Ishita Chakraborty — Ein Vokabular des Anderen und Gemeinsamen

Europa, seit 2019, Detail, Keramik, unglasiert gebrannt, Dimensionen variabel, Ausstellungsansicht Vitrine, Basel, 2023. Foto: Moritz Schermbach

Europa, seit 2019, Detail, Keramik, unglasiert gebrannt, Dimensionen variabel, Ausstellungsansicht Vitrine, Basel, 2023. Foto: Moritz Schermbach

Foto: Nathanael Gautschi

Foto: Nathanael Gautschi

In Other Words, Ausstellungsansicht Vitrine, Basel, 2023. Foto: Moritz Schermbach

In Other Words, Ausstellungsansicht Vitrine, Basel, 2023. Foto: Moritz Schermbach

Zwischen / Between, seit 2017, fortlaufende Serie, geritztes Papier, je 21 x 29,7 cm. Foto: Moritz Schermbach

Zwischen / Between, seit 2017, fortlaufende Serie, geritztes Papier, je 21 x 29,7 cm. Foto: Moritz Schermbach

Resistance, 2022, Serie, Keramik, unglasiert, Dimensionen variabel. Foto: Moritz Schermbach

Resistance, 2022, Serie, Keramik, unglasiert, Dimensionen variabel. Foto: Moritz Schermbach

Exotische Pflanzen im Garten – Was tun?, 2022, Detail, Wandmalerei, Sound, Holzskulpturen, Dimensionen variabel, Ausstellungsansicht Aargauer Kunsthaus, Aarau, 2022. Foto: Nathanael Gautschi

Exotische Pflanzen im Garten – Was tun?, 2022, Detail, Wandmalerei, Sound, Holzskulpturen, Dimensionen variabel, Ausstellungsansicht Aargauer Kunsthaus, Aarau, 2022. Foto: Nathanael Gautschi

Fokus

Die junge indisch-schweizerische Künstlerin und Poetin Ishita Chakraborty hat zuletzt in der Jahresausstellung des Aargauer Kunsthaus mit einem kollaborativen Projekt auf sich aufmerksam gemacht. Jetzt bespielt sie den schaufensterartigen Ausstellungsraum Vitrine Gallery in Basel. In drei formal lyrischen Ar­beitszyklen untersucht sie das Phänomen der Migration aus ver­schiedenen Perspektiven.

Ishita Chakraborty — Ein Vokabular des Anderen und Gemeinsamen

Aus dem Boden des Galerieraums spriessen Pilze. Überhohe Glasscheiben schliessen sich als Vitrine um sie und grenzen sie vom umliegenden Raum, dem Bahnhof, der Tramstation, der Stadt ab.
Nachdem Ishita Chakraborty 2018 aus Indien in die Schweiz gezogen war, verbrachte sie viel Zeit damit, Deutschkurse zu besuchen, wo sie andere Immigrant:innen und Flüchtende traf, ihre Geschichten hörte, ihre Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Erwartungen. Ausgehend von dieser Erfahrung initiierte Chakraborty Workshops, bei denen sich Flüchtende, Migrant:innen und Einheimische treffen, um miteinander zu sprechen, Geschichten zu teilen und gemeinsam Pilzmodelle aus Keramik herzustellen. Aus diesem Prozess entstand die Arbeit ‹Europa›, eine Installation von über 2700 Pilzen, hergestellt aus Tonarten in den verschiedensten Farben wie Schwarz, Braun, Weiss, Beige, Pink und Orange. Sie bevölkern nun dieses abgesteckte Stück Boden des Vogesenplatzes in Basel.

