Zwischen den Gräsern

Franz Gertsch, 1997Foto: Maria Gertsch

Franz Gertsch, 1997 Foto: Maria Gertsch

Gräser I, 1995/96Mineralpigmente in Damarharz und Bienenwachs gebunden, auf ungrundierte Baumwolle240 x 340 cm

Gräser I, 1995/96 Mineralpigmente in Damarharz und Bienenwachs gebunden, auf ungrundierte Baumwolle 240 x 340 cm

Fokus

In den drei jüngsten Leinwandbildern, welche die Wiederaufnahme der Malerei bei Franz Gertsch fortsetzen, bestimmt ein unscheinbares Motiv einen neuen, faszinierend widersprüchlichen Raum für die Malerei: Gräser. Die Werkgruppe wird zur Zeit im Rahmen von «Szenenwechsel XIII» des Museums für Moderne Kunst/Frankfurt gezeigt.

Zwischen den Gräsern

Drei neue Bilder von Franz Gertsch im Dialog

Eine lose Choreographie von Schotter und Flusssteinen in untiefen Wassern oder glitzernde Lichtpunkte über konzentrischen Wellen sind bekannte Landschaftsszenarien aus den Holzschnitten von Franz Gertsch. Verflüchtigt in einem monochromen Schimmer und aufgelöst in unzählige digitale Entscheidungen zwischen gekerbtem Punkt und Nicht-Punkt, bewegen sich diese Wasserlandschaften primär auf einer Fläche: der Bildfläche eines grossen Papiers. Nach dem Porträt «Johanna 2», 1986, hat Franz Gertsch während zehn Jahren an monochromen Holzschnitten gearbeitet, nun wendet er sich erneut der Malerei auf Leinwand zu. Wiederum dienen fotografische Ausschnitte eines Motivs aus der nächsten Umgebung des Künstlers als Projektionsvorlage. Die malerische Umsetzung allerdings ist nun freier. Während das Fliessen des Wassers in den monochromen Lichtpunkten der Holzschnitte für Augenblicke stillgestellt wird, geraten die Gräser durch die Malerei in Bewegung.Eine freiere Malweise hat sich bei Franz Gertsch bereits 1993 in den Darstellungen einer Pestwurz-Pflanze auf Japanpapier angekündigt, vor allem aber im Bild «Lapislazuli», 1997, einer monochromen Malerei mit feinen Strichen in zerriebenem Steinpigment auf Papier. Dieses Bild arbeitet nicht gänzlich ohne gegenständliche Assoziationen, es lässt jedoch ein sehr breites Spektrum an Vorstellungen zu: Wolken, Wellen, Urlandschaften, Schliffe im Stein bis hin zu mikroskopischen Spuren in Stoffen. In der weiten, in Blaunuancen bewegten Fläche verdichten sich letztlich allein die ausgedehnte Dauer das Malens und die ausgedehnte Gegenwart kostbaren Materials. Während die gelassene Konzentration des Malers eine geistige Dimension eröffnet, ist das Bild selber durchdrungen von Stoff: dem einzigartigen Papier und dem aufgetragenen Pigment. Auch in den Bildern der Gräser ist der Stoff, vorweg die Leinwand, ständig, wenn auch unaufdringlich präsent. Ebenso müsste die Dauer des Betrachtens, wie es Joyce für die Lektüre seines «Ulysses» forderte, der langen Dauer des Malens entsprechen. «Gräser I» (240 x 340 cm), die grösste der drei Arbeiten, bietet im Querformat eine Ansicht oder Übersicht, eine Art Totale aus mittlerer Distanz, während «Gräser II», (290 x 290 cm) und «Gräser III» (290 x 290 cm) je einen quadratischen Ausschnitt aus dem ersten Bild in Nahaufnahme zeigen. Die ganze Reihe ist verbunden durch einen Rhythmus von strengen, geraden Stengeln und geschwungenen Blättern, sowie einem Wechsel zwischen gleissenden Helligkeiten und tiefen Abschattungen, Bereichen der Schärfe und der Unschärfe. In der malerischen Präsenz des Motivs weichen die Totale und die beiden Ausschnitte allerdings voneinander ab.

