Editorial
Editorial
Um dem Werk auf unserer Titelseite gerecht zu werden, müsste diese Ausgabe auf Glas gedruckt sein. Oder mindestens auf durchscheinendes Papier. Denn die Zahlen sind einmal vorne, einmal hinten auf eine Scheibe geklebt, auf ein Fenster, das offen oder geschlossen sein kann. Gestochen scharf zeichnen sich die Klebeziffern vom diffusen Hintergrund ab. Um was geht es hier? Um die Zahlen oder um die sphärische Weite dahinter? Verstärken sie den illusionistischen Tiefensog oder brechen sie ihn?
Fenster als Bildmotive ziehen sich durch die ganze Kunstgeschichte. Sie eröffnen Ausblicke aus engen Räumen, lassen zweidimensionale Bildflächen perspektivisch erscheinen und führen in vermeintliche Tiefen. Noch weit raffinierter präsentiert sich die Illusion in unserem heutigen Alltag auf Laptops, PCs und mobilen Geräten. Durch diese Fenster nehmen wir am Geschehen im World Wide Web teil, doch konkret treffen wir hier auf manipulierte Bilder und Texte, die irgendwo jemand für uns so zubereitet hat, dass wir sie auf unseren Geräten abrufen können. Dazwischen liegen unzählige rechnerische Vorgänge, die das konkrete Ereignis abstrahieren, in elektrische Impulse und schlussendlich wieder zurück in eine entzifferbare Sprache übersetzen.
Angesichts dieser Übertragungsvorgänge wirken die Zahlen der Künstlerin und Philosophin Delphine Chapuis Schmitz sehr konkret. Sie sind Teil einer Ausstellung zum Thema Raum. In der Broschüre zur Schau in leeren Räumen war unter einer der Nummern zu lesen: «My interest in art has never been about abstraction - it has always been about experience [...] my pieces were meant to be considered experientially.» Zahlen sind ein wichtiges Mittel der Abstraktion, doch hier stehen sie fürs Gegenteil. Sie sollen uns zu konkreten Raumerlebnissen verleiten, dazu, das Fenster aufzu-stossen und die Ziffern so und anders zu lesen.
Claudia Jolles |