Adji Dieye — Aphasia oder im Vakuum von Sprache
Im Reisegepäck hat sie Bücher, und eine ihrer wichtigsten Destinationen in den letzten Monaten war das senegalesische Nationalarchiv in Dakar. Wer hat wann wen fotografiert? Was hat die koloniale Administration übersehen, überhört und verschwiegen? Wie geht die offizielle, französische Sprache auf die Kultur der lokalen Bevölkerung ein? In ihrer neuen Videoinstallation im Fotomuseum Winterthur sucht Adji Dieye nach Antworten. In der Lücke des Verstehens setzt sie auch uns Betrachtende einer Sprachlosigkeit aus.
Adji Dieye — Aphasia oder im Vakuum von Sprache
Sie ist rot gekleidet. Sie sitzt auf einer abschüssigen Kieshalde, auf einer gepflasterten Böschung, auf freigelegten Betonrohren, einem Mäuerchen. Stehend lehnt sie sich an ein Garagentor – Aufschrift: «A vendre» –, hat einen blendend neuen Wellblechzaun hinter sich und fast immer eine Baustelle. Adji Dieye ist allein in den Kulissen noch fensterloser Immobilien; nichts rührt sich im Gelände der Foire International de Dakar FIDAK, ausser der zerschlissenen Plache, die einen hoch aufragenden Pavillon wohl seit langer Zeit notdürftig vor Verwitterung schützt. Adji Dieye liest einen Brief aus dem Jahr 1973 von Léopold Sédar Senghor, damals Senegals Präsident. «Mes chers compatriotes, …»: Ohne dass man der Tonspur in ihrer Videoinstallation akustisch lückenlos folgen könnte, ist Französisch erkennbar. Hinter den angehobenen weissen Blättern bleibt die Protagonistin meist verborgen, während sie sich zugleich im offenen Terrain exponiert. Wir sind in Dakar, dem eigentlichen Zentrum der einst französischen Kolonien Westafrikas.
Die Blindheit von Archiven
Senegals Hauptstadt ist ein Synonym des Wandels und ihre Entwicklung seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1960 ein unkontrollierter Prozess. «Es ist schwer, in diesem Raum Fuss zu fassen», sagt die Künstlerin. Ganze Quartiere seien innerhalb von Wochen nicht mehr wiederzuerkennen. Mit Konsequenzen für ihre Bewohner:innen und fürs Gedächtnis der Stadt. Adji Dieye untersucht diese Dynamik aus der Perspektive der Diaspora. Sie selbst ist als Tochter eines Senegalesen und einer Italienerin in Mailand aufgewachsen und biografisch mit kultureller Differenz vertraut. In der ikonografischen Sammlung des Nationalarchivs stiess sie nicht nur auf Papierbündel, Negative und Filmrollen, die unter konservatorisch desolaten Bedingungen dem Zerfall und Vergessen preisgegeben sind. Sie realisierte auch, dass das offizielle Erbe der Nation versiegelt bleibt in einer Sprache, in der viele «compatriotes» nie zu Hause waren. «Ich musste die Frankophonie durchqueren, um überhaupt Bezüge herstellen zu können.» Die französische Sprache war lange Teil einer Kultur der Dominanz, eingeführt zum Preis von Zucker, Kautschuk, Baumwolle und billigen Arbeitskräften.
«Weil das Archiv nicht zu hören weiss, kennt es für die Vergangenheit nur die lineare Struktur des Textes», fasst die mexikanische Künstlerin Frida Robles im Begleitkatalog zu Dieyes Ausstellung im Fotomuseum Winterthur zusammen. «Es vergisst das Magische, die Lieder und die Grossmütter. Es vergisst die Illusionen, die Tränen und den Schweiss.» Die Blindheit gegenüber lokaler Tradition und Sprache gab Adji Dieyes jüngster Installation den Titel mit: Das griechische Wort «Aphasie» bedeutet wörtlich «Sprachlosigkeit» und bezeichnet also den Verlust des Sprach- und damit auch des Erinnerungsvermögens.
‹Aphasia› ist ein analytisches Stück. Es handelt von einem leisen Ringen um Zugehörigkeit und Identifikation. In der Sprache der Kolonialherrschaft bleibt Rückkehr ein Versuch. Befangen im Text, verkörpert die Künstlerin notgedrungen auch ihre eigene Entfremdung. Denn Wolof, die Sprache ihrer senegalesischen Angehörigen, klingt anders. Diese sehen wir im Reden und Singen, projiziert an der gegenüberliegenden Wand. Sie halten sich vor historischer Architektur auf, in einem Atrium, im Zimmer. Eine Untertitelung bleibt auch in dieser weit intimeren Perspektive aus. Auf keinen Fall, sagt Adji Dieye, habe sie die Lücken des Verstehens einebnen wollen. Vielmehr mutet sie uns ein Unbehagen zu: Man kann sehen, man kann höen, aber das Gesagte verstehen kann man nicht. Dabei dringt durch Stimmen und Gesten die Kraft der mündlichen Überlieferung – und ein Selbstverständnis, das auch im Religiösen wurzelt. «Der Herzschlag des Landes kommt aus seinem religiösen Teil; Glaube ist die Basis auch des Vertrauens in Institutionen.»
