Julian Charrière — Ein neues Bewusstsein für die Umwelt materialisieren
Anhaltspunkte aus der Vergangenheit, aus dem Jetzt sowie Imaginationen der Zukunft ergeben keine linear verlaufenden, sondern eher sprunghaft verknüpfte Geschichten. Darin sind der Mensch, die Natur und das Digitale eng verwobene und interagierende Entitäten. Utopie und Dystopie liegen so nahe beisammen, dass sie bisweilen verschwimmen. Diese fliessende Grenze umspielt Julian Charrière seit Jahren mit seinen Werken. Doch wenn – wie er zeigt – der Mensch einer der prägendsten Faktoren für biologische, geologische und atmosphärische Prozesse ist, welche Rolle kommt ihm selbst angesichts der aktuellen Klimakrise dann als Künstler zu?
Julian Charrière — Ein neues Bewusstsein für die Umwelt materialisieren
In ‹Ever Since We Crawled Out›, 2018, kippt knarzend und krächzend ein Baum nach dem anderen zu Boden. Durch die rigorose Repetition, jeweils gefolgt von einem Moment der Stille oder im Wind raschelnder Blätter der noch nicht gefällten Nachbarn, beschleicht uns ein bedrängendes Gefühl. Es wird sich noch verstärken in der gleichnamigen Ausstellung von Julian Charrière in der Galerie Tschudi. Der Titel bezieht sich auf die Evolutionstheorie, «von der liegenden Position haben wir uns aufgearbeitet in die Vertikale, in der wir nun meinen, die Welt zu beherrschen», erklärt Charrière einige Wochen später per Mobiltelefon aus Berlin, gerade zurück aus Island für sein neues Projekt ‹Towards No Earthly Pole›. Bereits in den vorherigen Räumen zu hören, stossen wir ein paar Schritte weiter auf eine ohrenbetäubend ratternde Schleifmaschine. Ihr Band ist mit Mineralien besetzt, die er bei einem Aufstieg auf einen Vulkan in verschiedenen Etappen gesammelt hat. Diese scheinen sich durch die Umdrehungen wieder zu verflüssigen, indem die verschiedenfarbigen Mineralien visuell ineinander verschwimmen, und füllen die Räumlichkeiten mit einem staubigen Geruch. Nebst Arbeiten aus verkohltem Tropenholz hängen in Rot- und Gelbtönen gehaltene Fotografien mit Palmen an der Wand, die dadurch zunächst an einen Waldbrand erinnern. Oder handelt es sich um einen intensiven Sonnenuntergang? Für beide Varianten stellt sich die Farbgebung als zu unnatürlich heraus. Spätestens im Dachstock entpuppt eine schwebende Kamerafahrt durch dieselbe Szenerie die Aufnahmen als eine gewaltige, vom Künstler mithilfe eines rund zwanzigköpfigen Teams inszenierte Party mit erschütternden Elektrobeats: ‹An Invitation to Disappear›, 2018, führt durch die endlos erscheinende Allee einer Palmölplantage schliesslich zu diesem Rave zwischen Palmen. Der immer lauter werdende Bass vermischt sich mit Gezwitscher und Gezirpe. Stroboskoplicht lässt die überladenen und von künstlichem Nebel umhüllten Pflanzen der Monokultur aufblitzen. Im vergangenen Herbst wurde die Videoinstallation in noch grösserer Dimension bezeichnenderweise im Berliner Berghain präsentiert, einem Technoclub, in dem dank den beim Eingang strikt zugeklebten Handykameras sämtlicher Clubgänger das ständige digitale Vernetzen und Teilen unterbunden wird, um so ein kollektives Bewusstsein zu animieren. Auch im Dachstock der Galerie wirkt die menschenleere Party höchst immersiv, verführerisch und zugleich bedrohlich. Denn auch ohne jegliches Hintergrundwissen wird sekundenschnell klar, dass mit dieser Welt so einiges nicht stimmt.