Ein Vokabular des Verbundenseins
Chakraborty, Künstlerin und Poetin, stellt sich den Menschen wie einen Pilz vor, unterirdisch verbunden mit seinesgleichen, einen gemeinsamen Organismus bildend. Sie verweist auf Konzepte, die sich in den 1990er-Jahren in der Soziologie etablierten. In der ersten Ausgabe von ‹Identities – Global Studies in Culture and Power›, 1994, wies die Soziologin Nina Glick-Schiller darauf hin, dass sich Fragen der Identität und Kultur als zentral für «den gegenwärtigen historischen Moment» herauskristallisiert hätten. Sie meinte damit die Beziehung zwischen Rassen, Ethnien und Machthierarchien innerhalb nationaler und globaler Arenen und die gesellschaftlich prägenden Prozesse von kultureller Repräsentation, Beherrschung und Widerstand.
29 Jahre später sind diese Fragen noch zentraler. Der parallele Trend zur Globalisierung, die Verlagerung der demografischen Möglichkeiten von den alten imperialen Peripherien zu den post-imperialen Metropolen bestimmt die Weltordnung seit dem Kalten Krieg. Neue technische Möglichkeiten haben unsere Vorstellung von Zeit und die Grenzen unseres Selbst verändert. In diesem Kontext hat Nina Glick-Schiller den soziologisch zentralen Begriff der «Transmigrant:innen» – im Unterschied zu Migrant:innen und Immigrant:innen – geprägt: Er beschreibt mobile Subjekte, die in der Verbindung ihrer Herkunfts- und Aufenthaltsgesellschaften vielfältige soziale Beziehungen schaffen. Das rhizomatische Geflecht der Pilze, das wir uns unter dem Vogesenplatz vorstellen, ist für Chakraborty das konstante Gespräch, das die Migrant:innen untereinander führen und gerne auch mit uns führen würden, wenn wir uns denn selbst als Teil dieser Konversation verstehen könnten.
Wenn Europa demografisch eine Zukunft haben will, dann wird sie durch ein Netzwerk von Transmigrant:innen erschaffen werden. Die Geschichte verändert sich und folgt dennoch Mustern, so wie Pilze es auch jedes Jahr tun. So ähneln beispielsweise Briefzeugnisse von Schweizerinnen und Schweizern, die um 1900 ihr Glück in einer «Neuen Welt» suchten, in berührender Weise den Berichten von Geflüchteten, die Ishita Chakraborty heute in der Schweiz sammelt. Daraus entsteht seit 2017 eine Reihe von Texten auf weissem Papier – eingeritzt, nicht aufgeschrieben. Die zerkratzten Oberflächen erinnern an Wunden auf einer Haut oder an die Brailleschrift. Ausgangspunkt der Serie ‹Zwischen / Between› sind Tonaufnahmen der Stimmen derer, die Exil, Verlust und Gewalt erlebt haben. Chakraborty versteht Zuhören als Übung des Widerstands und als Werkzeug der Sichtbarmachung. Auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar, müssen wir unsere Perspektive konstant ändern, um die Perforierungen auf dem Papier zu erfassen. Die Serie verbindet die Poetik und das mögliche Vokabular der Sprache mit der harschen Lebensrealität von Menschen auf der Flucht.

Die Form dessen, was uns trennt
Denn natürlich ist die postmigrantische Gesellschaft in Europa einerseits eine Realität, andererseits igelt sich der Kontinent systematisch ein, errichtet an seinen Grenzen Stacheldraht-bewehrte Zäune und zwingt die Flüchtenden auf die gefährlichen Routen übers Wasser. Das Mittelmeer ist zum Friedhof derer geworden, die wir auf dem Altar der vermeintlichen Stabilität opfern. Die Verletzungen des Papiers in ‹Zwischen / Between›, die Spuren der Gewalt, die die Geschichten jener prägen, die es in die Schweiz schaffen, werden im übertragenen Sinn vom Stacheldraht der europäischen Aussengrenze verursacht.
Aufgereiht an den Wänden der Vitrine Gallery findet sich eine weitere unglasierte Keramikserie mit dem Titel ‹Resistance›. Seit 2021 formt Chakraborty diese kleinen Nachbildungen von Stacheldraht aus Ton – ein Kommentar zur Brutalität des Menschen sich selbst gegenüber. Sie referiert auf die Grenzen, das Fernhalten von Unerwünschtem, vom Anderen, kulturell Fremden. Natürlich ist das hier verwendete Material gänzlich ungeeignet, um als Schutz vor dem «Eindringenden» zu funktionieren. Mit der Bewegung einer Hand können die Fragmente zerstört werden, das, was uns trennt, ist brüchig und fragil.
Dies verdeutlichen zwei Aspekte, die in der öffentlichen Debatte zu Migration und Globalisierung in Europa kaum auftauchen: Demografie und Digitalisierung. Der Globale Norden wird immer älter, der Globale Süden ist von einer Jugend geprägt, die aufbrechen will, ähnlich der Situation im Europa des 19. Jahrhunderts. Der Glaube aber, dass die verschwindenden Jobs der Migration geschuldet seien und dass diese eine Bewegung des Südens gegen den Norden sei, verkürzt unsere Diskussionen zum Thema ins rein Nationalistische, Protektionistische: Wir igeln uns ein, anstatt uns zu öffnen. Die Globalisierung im Anthropozän wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Bedeutungsverlust des Westens und des westlichen Denkens führen. Die demografische Entwicklung wird diesen Prozess beschleunigen, die Klimaveränderungen werden ganz neue Formen der Migration erzeugen, die Rolle des Individuums und der Wert der Arbeit werden sich im Fortgang der digitalen Revolution radikal verändern. Der Stacheldraht, der uns vor diesen Veränderungen schützen soll, so Chakraborty, ist das falsche Material. Transformation ist ein möglicher Schlüssel, Verletzlichkeit und Verletzbarkeit sind in ihrer Arbeit fragmentierte Gebilde, die sich mit den Pilzen am Boden materiell verbinden.

