Kunsthochschulen — Weiter Horizont für Kreativität an der HGK FHNW in Basel

Jacob Ott · Beitrag für ‹Friday Beyeler›, Fondation Beyeler, Riehen / Basel, 2022. Foto: Niels Franke

Jacob Ott · Beitrag für ‹Friday Beyeler›, Fondation Beyeler, Riehen / Basel, 2022. Foto: Niels Franke

Ana Jikia · Vorbereitungen für die Diplomausstellung, ­Ateliers, Institut Kunst Gender Natur HGK FHNW, 2022. Foto: Chr. K.

Ana Jikia · Vorbereitungen für die Diplomausstellung, ­Ateliers, Institut Kunst Gender Natur HGK FHNW, 2022. Foto: Chr. K.

Campus HGK FHNW, Dreispitz, Basel. Foto: Weisswert / C. Morin & I. Indermaur

Campus HGK FHNW, Dreispitz, Basel. Foto: Weisswert / C. Morin & I. Indermaur

Kurt Küng · Giessen einer Aluminiumskulptur, Werkstatt, HGK FHNW, 2023. Foto: privat

Kurt Küng · Giessen einer Aluminiumskulptur, Werkstatt, HGK FHNW, 2023. Foto: privat

Sergio Rojas Chaves · Green Thumb Syndrome, Der Tank, HGK FHNW, 2022. Foto: Christian Knörr

Sergio Rojas Chaves · Green Thumb Syndrome, Der Tank, HGK FHNW, 2022. Foto: Christian Knörr

Li Tavor, Nicolas Buzzi · Beitrag zum MA-Symposium ‹Ages of Receivership – On Generous Listening›, IAGN, 2022. Foto: Chr. K.

Li Tavor, Nicolas Buzzi · Beitrag zum MA-Symposium ‹Ages of Receivership – On Generous Listening›, IAGN, 2022. Foto: Chr. K.

Fokus

Am Dreispitz in Basel, inmitten kulturell umgenutzter Industriegebäude, erhebt sich der 47 Meter hohe würfelartige Bau der Hochschule für Gestaltung und Kunst. Zu dessen Füssen locken gut ausgerüstete Werkstätten, im 8. Stockwerk die Bibliothek. ­Ar­beitsfreundliche Umgebung, toller Blick, so studiert sich’s hier: weitblickend, luftig, praxisnah.

Kunsthochschulen — Weiter Horizont für Kreativität an der HGK FHNW in Basel

Aus der Tram sehe ich Nebelschwaden über dem Tal, rechts am ehemaligen Freilager-Gelände eine imposante Porsche-Niederlassung. Karriere-Antrieb? Während ich das denke, taucht der 2014 eröffnete Bau der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW auf, schillernd im jetzt heller werdenden Licht. Eindrücklich, aber nicht erdrückend ist diese Architektur. Wenig los auf dem Campus, der rund tausend Studierende beherbergt, alles sehr «cool». Ja, es ist kalt an diesem Dezembervormittag, die von Student:innen entworfenen Begegnungsmöbel draussen sind verlassen. Drinnen, im offenen hohen Eingangsbereich, wird an Semesterabschluss-Präsentationen gewerkelt. Lounge-Atmosphäre mit Sesseln, hinten um die Ecke die Cafeteria: lange weisse Tische, Blick auf Grünes, freundlicher Service. Bestes Ambiente, fast ein bisschen zu komfortabel. Hier treffe ich Dozent:innen, Studierende, Gäste und viel positive Energie für die Kunst von morgen.

