Francis Upritchard

Francis Upritchard · A Loose Hold, 2022, Pasquart, Courtesy Kate MacGarry. Foto: Angus Mill

Francis Upritchard · A Loose Hold, 2022, Pasquart, Courtesy Kate MacGarry. Foto: Angus Mill

Hinweis

Francis Upritchard

Biel — Der erste Raum im Centre Pasquart ist bis auf eine einzelne Vitrine komplett leer. Mein Blick schweift nur kurz über die kleinen Figuren, die darin wie in einem zu breit geratenen Setzkasten platziert wurden. Sind das kleine Zentauren? Sie glänzen golden. Später werde ich erfahren, dass die gebürtige Neuseeländerin Francis Upritchard (*1976, lebt in London) vor allem mit Materialien wie Gummi, Bronze, Stein und Glas arbeitet. Vier Figuren auf geschliffenen Holzsockeln erwarten mich im nächsten Raum. Lange Gewänder aus bunt gemusterten Stoffen umhüllen ihre androgynen, aus Polymerton modellierten, teils geschmückten Körper. Die Kleidung wirkt traditionell, ohne dass ich sie einer spezifischen Kultur zuordnen könnte. Ihre bemalten Gesichter, Arme und Füs­­se zieren eine Bandbreite von Farben und geometrischen Mustern. Ihre Augen sind entweder geschlossen oder blicken durch mich ins Leere. Trotzdem scheinen sie präsent, so als könnten sie jeden Moment von ihren Sockeln springen. Ich frage mich, ob ‹A Loose Hold›, der Titel der Schau, diese Qualität der Figuren beschreibt.
Die über hundert ausgestellten Werke wurden fast alle eigens für die erste Solopräsentation von Upritchard in der Schweiz angefertigt. Die skulpturale Rauminstallation wurde vom Roman ‹Piranesi›, 2020, der britischen Autorin Susanne Clarke inspiriert. Die Erzählung spielt in einem Haus mit einer Vielzahl von Gängen und Atrien, bei dessen Betreten einem schrittweise die Erinnerung verloren geht. Ohne das Buch gelesen zu haben, glaube ich, ein Gefühl für diesen fiktiven Ort zu erhalten, während ich mich durch die installativen Welten von Upritchard bewege.
Glitzernde Tränen, eingefroren in Kristallperlen, schmücken die Gesichter in den Werken im nächsten Raum. Der Titel ‹Polyphemus Carpet› verweist auf die griechische Mythologie, via Google finde ich das Bild eines einäugigen Zyklopen. Bei Upritchard besitzt er aber anstelle von einem einzigen Auge gleich mehrere. Links vom vieläugigen Riesen steht wieder eine Art Vitrine. Die Auslage dahinter erinnert an ein Warenhaus. ‹Orange Creepers Gloves›, ‹Mouse Mole Gloves›, ‹Rich Relative Gloves› usw. Die Titel verkaufen sich gut. Die Handschuhe tragen Ringe mit winzigen Gesichtern darauf. Sie schauen unzufrieden drein, als wollten sie sagen: Mehr schöne Handschuhe machen dich auch nicht glücklicher – it will give you nothing more than ‹A Loose Hold›. Beim Blick auf die langhalsigen Vasen auf der anderen Seite der Vitrine kommt mir ein kitschiger Gedanke: Sollen sie die Kristall-Tränen fassen?
Oben in der Salle Poma sticht mir schliesslich ein eigenartiger Geruch in die Nase. Er erinnert ans Meer. Ein monumentaler Skulpturengarten öffnet sich vor mir. Die Farbe und Beschaffenheit der Skulpturen wecken Assoziationen an Stein. Bei näherer Betrachtung wirkt ihre Oberfläche aber zusammengekleistert oder mumifiziert. Tatsächlich wurden sie aus Balata, einem wilden Gummi, handgefertigt. ‹A Loose Hold›, wie sich nun herausstellt, leitet sich von der Arbeit mit dem Material ab. Denn es braucht eine gewisse Geschwindigkeit und Lockerheit, damit der Gummi verarbeitet werden kann. Dinosaurier, Meerjungfrauen, Zentauren und andere Wesen posieren keck, gequält oder angriffslustig auf Felsbrocken und Boden. Die Atmosphäre ist kühl, weder gruselig noch fröhlich. Die Figuren bewegen sich zwischen monströs und lieblich. Das Gefühl, mich durch einen Science-Fiction- oder Fantasy-Roman zu bewegen, der weder einen Anfang hat noch ein Ende nimmt, verfestigt sich. It’s still just ‹A Loose Hold›. 

Anna Lena Eggenberg, CAS, Schreiben in Kunst und Kultur, ZHdK, 2022

Bis 
20.11.2022
Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Francis Upritchard – A Loose Hold 18.09.202220.11.2022 Ausstellung Biel/Bienne
Schweiz
CH
Autor/innen
Anna Lena Eggenberg
Künstler/innen
Francis Upritchard

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