Feiernd verschwinden, kontemplativ vernichten
Diese «Einladung zum Verschwinden» ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit der Philosophin Dehlia Hannah. Anlässlich des Zweihundertjahrjubiläums des Ausbruchs des indonesischen Vulkans Tambora (dessen Name übersetzt dem Titel der Installation entspricht) begaben sich Charrière und Hannah auf eine Expedition, deren Route unausweichlich durch die immensen Palmölplantagen führte. Zu den dramatischen Folgen der Eruption im Jahr 1815 zählen der durch sonnenblockierende Partikel in der Atmosphäre global gesunkene Temperaturmittelwert und das «Jahr ohne Sommer» 1816 in der nördlichen Hemisphäre. Ebenfalls darauf zurückgeführt werden von Meteorologen die rötlich gefärbten Himmel in den Gemälden von William Turner oder Caspar David Friedrich. Nicht von ungefähr wurden Charrières Bilder der zeitgenössischen Landschaft mit Letzterem schon vielfach verglichen, zum Beispiel wenn der Künstler als verhältnismässig kleine einsame Figur auf einem schrumpfenden Eisberg steht, den er acht Stunden lang mit einem Gasbrenner schmelzen lässt. Damit nimmt er gegenüber der Landschaft aber keine rein kontemplative, sondern eine konfrontative Position ein. Obwohl die romantische Dichotomie von Mensch und Natur heute eigentlich als überholt gelte, so Charrière, präge sie immer noch wesentlich unser Denken. Seine Kunst soll dazu anregen, dieses Verhältnis zu reflektieren und eine symbiotische Beziehung von Mensch und Natur neu zu definieren.
Tauben als «freigesetzte iPhones»
Die Rohstoffe für seine Kunstwerke gewinnt er rund um den Globus. Des Öfteren stammen sie aus dem Untergrund der Erdoberfläche, aus dem Meer oder von nicht mehr bewohnbaren Orten. Die vorgefundenen biologischen und geologischen Konstellationen und Artefakte betrachtet er dabei als zeitenvereinende «Informationsspeicher». In der aktuellen Ausstellung ist das zentrale Material ausnahmsweise physisch kaum präsent und nicht ohne Weiteres erkennbar. Das Palmöl blubbert in einer übergrossen Lavalampe mit dem Titel ‹Love-In›, 2018. Genauso subtil begegnet es uns alltäglich als Bestandteil industriell verarbeiteter Lebensmittel. Demgegenüber stellten ältere Installationen aus Lithiumblöcken das unter anderem in Handys versteckte Element zur Schau. Die Vorfahren der Smartphones seien die Tauben gewesen, die «zunächst domestiziert und als Kommunikationsmittel ausgenutzt» nun als «nicht mehr gebrauchte, freigesetzte iPhones» das Stadtbild prägten. Zusammen mit Julius von Bismarck setzte er sich zum Ziel, eine neue Beziehung zwischen Mensch und den grauen «Mutanten» zu schaffen, indem sie die Lebewesen unterschiedlich einfärbten. Dadurch waren diese vorübergehend als Paradiesvögel besser sichtbar und vor allem als Individuen wiedererkennbar. Kontroverse Reaktionen waren zu erwarten, doch «der Eingriff war die Diskussion wert».
Von domestiziertem Leben (oder lebendigen Objekten) handelt auch ‹Somehow They Never Stop Doing What They Always Did›, 2013–2016. Die Quaderformen evozieren minimalistische Installationen en miniature. Ihre Lebendigkeit und ihr Zerfall durch Schimmel und Bakterienkulturen erinnern an Land Art, die so entstehenden utopischen Ruinen an konzeptuelle Architektur.