Gender, Natur, Gemeinwohl
«Die HGK ist wärmer, ‹funkyer›, ein bisschen ‹stranger› als grosse Akademien wie ZHdK oder HEAD», sagt Filipa Ramos. Die Portugiesin mit einem PhD in Philosophie der Londoner Kingston University, international aktiv als Kuratorin, Referentin, Autorin, will Kunst über die anthropomorphen Grenzen des Naturbegriffs verschieben. Sie spricht energisch und schnell, aber elegant, mit weicher Stimme und präzisen Formulierungen. Geholt habe sie ihre Freundin Chus Martínez, die seit 2014 Leiterin des Institut Kunst an der HGK ist, «weil wir eine Vision teilen: Kunst, Natur, Gender als Leitthemen einer holistischen Sicht aufs Künftige».
Unter dem Eindruck der Pandemie wurde das Institut Kunst zum Institute Art Gender Nature erweitert und 2022 Carolyn Christov-Bakargiev als Gastprofessorin geholt. Indem das IAGN «Gender» und «Natur» nicht mehr als Gegenstand der Lehre, sondern als über den Humanismus hinausgehende Struktur begreift, bietet es Orientierung für den Studiengang Fine Arts in Basel. Idealerweise führt das zu einem Gestaltungsmilieu, das für das Gemeinwohl aller eingerichtet wird. Das hehre Ziel schafft vor allem eine Poleposition im aktuellen Kunstdiskurs. Das ist dann auch der Eindruck nach einem ersten Rundgang: Wer hier studiert, ist gut positioniert im Kunstbetrieb – und zwar nicht trotz, sondern weil die Schule in Basel eher am Rande des internationalen Zirkus liegt.

«Es geht darum, eine neue Seinsart zu praktizieren, zu lernen, unsere Welt zu lie­ben, damit wir sie gemeinsam reparieren können. Eine mögliche Methode: ‹deep hanging out› – einfach viel mit Freund:innen aktiv zusammensein und -arbeiten.» Claire Pentecost, Künstlerin, in einem Gespräch am Forschungstag der HGK, 2.12.2022

Als Dozentin leitet Filipa Ramos das Veranstaltungsprogramm ‹Nature in Co-evolution›, seit 2020 auch den Masterstudiengang des Instituts mit rund dreis­sig Studierenden. «Ich kann viele Gäste einladen, wir haben die Mittel. Das ist angenehm, wie auch die Netzwerke, die Kooperationen.» So gepolstert könne man leichter mit vorgefertigten Ideen brechen. Ihr Werkzeug: Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen, Einbindung in reales aktuelles Geschehen. Das IAGN will ganz vorne mit dabei sein unter den Gestalter:innen der Zukunft. Der Lehralltag ist nüchterner. Auch hier leide man unter Abwesenheit der Studierenden, steckt mir eine Dozentin am Kaffeeautomaten. Zudem fehlen Grundfertigkeiten für die Reise in die Zukunft: «Wir bieten jetzt erstmals Leseseminare an, denn wie überall haben auch wir es mit jungen Menschen zu tun, denen es an Konzentrationsfähigkeit und Lesekompetenz mangelt», erläutert Filipa Ramos. Zum Master, wie überall in der Schweiz in englischer Sprache gelehrt, würden vor allem Studierende von aussen zugelassen, 40 Prozent aus der Schweiz, 60 Prozent international: «Wir nehmen maximal zwei bis drei interne Bachelor-Studierende auf.» Und sie fügt an: «Derzeit haben wir fünf aus der Ukraine. Es sollten mehr russische Studierende kommen, auch sie brauchen Unterstützung.» Damit ist nicht nur Materielles gemeint, sondern vor allem auch die Einbindung in die Studien-Community.