Gräser I Anlässlich einer kurzen Präsentation von «Gräser I» in der Kunsthalle Bern hat Ulrich Loock Motiv und Malweise dieses Bildes näher besprochen:«Franz Gertsch malt zum ersten Mal mit Pigmenten, die aus zerriebenen Mineralien gewonnen werden, gebunden in Damar-Harz und Bienenwachs, auf ungrundierten Baumwollstoff. Bemerkenswert ist die auf acht Pigmente reduzierte Palette. Bei bestimmter Beleuchtung kann das Bild wie ausgebleicht wirken, ziehen sich die Farben zu einem Eindruck von Monochromie zusammen. Die Tendenz zur Einfarbigkeit hat sich Franz Gertsch bei den Holzschnitten erarbeitet. (...)Wenn das Bild «Johanna 2» so etwas wie eine Bannkraft auf den Betrachter ausübt, lädt das Bild «Gräser I» dazu ein, die Augen in verschiedenen Richtungen, welche von den Gräsern angegeben werden, über die Bildfläche zu bewegen, eine um die andere der vielen Einzelheiten ins Auge zu fassen, welche den Blick auf sich ziehen und weiterführen. (...) In diesem Bild ist jedoch nichts von der Indifferenz zu finden, welche das sogenannte polyfokale all-over von Pollock charakterisiert. Ebenso weit ist die Bildkonzeption von Franz Gertsch aber auch entfernt von einer kompositorischen Logik, die der europäischen Idee der Zusammenfassung des Verschiedenen entspricht, für die etwa Dürers ?Rasenstück’ ein hervorragendes Beispiel ist. Die Bildkonzeption in Gräser I liegt quer zu beiden Auffassungen, die jeweils exemplarische Weltverhältnisse symbolisieren. Ähnliches bestätigt sich durch die Beobachtung, dass das Bild offensichtlich einen Ausschnitt der Natur darstellt – die Verwendung der fotografischen Vorlage macht das nur noch deutlicher. An vielen Stellen werden einzelne Blätter und Stengel von den Begrenzungen des Bildes ohne weiteres, ja rücksichtslos abgeschnitten. Und trotzdem vermittelt es den Eindruck, in sich fertig, beständig, abgeschlossen zu sein. Es ist nicht leicht zu sagen, wie dieser Eindruck zustande kommt. Einige Momente können benannt werden: Der Gegensatz zwischen den schlanken, leicht nach links gerichteten Stengeln und den in Gegenrichtung herabhängenden Blättern – ein gekipptes Horizontal-Vertikal-System. Und die jeweils besondere Behandlung der vier Ecken des Bildes, unauffällig, wie zufällig zwar, aber wohl doch so, dass dem durch das Format begrenzten Ausschnitt über die Diagonalen ein Halt gegeben wird, der mit der physischen Ausdehnung des Bildes übereinstimmt. (...)Ich halte es für einzigartig, wie in diesem Bild höchste Individualität, Unterschiedlichkeit, Unverwechselbarkeit und Prägnanz der Details sich ohne übergeordnete Organisation darstellt.Gräser II und III  Obwohl «Gräser II» und «Gräser III» leicht zu ortende Ausschnitte des ersten Bildes aufnehmen, bestehen sie als zwei äusserst eigenständige Werke. Der Unterschied zu «Gräser I» liegt in der unmittelbaren Erfahrung, dass man weniger vor, als vielmehr in diesen beiden Bildern zu stehen scheint. Der Eindruck einer plötzlichen Übernähe ergibt sich aus der nachvollziehbaren Vergrösserung der Halme. Das Grossformat wird damit zum Guckloch in einen immensen Illusionsraum, wie ihn Alice hinter den Spiegeln fand. Wir sind uns inzwischen zwar auf Bildschirmen an jegliche Form der Dimensionsverschiebung- und verzerrung gewohnt; in dieser grossformatigen Malerei trifft sie uns jedoch unvorbereitet. Stärker noch als im ersten Bild, bleibt in den beiden Ausschnitten ein Überblick über das Dargestellte – obwohl aus Distanz durchaus möglich – versagt. Der Blick entgleitet und ist fortwährend in Bewegung; in einer ruhigen Bewegung allerdings, auf einer Fläche den Halmen entlang, ähnlich den Linien Brice Mardens. Oder in einer Bewegungsabfolge im Raum, welche an die konzentrierten, ausladenden Figuren aus asiatischen Körperübungen erinnert. Während «Gräser II» sich nach vorne hin eher öffnet, scheint sich der Bildraum im dritten Werk hinter einem Gitter von Halmen zu entziehen. Die Raumillusion wird jedoch auch in diesen zwei Bildern irritiert. Die Auflösung der fotografischen Vorlage stösst mit der vergrössernden Projektion stellenweise an ihre Grenzen und eröffnet damit in den Lücken und Abschattungen zwischen den Elementen der Vorlage einen Raum für reine Malerei. Die genaue Wiedergabe, die sich bei Franz Gertsch schon immer feine Abweichungen erlaubt hat, wird hier noch freier, um von der illusionären Darstellung ins Extrapolieren und in die Imagination von Wirklichkeit überzugehen. Die Spannung zur fotografischen Vorlage bleibt zwar erhalten. Ihre Natur hat sich jedoch verändert. Zwischen den Gräsern wachsen virtuelle Gräser: Mehrere Stengel verlieren sich im Leeren, Schatten treten auf, ohne dass auszumachen wäre, was sie wirft. Wer den Schatten dieses Grases betrachtet, hat seinen festen Ort in der Welt verloren. Die Brechungen in der Logik des Motivs stellen schliesslich das Raumkontinuum selbst infrage. Beliebig viele Punkte liegen zwischen zwei Punkten, und auch zwischen zwei Gräsern öffnet sich ein Universum, wäre da nicht auch die pragmatische Gewissheit, dass hinter jedem Strich, wie hinter jedem Farbton, die Entscheidung des Malers steht. Schliesslich erscheint doch jener hinterste Abgrund der Unschärfe, jenes unheimliche Schwarz, von dem Ulrich Loock schon bei «Gräser I» gesprochen hat: «Ein weiteres Moment des Bildes tritt umso unerbittlicher hervor, je mehr man sich auf dessen Einzelheiten einlässt: Das Schwarz, welches Stellen zwischen Blättern und Stengeln besetzt, in Wirklichkeit eine Zone irgendwo hinter Gräser und Halme legt. Eine Zone tiefsten Schwarz’, dessen Absolutheit uneingeschränkt ist, eine dimensionslose Zone. Letztlich ist es die Bodenlosigkeit dieses Bereichs, nur verhängt vom Gewebe der Gräser, welche die Unheimlichkeit des Bildes hervorbringt.» Zugleich verweist der dunkle Grund die Malerei wiederum auf ihre Flächigkeit, ihre körperliche Gegenwart. Bei Franz Gertsch ist aufgrund seines Vorgehens oft über das Verhältnis zur Fotografie gesprochen worden. Die Wirkung dieser drei Arbeiten in einem Raum, vor allem aber die Wechselwirkung zwischen dem ersten und den zwei folgenden Bildern legt nun auch einen Bezug zur filmischen Wahrnehmung nahe. Wenn der Blick unter den drei Werken wandert, erfährt er einen Schnitt zwischen Close-Up und Totale, wie es der Film seit seinen Anfängen vermittelt hat.

