Sandra Boeschenstein im Museum zu Allerheiligen

Sandra Boeschenstein · Das Mögliche ist die Geschwindigkeit des Wirklichen (Zyklus), 2002, Tusche

Sandra Boeschenstein · Das Mögliche ist die Geschwindigkeit des Wirklichen (Zyklus), 2002, Tusche

Besprechung

Die konzeptuell arbeitende Künstlerin Sandra Böschenstein begegnet unserem alltäglichen Chaos mit dem Bewusstsein einer philosophierenden Wissenschaftlerin. Ganz alltägliche Ereignisse dienen ihr als «Forschungsgegenstände», deren Aspekte sie mal auf rationale, systematische, mal auf surreale Weise miteinander verknüpft. Dass wir ständig zwischen unzähligen Beliebigkeiten wählen können, ist schon eine Plattitüde. Diese unendliche Menge von Möglichkeiten einer quasi wissenschaftlichen Methodik zu unterwerfen hingegen eine Kunst. Die Ausstellung mit dem Titel «Das Mögliche ist die Geschwindigkeit des Wirklichen» führt gewissermassen die Resultate dieser Forschung vor.

Sandra Boeschenstein im Museum zu Allerheiligen

Gebeugt über ein mehr als 14 Meter langes Lesepult, worauf beschriebene und filigran gezeichnete Blätter nebeneinander aufgereiht sind, fühlt man sich an die Schulzeit zurückerinnert. In der Tat wirken die mit kalligrafischer Schrift kommentierten Tuschezeichnungen sehr anschaulich und sind in ihrem didaktischen Aufbau Lehrbüchern vergleichbar. Sandra Böschenstein wirft philosophische Fragen auf, wie «Eingespielte Tatsachen, was spricht für sie?», «Wie gross ist ein Ereignis, ab wann sind es mehrere?», «Sind unbemerkte Beinaheereignisse gültig?», und versucht sie in sehr realistischen Zeichnungen zu thematischen Zyklen zu beantworten. Dabei bedient sie sich bewährter wissenschaftlicher Methodik und erfasst die Welt der Erscheinungen nach Kategorien wie «alle einmal gewachsenen Hörner» oder «alle einmal produzierten Pole». Mit sicherem, virtuosem Strich schafft sie Lebensräume, die uns vertraut sind und unverhofft in virtuelle Laborsituationen kippen können. Auch sonst mutet vieles skurril und surreal an trotz der differenziert auffacettierten Ordnungsbegriffe. So sieht man unter der Rubrik «es gibt Mögliches und Wirkliches» eine Schlange ein Wägelchen mit einer Trompete ziehen oder unter «Möglichkeiten mit einer Person» eine Person auf einer Weltkugel sitzen und einen Kuchen verzehren. Mit Akribie entwirft Böschenstein Modelle, die mit Freude am Spielerischen und einer Prise Humor konstruiert sind und unser kategoriales, monokausales Denken in Fragen stellen. Einer semipermeablen Membran gleich wird unser Wirklichkeitsverständnis von einer Fülle von Möglichkeiten in Bewegung gebracht.

Sandra Boeschenstein (*1967 in Zürich) besuchte nach zwei Semestern Philosophie und Kunstgeschichte die Schule für Gestaltung in Bern. Seit 1994 nahm sie an Gruppenaustellungen teil und erhielt Stipendien vom Kanton Zürich und von der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Schon in der beachteten Uraufführung (im Februar 2002) des Videomusikprojektes «Hunderte verschieben das Vollbad» im Haus Konstruktiv, Zürich, setzte sie sich zusammen mit der Komponistin Annette Schmucki mit Wahrnehmungserfahrungen und Realitätsebenen auseinander. Die künstlerische Strategie von Sandra Böschenstein erinnert an den konstruktiven Kunstverstand des Solothurner Künstlers Franz Eggenschwiler (1930–2000), insofern als auch er die Dinge ordnete und sie in einen neuen Zusammenhang brachte, sie in eine starke Form band und zu Gestaltzeichen machte. Im Gegensatz zu Eggenschwilers animistisch belebten Motiven illustrieren die Zeichnungen von Sandra Böschenstein komplexe Inhalte. So wird in «Etwas ist, was kann geschehen?» anhand eines Kubus, dessen zeichnerische Form jedoch nicht für alle Varianten stimmig ist, eine Anzahl von Möglichkeiten durchgespielt. Dies lässt auf Lücken im ansonsten so durchdachten visuellen, codierten System schliessen. Künstlerbuch SFr. 32.–.

Bis 
08.11.2003

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