Solidarische Singularität im Betrieb
Vorteil der kleinen Schule sind Nähe, die persönliche Beziehung. Im lichten Ausstellungsraum Tank zeigt bis Anfang März Renée Levi, Dozentin an der HGK, mit der Ausstellung ‹Tina Tank› Möglichkeiten analytischer Malerei. Deren Stellenwert wird in den Gemeinschaftsateliers, wo Studierende in Gruppen die Arbeit ihrer Kommiliton:innen diskutieren, sichtbar. «Hier funktioniert viel über Solidarität und Eigenorganisation», sagt Hannah Weinberger. Die Künstlerin, Dozentin im Bachelor und Master, verantwortlich im Forum Kunst und fürs Act Performance Festival, zeigt mir das Treppenhaus: «Hier versammeln wir uns als Chor für Stimmexperimente.» Man spürt die Begeisterung fürs IAGN. Sie arbeite oft länger, gebe viel hinein, erhalte aber auch sehr viel positive Resonanz. «Wir merken, dass wir hier etwas Besonderes machen», sagt sie. Das Engagement springt über. Alma Herrmann, im 3. Semester des Bachelor: «Wir arbeiten mit sehr viel Autonomie, das ist nicht für alle leicht. Die grosse Freiheit wird durch Mentorate und die Begleitung durch sehr viele verschiedene Profis strukturiert.» Die ‹Art Talks›, die jede Woche angeboten werden, seien sehr wichtig, meint Franca Fay, ebenfalls im 3. Semester BA: «Auch die Workshops sind toll und die Vielfalt der Klassen – wir lernen sehr viel voneinander.» Zur Autonomie gehöre institutionelle Mitwirkung, betont Kilian Kistler, der nach einer Ausbildung als Grafiker ebenfalls im 3. Semester BA Kunst studiert: «Es gibt einen selbstorganisierten Studierendenrat, der die Fachschaften ergänzt.» Übereinstimmend loben alle drei, wie viel die Schule möglich mache: Ausstellungen im Kunsthaus Baselland, im Foyer der Fondation Beyeler. Und das Schaulager der Laurenz-Stiftung ist auch nah.

«Ich bin wie ein Trüffelschwein immer auf der Suche nach wichtigen, guten Leuten und Ideen. Dabei lerne ich enorm viel von den Studis, speziell im Rahmen von Symposien. Das Institut ist eine Riesenchance, die Kunst von morgen gemeinsam zu gestalten.» Chus Martínez, Institutsleiterin IAGN / Studiengangsleiterin BA Bildende Kunst, 2.12.2022

Neues finden unter Freunden
«Uns geht es darum, von Anfang an inmitten der Realität der Kunst zu sein», sagt Chus Martínez. Die unermüdlich wirkende Spanierin sieht die Schule «wie ein permanentes Ausstellungsprojekt, an dem alle mitarbeiten». Im von ihr 2019 herausgegebenen ‹Wild Book of Inventions› reflektiert sie einen (postromantischen) Naturbegriff, der dem Menschlichen als Aussen sowohl entgegentritt als auch dessen Handlungsmöglichkeiten konditioniert. Das liest sich bisweilen wie ein stramm neo-modernes Manifest: neue Sprache, neue Ansichten, neue Träume, neues Denken, «a new action». Kritische Stimmen sagen, bei Martínez wisse man nie, ob sie bereits aufs neoliberale Neumenschentum beschleunigt habe oder vielmehr dessen Abgründe kritisch sondiere. «Dazu habe ich wenig zu sagen», erwidert sie, «ich bringe Freund:innen mit, finde Freund:innen, arbeite mit den Menschen vor Ort, mit viel Grosszügigkeit. Dabei ist mir wichtig, dass man mit Freude und positiv zur Arbeit geht.»
Martínez redet schnell, genau, persönlich: Das ist keine, die etwas vormacht. Zur Frage nach den Ausbeutungsrisiken künstlerisch-freundschaftlicher Totalhingabe sagt sie: «Für Performances im Rahmen des Festivals Act erhalten Studierende CHF 300. Natürlich gehen wir auch übers Pensum hinaus, hängen uns rein, wenn es sein muss, aber ich sorge dafür, dass niemand zu kurz kommt. Und es gibt sehr viel Freiheit, keine Stechuhr.» Die Schule sei Experimentalraum, Safe Space, davon profitierten alle. Sie wolle den Anteil ausländischer Studierender heben: «Catch up with Asia! Wir sind aufmerksam für die Entwicklung der Welt, das ist unser Gestaltungsraum.»
Lange bevor der tolle Bau am Dreispitz stand, wurde die Zeichnungs- und Modellierschule 1796 in Basel gegründet. 210 Jahre später sind Gestaltung und Kunst unter dem Dach der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW mit insgesamt rund 13’500 Studierenden und 3200 Mitarbeitenden fusioniert. Menschen aus sechzig Nationen arbeiten hier, aber nur 8,8 Prozent der Studierenden kommen aus dem Ausland. Die praxisorientierte Fachhochschule ist eine der wichtigsten Ausbildungsstätten der Schweiz. Die Werkstätten bieten neben üppiger Ausstattung grosse Nähe. In einer schwitzt Ramiro Oller über einem Scagliola-Boden. Der aus Farbe, Leim und Gips verknetete Stuckmarmor ist seit dem Barock verbreitet. Oller raspelt per Hand die gehärtete Masse glatt. Die grosse Zugänglichkeit, täglich 9 bis 18 Uhr, zweimal in der Woche bis 22 Uhr, erlaube zeitintensive Realisationen, erklärt Kurt Küng, Werkstattleiter Metall. «Es gibt für alle Einführungskurse, danach arbeiten die Studierenden projektorientiert überwiegend autonom. Die praktische Arbeit schafft wertvolle Crossovers zwischen Mode, Design, Kunst, Innenarchitektur», erklärt er mit Verweis auf die Begleitung durch Mitstudierende höherer Semester.

