Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?

Wolfgang Mattheuer . Hinter den sieben Bergen, 1973, Oel auf Hartfaser. Sammlung: Museum der

Wolfgang Mattheuer . Hinter den sieben Bergen, 1973, Oel auf Hartfaser. Sammlung: Museum der

Besprechung

Unter einem provokanten Titel zeigt Johann Holten, Leiter der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, eine exemplarische Auswahl von Kunstwerken und -ereignissen, an denen innerhalb der letzten sechzig Jahre in Deutschland und anderswo öffentliche Diskussionen entbrannten.

Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?

Die Ausstellung will unterschiedliche Aspekte der Wirksamkeit von Kunst auf Gesellschaft aufzeigen. Da Wandtexte fehlen, wirkt das bisweilen etwas sprunghaft, doch die einzelnen Themen und Werke überzeugen. Und die vielfachen Aufschreie sind anhand von Pressetexten, die man mitnehmen kann, nachlesbar.
Eingangs weist Alfredo Jaar in leuchtenden Lettern auf Praktiken des Bilderentzugs durch den Erwerb von Exklusivrechten für Satellitenbilder oder den Verschluss von historischen Fotografien hin. Dieser schriftlich aufgezeigten Zugriffsmacht folgt im angrenzenden Raum die physische Blendung durch gleissend helles Licht. Derart sensibilisiert trifft man auf dicht gehängte, staatskritische Werke wie den kopfüber stürzenden Adler von Georg Baselitz, eine Fortuna hinter den sieben Bergen des DDR-Künstlers Wolfgang Mattheuer oder Werke der mauerübergreifenden Künstlerfreunde Immendorff-Penck, die den ideologischen Streit zwischen westlicher Abstraktion und sozialistischem Realismus vor der Wende reflektierten. Wie die nationalsozialistische Diktatur durch propagandistische Kunstpolitik Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen versuchte, schildert der sehr lesenswerte Katalog.
Die Ausstellung zeigt hingegen René Blocks Versuch einer symbolischen Versöhnung durch die Schenkung von Kunstwerken an die NS-Gedenkstätte des tschechischen Dorfes Lidice. Auch Gerhard Richters berühmtes Gemälde seines Onkels Rudi in Wehrmachtsuniform gehört dazu. Die wenigen Überlebenden des Massakers hassen das Gemälde. Daran wird deutlich, dass Kunstwerke mehr als bloss gestaltetes Material sind. Es folgen die selbstermächtigte Aufstellung einer vierfach vergrösserten Figur von Käthe Kollwitz in der neuen Wache durch Helmut Kohl (1993) oder Christoph Schlingensiefs Aktion ‹Ausländer raus›, 2002. Schriftverkehr, Parlamentsdebatten, Interviews und Pressestimmen demonstrieren, welche Diskussionen Kunst auslösen kann, welche Für- und Gegenargumente aufgefahren werden und wie eng Kunst und Demokratie zusammenhängen. Im Falle von Jeremy Dellers Reenactment der gewalttätigen Auseinandersetzungen von englischen Bergarbeiten und Polizei kann Kunst sogar Traumata aufarbeiten. Hoffnungsvoll stimmt auch, dass es Francis Alys gelang, in Lima Berge zu versetzen, wenn auch nur um 10 Zentimeter.

Bis 
16.02.2013

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