Künstlersein in der Klimakrise
Die durch den Ausbruch des Vulkans hervorgerufene Kältekrise des 19. Jahrhunderts veranlasste Hannah hinsichtlich der jetzigen, gewissermassen umgekehrten Situation, in der es um verheerende Grade zu viel geht, zu folgendem Gedankenexperiment: Welche Art von Kunst und Literatur entsteht in einer Zeit, die als «Jahr ohne Winter» in Erinnerung bleiben könnte? Auf die daraus abgeleitete Frage nach der Rolle des Künstlers in der Klimakrise antwortet Charrière ohne Zögern: «Wir Kulturschaffenden tragen diesbezüglich eine riesige Verantwortung. Wir vermitteln Bilder dieser Welt und sind dabei freier als die Wissenschaften. Gegenüber deren Präzision und Spezialisierung kann der Künstler das Ganze darstellen, mit Mitteln, die hoffentlich die emotionale Verbindung zur Umwelt wiederherstellen können.»
In der Tat ist das Wissen über die Klimakrise längst vorhanden, aber offensichtlich zu wenig beunruhigend und ergreifend für eine breitere Öffentlichkeit, als dass politische Massnahmen ergriffen würden. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen argumentiert, die Klimakrise sei zu langweilig, um es in die Medien zu schaffen. Ist es letztendlich die Kunst, deren Protagonisten selber oft um die Welt jetten – ein unabhängig davon zu lösender Widerspruch –, der es gelingen könnte, dass wir von Umweltproblemen nicht nur wissen, sondern sie auch wahrnehmen wollen und endlich entsprechend handeln?
Irène Unholz (*1994), freie Autorin fürs Kunstbulletin, studiert Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Fribourg. irene.unholz@unifr.ch
Julian Charrière (*1987, Morges) lebt und arbeitet in Berlin
2007–2013 Studium am Institut für Raumexperimente bei Olafur Eliasson
und an der Universität der Künste Berlin (UdK) bei Christiane Möbus
2006/07 Studium an der ECAV, École cantonale d’art du Valais bei Valentin Carron
Einzelausstellungen (Auswahl)
2018/19 ‹As We Used To Float›, GASAG Kunstpreis 2018, Berlinische Galerie
2018/19 ‹I’m Afraid I Must Ask You To Leave› (mit Julius von Bismarck), Kunstpalais Erlangen
2018 ‹An Invitation to Disappear›, Kunsthalle Mainz und Dam de Mauvoisin/Musée de Bagnes
2016 ‹Objects in Mirror Might Be Closer than They Appear› (mit Julius von Bismarck), Villa Bernasconi, Lancy
2016 ‹For They That Sow the Wind›, Parasol Unit, London
2014/15 ‹Future Fossil Spaces›, Prix culturel Manor Vaud 2014, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne
2014 ‹We Are All Astronauts›, Centre Culturel Suisse, Paris
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2019 ‹La Fabrique du Vivant›, Centre Pompidou, Paris
2018/19 ‹Wildnis›, Schirn Kunsthalle Frankfurt
2017 ‹Viva Arte Viva›, 57. Biennale Venedig
2017 ‹The 1st Antarctic Biennale›, Antarktis
Institutionen | Land | Ort |
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Centre Pompidou | Frankreich | Paris |
Galerie Tschudi | Schweiz | Zuoz |
Kunstpalais | Deutschland | Erlangen |
MASI Lugano | Schweiz | Lugano |
Naturhistorisches Museum Bern | Schweiz | Bern |
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Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ | Ort | Land | |
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La Fabrique du Vivant | 20.02.2019 – 15.04.2019 | Ausstellung | Paris |
Frankreich FR |
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JULIAN CHARRIÈRE - Ever Since We Crawled Out | 22.12.2018 – 23.03.2019 | Ausstellung | Zuoz |
Schweiz CH |
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Julius von Bismarck, Julian Charrière | 02.12.2018 – 24.02.2019 | Ausstellung | Erlangen |
Deutschland DE |
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Julian Charrière | 27.10.2018 – 14.03.2019 | Ausstellung | Lugano |
Schweiz CH |
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Weltuntergang — Ende ohne Ende | 11.11.2017 – 30.11.2022 | Ausstellung | Bern |
Schweiz CH |
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Julian Charrière |
Irène Unholz |