Unmögliches möglich machen
Eine junge Frau steckt ihren Kopf herein: Ob sie mal eben hier arbeiten könne. Küng stellt vor: «Das ist Sofia Durrieu, die Argentinierin hat den Swiss Art Award erhalten», erläutert er nicht ohne Stolz. Man merkt, dass er gern hier arbeitet. Und dass er sich der Privilegien bewusst ist, die Studierende an dieser Schule geniessen. Ihm sei wichtig, sagt er, dass sich das auch den jungen Leuten vermittle. Die Studierenden würden auf die Kosten der Werkstätten hingewiesen, weil die Schule sehr viel bereitstelle – im «echten Leben» später sei das nicht mehr so. Ausserdem bemerke er, dass die digitalen Medien zu teils wirklichkeitsfernen Entwürfen führten: «Was auf dem Bildschirm schnell und einfach wirkt, braucht Zeit, um Materialien, deren Reaktionen und Widerstände zu verstehen. Wir erden unrealistische Ideen», sagt Küng und lacht, «aber mehr als einmal haben mich die Studis gelehrt, dass, was ich für unmöglich hielt, dann doch geht.»

J. Emil Sennewald, Kritiker, Journalist, Professor für Philosophie an Kunsthochschulen in Frankreich und in der Schweiz, lebt in Paris. emil@weiswald.com

→ Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel, Frühlingssemester 20.2.–17.9., Anmeldeschluss MA (Master of Arts FHNW in Fine Arts): 15.3., nächster Start MA-Studium: 18.9. ↗ www.fhnw.ch/hgk

Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel
1796 Gründung der Zeichnungs- und Modellierschule, später Allgemeine Gewerbeschule in Basel
1930 Kunstgewerbeschule, ab 1968 Weiterbildungklasse für Grafik
1980 Schule für Gestaltung Basel
2006 Integration als HGK der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW
2014 Bezug des neuen Gebäudes am Dreispitz
2020 Gründung des Institute Art Gender Nature IAGN

Zahlen und Fakten
Direktorin der HGK: Prof. Dr. Claudia Perren
Ca. 1000 Studierende und 200 Dozierende
Rund um die Uhr zugängliche Atelierräume und persönliche Arbeitsplätze für jede:n Studierende:n
Labs und Mediathek sowie spezialisierte Aufnahmestudios
Drei Studienzyklen sind möglich: BA, MA und PhD
‹CoCreate›: Lehrprogramm für Bachelor-Studierende, verknüpft Kunst mit anderen Studiengängen wie Innenarchitektur, Mode, Design oder Prozessgestaltung  
‹Make/Sense›: PhD-Programm mit Fokus auf praxisorientierte Forschung in Kunst und Design

 

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