Thomas Hirschhorn — Momente der Grazie

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Thomas Hirschhorn, alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Thomas Hirschhorn, alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Robert Walser-Sculpture, 2019, Grossprojekt im öffentlichen Raum von Biel. Alle Aufnahmen © ProLitteris. Fotos: Enrique Muñoz García

Fokus

«Be an Outsider! Be a Hero! Be Robert Walser!» 86 Tage, von Juni bis September, war Thomas Hirschhorns ‹Robert Walser-Sculpture› auf dem Bahnhofplatz Biel präsent. Das Grossprojekt sorgte für Begeisterung, aber auch für Kritik. Jetzt wird die Skulptur abgebaut. Ein rückblickendes Gespräch. 

Thomas Hirschhorn — Momente der Grazie

Henkes: Die ‹Robert Walser-Sculpture› war eines der grössten Projekte, die Sie bisher umgesetzt haben. Ist es ein erfolgreiches Projekt?

Hirschhorn: Ob die ‹Robert Walser-Sculpture› ein Erfolg ist, wird sich frühestens in zehn Jahren zeigen. Im Moment kann und will ich beim besten Willen nicht von Erfolg reden. Aber auch nicht von Misserfolg. Ich bin noch immer dabei – mit allen Bielerinnen und Bielern, die täglich da sind –, für die Skulptur und für mein Verständnis von Skulptur im öffentlichen Raum zu kämpfen. Die Skulptur ist fragil, unstabil, sie bleibt prekär, und dies mit ungewissem Ausgang. Eines ist gewiss: Ich bin glücklich, jeden Tag auf der ‹Robert Walser-Sculpture› zu sein.

Henkes: Was hat Sie persönlich an diesem Projekt besonders herausgefordert?

Hirschhorn: Die besondere Herausforderung war das Einschliessen der auf dem Bahnhofplatz sich einfindenden Personen. Dabei war die Entscheidung, diese Arbeit auf dem Bahnhofplatz zu machen, die richtige, die Sinn machende. So denke ich, dass die Implikation der Menschen auf dem Bahnhofplatz mit und durch die Skulptur mindestens teilweise gelungen ist. Dieses Einschliessen aller ist sehr schwierig, unheimlich komplex und ungemein kräftefordernd, aber es ist mehr als ein Ziel, es ist wichtiger Teil der Form der ‹Robert Walser-Sculpture›. Es steht für meinen absoluten Einschlusswillen: Niemand darf ausgeschlossen bleiben, nie. Besonders freuen mich die vielen wundervollen unerwarteten Momente der Grazie, das Lernen mit und über Robert Walser und die unzähligen Begegnungen mit den unterschiedlichsten Bielerinnen und Bielern.

Einschluss statt Exklusivität
Henkes: In der Planungsphase gab es Schwierigkeiten. Die ‹Robert Walser-Sculpture› wurde um ein Jahr verschoben. Hat sich das inhaltlich ausgewirkt?

Hirschhorn: Die Verschiebung hat sich positiv ausgewirkt. Probleme konnten gelöst werden und es gab mehr Zeit für Vorbereitung und Präzisierung. Durch die zusätzliche Zeit konnten neue Kräfte, neue Perspektiven, neue Gedanken mobilisiert werden – so der Gedanke des Insistierens. Oft bringt das Insistieren, das kopflose Sichdurchsetzen den Durchbruch.

Henkes: Es gab im Rahmen der ‹Robert Walser-Sculpture› sehr unterschiedliche Veranstaltungen, unter anderem Vorträge – Lectures – auf hohem intellektuellem Niveau, die vermutlich eher für ein Publikum mit einer gewissen Vorbildung interessant waren. War das die Idee, Programm-Inseln für unterschiedliche Ansprüche und Interessen zu haben? Hirschhorn: Es ist wunderbar, diesen vielen feinen, präzisen und engagierten Vorträgen auf höchstem Niveau über Robert Walser und über sein Werk beizuwohnen. Wir lernen so viel und es ist – genau – nicht elitär. Es ist – genau – nicht exklusiv, sondern es ist einschliessend. Exlusiv und elitär wäre das Gegenteil, nämlich vom anderen, von der anderen anzunehmen, dass er oder sie nichts versteht. Elitär wäre, anzunehmen, dass nur ich verstehen würde. Ich aber will in und mit der Kunst einschliessen und nie, nie ausschliessen.

Henkes: Ist Robert Walser für die Bielerinnen und Bieler heute wichtig?

Hirschhorn: Robert Walsers Werk wird, davon bin ich überzeugt, in Konfrontation mit unserer Zeit, unserer Realität und unserer Welt jeden Tag wichtiger – und dies nicht nur für die Bielerinnen und Bieler.

Nachdenken über die Zeit danach
Henkes: An der ‹Robert Walser-Sculpture› waren viele Menschen beteiligt, die in prekären Verhältnissen leben. Für sie war das Mitwirken am Projekt eine wichtige Erfahrung. Was geschieht mit ihnen in Post-‹Robert Walser-Sculpture›-Zeiten?

Hirschhorn: Wichtig ist nun, dass aus dieser Erfahrung etwas entsteht und etwas Neues wächst, dass aus diesem gemeinsam geschöpften Ereignis etwas Transformatorisches entsteht: Glauben an die Kunst und ihre transformatorische Kraft, Kompetenz zu einem Selbstverständnis, Mut zum Gelingen, Elan zur Selbstemanzipa­tion, Dynamik zur Selbsterfindung. Das ist es, was die ‹Robert Walser-Sculpture› – als Kunstwerk – nachhaltig provozieren kann. Das ist Nachhaltigkeit weit über das Objekt oder das Material hinaus.

Henkes: Wie war das in der Bronx? Am ‹Gramsci-Monument› haben auch viele Menschen aus prekären Verhältnissen mitgewirkt. Was machen sie heute?

Hirschhorn: Sie leben und überleben weiter.

Henkes: Kann man die Situation von Menschen, die heute prekär leben, mit der Armut des erfolglosen Dichters Robert Walser vergleichen?

Hirschhorn: Kein Leben kann mit dem Leben anderer verglichen werden. Jedes Leben, jedes einzelne Leben ist einzigartig und ausserordentlich. Das kann ich unter vielem anderem bei der Lektüre von Robert Walsers Texten erfahren.

Henkes: Robert Walser, der einsame Dichter, der ausserhalb der Gesellschaft steht – ist das nicht auch eine romantische Idee, die wir uns heute machen?
Hirschhorn: Warum nicht mit einer romantischen Idee beginnen und dann – durchs Lesen und durchs Zuhören – erfahren und begreifen, dass das Werk Robert Walsers viel vielschichtiger, viel geheimnisvoller und auch viel politischer war?

Alice Henkes lebt in Biel, arbeitet als Redaktorin für Radio SRF2 und als freie Kunstkritikerin und Kuratorin. alice.henkes@bluewin.ch

→ ‹Robert Walser-Sculpture› von Thomas Hirschhorn, initiiert und kuratiert von Kathleen Bühler; Katalog, hrsg. von Kathleen Bühler und Schweizerische Plastikausstellung, erscheint im Dezember. 
www.robertwalser-sculpture.com

Autor/innen
Alice Henkes
Künstler/innen
Thomas Hirschhorn

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