Ding / Unding

Dieter Roth · Literaturwurst (Der Spiegel), 1961–1970, zerkleinerte Bücher, mit Wasser und Gelatine oder Fett und Gewürzen, in Wursthaut, 13 x 38 x 14 cm, Graphische Sammlung der ETH Zürich, Courtesy Hauser & Wirth

Dieter Roth · Literaturwurst (Der Spiegel), 1961–1970, zerkleinerte Bücher, mit Wasser und Gelatine oder Fett und Gewürzen, in Wursthaut, 13 x 38 x 14 cm, Graphische Sammlung der ETH Zürich, Courtesy Hauser & Wirth

Hiroshi Sugimoto · Noh Such Thing as Time, 2001, Offsetdruck. Tokyo: Atsuko Koyanagi

Hiroshi Sugimoto · Noh Such Thing as Time, 2001, Offsetdruck. Tokyo: Atsuko Koyanagi

Hinweis

Ding / Unding

Zürich — Wenn Dieter Roth (1930–1998) das Magazin ‹Der Spiegel› mit Gewürzen angereichert zur Literaturwurst (1961–1970) verarbeitete, Hiroshi Sugimoto (*1948) mit ‹Noh Such Thing as Time›, 2001, eine Noh-Theaterbühne in verkleinertem Massstab entwirft oder wenn Leporellos sich zu Räumen entfalten, wie Ed Ruschas (*1937) sieben Meter lange Arbeit ‹Every Building on Sunset Strip›, 1966, so manifestieren diese Objekte ihre Präsenz im Raum. Die Exponate in ‹Ding / Unding. Die Entgrenzung des Künstler*innenbuchs› untersuchen  den Objektcharakter von Büchern und weisen über dessen Status als Mittel der Informationsübertragung weit hinaus. Dies veranschaulicht besonders das überdimensionale Tapetenmusterbuch ‹Privé›, 1986, von Thomas Müllenbach (*1949), dessen Seiten mit Lackfarbe nahezu monochrom übermalt sind. Mit solchen Experimenten reizen Kunstschaffende immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen der Buchproduktion und -gestaltung aus. In unserer Zeit der unbeschränkten digitalen Informationen, Programme und Symbole verlieren die Bücher zunehmend ihren Objektcharakter und werden zu «Undingen», wie die Kuratorin Lena Schaller in Anlehnung an den Medienphilosophen und Kommunikationswissenschaftler Vilém Flusser (1920–1991) die langsame Auflösung der Dinglichkeit zu ungreifbaren Informationen nennt. Flusser, dessen zentrales Thema der Untergang der Schriftkultur war, sagte voraus, dass das Alphabet als dominierender Code von Technobildern abgelöst werde. Dadurch würde sich auch die Auffassung von Raum und Zeit ändern, denn der lineare Zeitverlauf und der geometrische Raum sind nur für die Menschen eine Selbstverständlichkeit, die mit Texten vertraut sind. Dieses Phänomen lässt sich etwa bei Print-on-Demand-Publikationen beobachten, die nur in der digitalen Version existieren und erst auf Bestellung gedruckt werden. So führen sie ein Dasein an der Schwelle zwischen digitalem Code und analogem Objekt. Während die Technologie hinter den Dingen verschwindet, gerät das Haptische zunehmend in den Blickpunkt des Interesses. Dieser Prozess ist fast schon exemplarisch am Künstlerbuch ablesbar. Kunstschaffende zelebrieren es als Objekt, das sich zuweilen selbst hinterfragt und seine eigene Auflösung reflektiert. Doch gerade die kritische Reflexion hält das Medium am Leben. Die in der Ausstellung präsentierte Auswahl von Büchern der Graphischen Sammlung der ETH Zürich führt vor Augen, dass sich die immer wieder geäusserten Vorhersagen zum
Tod des Buches bisher keineswegs realisiert haben.

Bis 
14.04.2019

Werbung