Editorial — Gestern im TV gesehen
Editorial — Gestern im TV gesehen
Diesen Blicken können wir nicht ausweichen. Sie fixieren uns, so eindringlich und unmittelbar, wie einen nur Menschen anschauen, welche die Sprache verloren haben oder ihre Gedanken noch nicht in Worte fassen können. Es sind stille und doch zum Himmel schreiende Blicke. Was will uns das Gegenüber mitteilen? Wie reagieren wir, nehmen wir es in die Arme, weichen wir ihm aus, ergreifen wir die Flucht? Miriam Cahns Gemälde fordern zur Auseinandersetzung auf. Sie zeigen Menschen und verkörpern sie zugleich. Die Figuren kommen von irgendwoher und ziehen irgendwohin weiter. Oft sind es Flüchtende, mal Ertrinkende, mal eine Mutter mit Kind, mal eine zusammengewürfelte Dreiergruppe. Es sind prekäre Gestalten, denen auch die Künstlerin keine Verankerung bietet. Der Fluchtpunkt liegt ausserhalb der Bildfläche, häufig weisen zwei Achsen in eine unbestimmte Ferne. Wer bietet den Geschöpfen Halt? Wo finden sie Aufnahme? Ihre existenzielle Verlorenheit wurzelt tief, hat mit ökonomischen und politischen Landkarten zu tun. Doch mehr als dies. Denn auch das, was wir gemeinhin Liebe nennen, spendet keine Geborgenheit. Dem Saal mit den Flüchtenden stellt Miriam Cahn die Werkgruppe ‹liebenmüssen› zur Seite: glutrote Leiber, die im Würgegriff miteinander ringen. Für Hannah Arendt sind wir alle Flüchtlinge: «Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.» Miriam Cahns ‹meredith grey (gestern im TV gesehen)› trägt einen transparenten Schleier, stellvertretend vielleicht für den Screen, mittels dessen sie der Künstlerin begegnete. Nun steht sie uns vor Augen, in ihrer Sprachlosigkeit. Und wir sind aufgerufen, für sie das Wort zu ergreifen.
Miriam Cahn |
Claudia Jolles |