Ein Close-Up Der filmische Close-Up ist ein Affektbild. Er wirkt emotional direkt, weil er indirekt, durch den Schock einer Übernähe auf Distanz weist: Es ereignet sich ein «Kurzschluss zwischen Nahem und Fernem» (Gilles Deleuze). Der Close-Up kennt keinen Kontext, so dass die Ortlosigkeit zur alleinigen Gegebenheit wird. Vor allem bei Gräser II zeigt sich jedoch, dass die Malerei auch eine andere Wirklichkeit gegenüber der filmischen Projektion aufbaut. In der gemalten Nahaufnahme wird die Körperlichkeit der einzelnen Halme betont, gesteigert sogar, bis zu jenem Punkt, an dem durch sie hindurch die Malerei selber ins Bewusstsein tritt. Die Tendenz zur Monochromie aus dem ersten Bild wird in den zwei Ausschnitten teilweise wieder aufgehoben, so dass vereinzelt tiefes Blau, Rot und Gelb sichtbar wird. Ulrich Loock: «Franz Gertsch hat Natur in ihrer Eigenständigkeit gemalt, in ihrem In-Sich-Stehen und In-Sich-Verharren, in ihrer unüberwindlichen Fremdheit, mit der sie für uns keinen Ort bereit hält, keinen Aufenthalt anbietet. Diese Verweigerung der Aufnahme bezeichnen wir als ?Unheimlichkeit’. Diese Bestimmungen liegen nicht weit von Walter Benjamins Definition der Aura, nämlich einer ?einmalige(n) Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.’ Wenn Benjamin aber fortfährt, diese Definition der Aura stelle nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwertes des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung, so trägt doch vieles in der Bildkonzeption bei Gertsch dazu bei, dem Bild den Kultwert zu nehmen. Ist hier die Aura nicht vielleicht eine Ferne der Dinge der Natur, die sich einstellt, nachdem alle wissenschaftlichen Untersuchungen, nachdem alle Mikro- und Makroaufnahmen, nachdem alle Analysen bis ins Innerste der Materie hinein vorgenommen worden sind?» Die Malerei von Franz Gertsch ist auf eine faszinierende Weise zeitgemäss, indem sie in einem traditionellen Medium die Seherfahrungen neuer und neuster Medien aufnimmt und bricht. Ein Indiz für das Unheimliche, das Ungezähmte dieser Bilder ist nicht zuletzt der aufwendige Versuch der Sprache, sie nachzuzeichnen, um den Bann ihres nachhaltigen Schweigens zu brechen. Malend hat Franz Gertsch ein Verhältnis zur Lücke gefunden. Entsprechend müsste das Geschriebene ein genaues Schweigen sich ereignen lassen zwischen den Worten über die Gräser.


Der Szenenwechsel XIII im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zeigt nebst den Gemälden «Gräser I-III» und «Johanna 1» von Franz Gertsch (*1930) eine dichte Retrospektive von Alighiero Boetti (1940–1994), eine Gruppe neue, beinahe lebensgrosse Aquarelle von Marlene Dumas (*1952), eine Werkgruppe von Jean-Frédéric Schnyder (*1945), einen «Living-room» vonJohannes Spehr (*1965),eine Landschaft von Axel Kasseböhmer (*1952) und bringt ein Wiedersehen mit dem Zyklus «18.Oktober 1977» von Gerhard Richter (*1932).

Werbung