Thomas Schütte — Frau, Mann, Haus, Flagge und Blues

Thomas Schütte · Mann ohne Gesicht, 2018, patinierte Bronze, Stahl, 450 x 240 x 240 cm, Installationsansicht Kornmarktplatz, Bregenz © ProLitteris. Foto: Markus Tretter

Thomas Schütte · Mann ohne Gesicht, 2018, patinierte Bronze, Stahl, 450 x 240 x 240 cm, Installationsansicht Kornmarktplatz, Bregenz © ProLitteris. Foto: Markus Tretter

Thomas Schütte · Aluminiumfrau Nr. 12, 2007, Aluminium, Chamäleon-Lack, Stahl, 130 x 125 x 251 cm; Fake Flags, 2018 (Wand), glasierte Keramik, 215 x 100 x 5 cm, Ausstellungsansicht Kunsthaus Bregenz © ProLitteris. Foto: Markus Tretter

Thomas Schütte · Aluminiumfrau Nr. 12, 2007, Aluminium, Chamäleon-Lack, Stahl, 130 x 125 x 251 cm; Fake Flags, 2018 (Wand), glasierte Keramik, 215 x 100 x 5 cm, Ausstellungsansicht Kunsthaus Bregenz © ProLitteris. Foto: Markus Tretter

Besprechung

Kunst ohne Beipackzettel sei das, sagt Thomas Schütte, ­eigentlich einfach. Wer zu diesem Faszinosum schreibt, hat also nachzudenken, wie die Figuren und Architekturen in neuen Konstellationen je anders zu verstehen sind. Zum Beispiel die Gesichter des ‹Blues Men› mit den ‹Männern› in Watt und Wind.

Thomas Schütte — Frau, Mann, Haus, Flagge und Blues

Bregenz — Der Bau von Peter Zumthor mit seinen fensterlosen Sälen in Sichtbeton und dem seeblauen Tageslicht aus den Zwischenetagen spielt auch diesmal schön mit. Jedes der vier Geschosse zeigt eine eigene Themenwelt, in deren Abfolge die plastischen Akzente bei den langen Treppen ebenso wichtig sind. Den Abschluss im obersten Geschoss bilden Männerfiguren, mit denen uns Thomas Schütte (*1954) seit vielen Jahren, neben seinen komplexen Frauengestalten, begleitet: der ‹Mann im Matsch›, der ‹Mann im Wind›. Diese juvenilen Protagonisten im Gestus der Avantgarden mit und ohne Banner kommen nicht voran, bleiben stecken in wadentiefem Schlick oder kämpfen zwischen Windwänden um ihren aufrechten Gang. Kleinere Modelle und monumentale Bronzefiguren dieser Nordseemänner mit ihrem sanften Gesicht wirken wie stillgestellt, noch ungebrochen in ihrer prekären Dynamik. Nach Schüttes dreiaktiger Ausstellung in der Monnaie de Paris diesen Frühling tritt nun eine neue Männerfigur hinzu: der Mann ohne Gesicht. Wie schon bei einigen Frauengestalten findet sich vorne am Kopf eine ovale blanke Fläche, eine Leer­stelle, die in der detailliert ausgeführten Gestalt einen Spannungsbogen schafft. Erst wer von der Rück­seite schaut, erkennt, dass der Junge sein Gesicht wie ein Buch in der Hand trägt, als hätte er sich selbst eine Maske abgezogen. Er erinnert an Victor Hugos ­Gav­roche, einen Gassenjungen, wie ihn schon Delacroix 1830 in seiner ‹Liberté guidant le peuple› auf den Barrikaden von Paris zeigt. Auch Schüttes neuste Figur tritt in einer grösseren Version aus Bronze aus dem Museum heraus auf den Marktplatz und gibt der öffentlichen Skulptur ein offenes neues Gesicht, ohne die Maske historischer Autorität. Im Kunsthaus sehen sich die Männer im Raum umringt von kleinen Aquarellen: Porträts der ‹Blues Men›, deren glänzende und gefurchte Züge in schwarzen Gesichtern sich mit wenigen raschen, sehr verschieden rhythmisierten weissen Strichen wie Glanzlichter aus dem Dunkel oder dem Blau des Bildgrundes lösen und mit hoher Prägnanz weit hinaus in den Raum klingen. Wie es eine orale Tradition gibt, wäre bei Thomas Schütte von einer visuellen Tradition zu sprechen. Schütte hat nie an der digitalen Euphorie seiner Generation teilgenommen. Und doch hat er deren Kernfrage gestellt: Ob es im pausenlosen Datenfluss noch Bedeutung gibt und ob sich dabei auch alte Geschichten anders wieder erzählen lassen. Die ‹Blues Men›, hochgezogen auf Plakate an der Schnellstrasse, wissen mehr darüber.

Bis 
06.10.2019
Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Thomas Schütte 13.07.201906.10.2019 Ausstellung Bregenz
Österreich
AT
Autor/innen
Hans Rudolf Reust
Künstler/innen
Thomas Schütte

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