Von Pflanzen und Menschen
In ihrer Solopräsentation im Aargauer Kunsthaus für die ‹Auswahl 2022› schuf die Künstlerin eine kollaborativ erstellte, raumfüllende Wandarbeit mit dem Titel ‹Exotische Pflanzen im Garten – Was tun?›. Die Wandmalereien zeigten Pflanzen aus dem Globalen Süden, die längst in unseren Gärten heimisch sind. Das Vokabular, mit dem die sogenannten invasiven Arten beschrieben werden, ist zutiefst rassistisch, die Realität, aus der sie kommen, ist der globale Handel des Kolonialismus. Und dennoch käme es uns nicht in den Sinn, den Basilikum aus unseren Kräutergärten zu verbannen. Die Klimaerwärmung wird unsere Gärten und Wälder unwiderruflich verändern, Steineichen werden Buchen ersetzen, Basilikum wird besser gedeihen als Petersilie. Die Pflanzenvielfalt wird von diesen Prozessen nicht bedroht, sie verändert sich einfach. Eine Arbeit, die Chakraborty an der 8. Biennale Kulturort Weiertal in Winterthur später dieses Jahr zeigen wird, basiert auf einer Recherche, die sie in den Sundrbans, dem grössten Mangrovenwald der Erde, in Westbengalen, ihrem Herkunftsort, unternimmt. Sie spricht mit Bäuerinnen und Fischerinnen, die dort mit einfachen, aber wirkungsmächtigen Mitteln versuchen, das fragile Ökosystem zu schützen, um ein Auskommen zu generieren. Ihre ökofeministischen Projekte werden in Form von Tonaufnahmen, Gesprächen und Gesängen zu uns zu Besuch kommen. Ihr Wald-Garten ist auch der unsere, Chakraborty führt sie zusammen.

Damian Christinger, freier Kurator und Publizist, lebt in Zürich. damian.christinger@gmail.com

→ ‹Ishita Chakraborty – In Other Words›, Vitrine Gallery, Basel, bis 28.5.  ↗ www.vitrinegallery.com
→ ‹Common Ground›, 8. Biennale Kulturort Weiertal, Winterthur, 21.5.–10.9. ↗ www.galerieweiertal.ch
→ ‹Ishita Chakraborty›, Kulturfolger, Zürich, 3.–24.6. ↗ www.kulturfolger.ch

Bis 
28.05.2023

Ishita Chakraborty (*1989, Westbengalen, IN) lebt in der Schweiz und in Indien
2021 MFA, Kunst und Medien, Zürcher Hochschule der Künste
2013 MFA, Kunst, Rabindra Bharati University, Kolkata  

Einzelausstellungen (Auswahl)
2021 ‹The Songs of Resistance›, Keinraum, Luzern
2020 ‹Lyrics of Loss and Longing›, Prameya Foundation, Neu-Delhi
2019 ‹I Speak Your Language›, Kunstraum ZHdK, Toni-Areal, Zürich
2017 ‹Zwischen›, Werkschau AIR Gästeatelier Krone, Forum Schlossplatz, Aarau

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022 5th International Biennale de Casablanca; ‹The Mouth is for Speaking›, We Are AIA, Löwenbräu, Zürich; ‹Gast Auswahl 22›, Aargauer Kunsthaus, Aarau
2021 ‹Life Lines›, Johann Jacobs Museum, Zürich; ‹Auswahl 21›, Aargauer Kunsthaus, Aarau
2017 50th Annual Exhibition, Birla Academy of Art & Culture, Kolkata; ‹Art for Peace›, Kunsthaus Zofingen
2014 ‹Gen Next›, Akriti Art Gallery, Neu-Dehli

Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Ishita Chakraborty 03.06.202301.07.2023 Ausstellung Zürich
Schweiz
CH
In Other Words — Ishita Chakraborty 10.02.202328.05.2023 Ausstellung Basel
Schweiz
CH
Künstler/innen
Ishita Chakraborty
Autor/innen
Damian Christinger

Werbung