohne Rücksicht auf funktionale oder chronologische Zugehörigkeiten ist der Blick am Tisch, im Zimmer, im Atelier oder auf Reisen jenen Körpern auf der Spur, welche die Dinge im Alltag und entlang seiner Ränder arrangiert haben.
Von der Grafik zur bildenden Kunst
Vor ihrem Bachelor an der Hochschule Luzern Design & Kunst hat Mahtola Wittmer eine Ausbildung als Grafikerin absolviert. War der Wechsel zur Kunst eine Befreiung? «Ich sehe es vielmehr als Erweiterung der Möglichkeiten», sagt sie, und die Antwort kommt entschieden. «Zu Beginn fotografierte ich vor allem zur Recherche. Dabei entstanden aber immer wieder interessante Fotografien, die mich dazu bewogen, sie zum eigentlichen Gegenstand meiner Arbeit zu machen.» Gerade im Kontext der Aargauer Sammlung und Ausstellungsgeschichte umschmeicheln Erinnerungen anandere Künstlerinnen Wittmers junge Installation. Binia Bill beispielsweise wusste Volumen aus Licht und Schatten so zu isolieren, dass Gefässe, ein Stück Mobiliar oder eine Geste in ikonischer Textur erhalten blieben. Silvia Bächli oder Cécile Hummel haben damit angefangen, Zeichnungen, später fotografische Bilder in eigengesetzlichen Kompositionen über Wände zu streuen. Hannah Villigers Arbeit suchte mit der Polaroidkamera jene Distanzlosigkeit, die Übersicht verneint und umso intensiver Dinge und Körper entlang ihrer Oberflächen abtasten lässt. Sollten solche Vorläuferinnen Pate gestanden und die Bereitschaft gefördert haben, Bedeutungshierarchien im Blick in die Welt subjektiv anzufechten: In Bezug auf die Ökonomie der Bilder sind wir 2019 an einem anderen Punkt als in den Neunzigerjahren und in Sachen Mobilität sowieso. Immer und überall hat Wittmer mit dem iPhone ihr dokumentierendes Tool zur Hand. Kostenlos ist jede neue Aufnahme bis zu Ausdruck und Vergrösserung und durchlässig die Grenze zwischen spontanen, privat sich einstellenden Situationen und der künstlerischen Absicht, eine Orange oder eine Reiswaffel ins Repertoire der Entdeckungen aufzunehmen.
Eine zeitgenössische Flaneuse?
Im Naheliegenden und im Ausschnitt entlässt diese Fotografie die Betrachterin oder den Betrachter nie ganz aus jener Nähe, die nach dem eigenen Verhältnis zu Schoss, Nahrung, Kleidern oder auch zum Unterwegssein fragen will. Und spätestens wenn Wittmer auf einem niedrigen Podest im hundert- und tausendfachen Postkartenformat eine grosszügige Auswahl ihrer Aufnahmen zum Sichten und Wühlen anbietet, findet man sich auf einer eigenen Skala zwischen Belustigung und Befremden, Irritation und Schaulust wieder. Man kann die Frage nicht mehr unbefangen stellen, und vielleicht ist es auch nicht an Wittmer, sie zu beantworten: ob ihr empathischer, oft körpernaher Blick weiblich konnotiert sei. Während ihres Studiums sei einmal das Motiv des Flaneurs zum Thema gemacht und die Frage nach dessen weiblichem Pendant aufgeworfenworden: Als die Stadt des 19. Jahrhunderts den umherschweifenden Müssiggänger hervorbrachte, machten sich ziellos und unbegleitet um sich schauende Frauen nur verdächtig. In ihrer Rolle als Beobachterin fällt Wittmer heute, mindestens in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft, kaum mehr auf. Es kann sein, dass ihre wählerische Umsicht jenseits von mächtigen Deutungsansprüchen das subtilere Porträt von Gegenwart zeichnet als manch grosse, autoritative Setzung.
Agieren im öffentlichen Raum
Im Sommer 2018 hatte Wittmer mit Klarissa Flückiger den Glockenschlag der Peterskapelle Luzern durch den standardisierten Klingelton eines Mobiltelefons ersetzt. Kontroverse Reaktionen blieben im Herzen der touristischen Altstadt nicht aus. Für die einen ein augenzwinkernder Fingerzeig auf das Diktat unserer pausenlosen Telekommunikation, sahen andere in der temporären Intervention den bösen Angriff auf eine Ordnung von Arbeits- und Ruhezeiten, wie sie wenigstens die Kirche noch in Schutz zu nehmen habe. Wenn Wittmer «in den Alltag eingreifen» will, sind das Böse und das Angriffige dabei weniger ihre Sache als das kleine Unterlaufen von Erwartungen in vertrauter Umgebung und Gegenständlichkeit. Am ersten Abend des Performancefestivals ‹Eile mit Weile›, 2019, verkehrte sie den Zweck eines Regenschirms vom tragbaren Schutzdach in einen Behälter. Die Witterung spielte ihr gleichsam in die Hand, als sie von der Innenstadt nach Emmenbrücke wanderte, um das Regenwasser als Souvenir in Flaschen abzufüllen. Es sei anstrengend gewesen, aber es ging nicht in erster Linie um Verausgabung. Der Stoff hätte reissen können, doch war nicht das Spiel mit diesem Risiko ihr Thema. Es war das Bild einer Lücke, die sich auftut, wenn etwas ganz Gewöhnliches eine andere Form und Funktion annimmt.
Isabel Zürcher arbeitet als Kunstwissenschaftlerin und freie Autorin in Basel und Mulhouse.
mail@isabel-zuercher.ch
Mahtola Wittmer (*1993, Luzern), lebt und arbeitet in Adligenswil und Luzern
2019 Bachelor in Bildender Kunst (Kunst & Vermittlung), Hochschule Luzern Design & Kunst
2018 Austauschsemester an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig
2010–2015 Fachklasse Grafik, Fach- und Wirtschaftsmittelschulzentrum Luzern (FMZ)
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2019 ‹Eile mit Weile – Zeit für Performance›, akku Kunstplattform und (ort), Emmenbrücke
2018 ‹die digitale›, Düsseldorf
2017 ‹11. Jungkunst›, Winterthur
2016 ‹I don’t always print pictures but when I do they are fucking awesome›, Tatort Bernstrasse, Luzern
2014 ‹Spamam and Friends, L’eautre›, Kunsthalle Marcel Duchamp, Cully
2012 ‹Rüstungen – Sonderausstellung über die zweite Haut›, Historisches Museum Luzern
Institutionen | Land | Ort |
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Aargauer Kunsthaus, Aarau | Schweiz | Aarau |
Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ | Ort | Land | |
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Mahtola Wittmer | 01.09.2019 – 27.10.2019 | Ausstellung | Aarau |
Schweiz CH |
Mahtola Wittmer |
Isabel Zürcher |