In der postkolonialen Lücke
Fotografie und Video sind beides in Dieyes Schaffen: Medien, um die historische Zirkulation von Information, Bildern und Körpern zu erschliessen und sie aus der Gegenwart kritisch zu befragen. Seit einigen Jahren schon beschäftigt sich die Künstlerin, die erst jüngst einen Master an der Zürcher Hochschule der Künste abgeschlossen hat, mit politisch und ideologisch motivierter Repräsentation auf dem afrikanischen Kontinent, kommentiert sie in räumlichen Installationen sowie im bibliophilen Format. ‹Red Fever› dokumentiert seit 2018 gebaute Relikte des Sozialismus – konstruktivistische Türme und Denkmäler mitten in der Savanne rufen in Fotos und Fotomontagen einen Traum auf, wie er vor fünfzig Jahren als Zukunft propagiert worden war. Mit ‹Maggic Cube›, 2017, wählte Dieye den Maggi-Würfel als Vehikel, um den imperialistischen Drall zu entlarven, mit dem Nestlé die Nachfrage seines Produkts in Afrika schürte. In Rücksicht auf Studiofotografie afrikanischer Provenienz, etwa von Seydou Keïta oder Malick Sidibé, dekonstruieren Dieyes eigene Collagen die Klischees nicht zuletzt über die afrikanische Frau. ‹Culture Lost and Learned by Heart›, seit 2020, führt auf einem langen Seidenband Fotografien aus dem Nationalarchiv zueinander mit Dieyes heutigem Blick auf Chinas massive Investitionen in die afrikanische Infrastruktur. Lässt sich die Geschichte ehemaliger Kolonien neu buchstabieren? Kann das Verlernen bestehender Narrative ein neues Selbstvertrauen vorbereiten? Die Fragen sind abstrakt, sie sind dringlich, und sie gehen einer Kunst voraus, die aus eigener Erfahrung das komplizierte Erbe von Weltgeschichte kreuzt.
Photographic Encounters
Die Videoinstallation ‹Aphasia› im Fotomuseum Winterthur grenzt an die Ausstellung mit Fotografie von Valie Export. Ihre Rebellion gegen die Autorität von Institutionen trug die Österreicherin mit ihrem eigenen Körper aus, klammerte sich an unverrückbare Sockel mächtiger Architektur aus dem 18. Jahrhundert. Als Valie Export mit ihrem ‹Tapp- und Tastkino› für Aufmerksamkeit sorgte oder Peter Weibel in Wiens Fussgängerzone an die Leine nahm, war sie ähnlich jung wie heute Adji Dieye. Ganz anders aber als die Österreicherin damals sucht Adji Dieyes «Performance» für die Kamera keine mediale Aufmerksamkeit. Während die Moderne mit Wohnblocks die Relikte ihrer Utopie aufgebläht an die Ränder von Afrikas Metropolen wirft, tritt Dieyes eigener Auftritt zurück hinter Nachdenklichkeit.
Adji Dieyes Projekt ‹Aphasia› ist das erste in der Reihe ‹Photographic Encounters›. Unter diesem Titel fördert das Fotomuseum Winterthur mit dem Christoph Merian Verlag in Basel alle zwei Jahre eine fotografische Position mit Schweizbezug: Die jeweilige Ausstellung wirft einen Spot auf aktuelle künstlerische Praxen und reflektiert ein Langzeitvorhaben im Katalog. Entlang von dessen Auftaktseiten begegnen wir jenen Orten, in denen wir die Frau in Rot haben lesen sehen. Das Schweigen der Bilder speichert eindrücklich ein Wachstum von Stadt im Vakuum von Weltmächten.
Ein Blick aus der Nähe
Wenn sie ihr Gepäck für die Reise nach Senegal mit Büchern beschwere, nehme sie ein Stück Zuhause mit, sagt Dieye. Politische Theorie ist ein wichtiger Nährboden für ihr Schaffen. Adji Dieye ist in eine Welt der Kunst hineingewachsen, die endlich und allmählich das globale Gefälle zwischen Zentren und Peripherie zu überbrücken versucht. Nie zuvor habe sie selbst wie in ‹Aphasia› an ihre eigenen Wurzeln gerührt. Mit grosser Vitalität und Erzählfreude – das ist auch ohne Sprachkenntnis erlebbar – berichte die Schwester ihres Vaters aus der Genealogie der Familie: Geschichte(n) jenseits der Zeitmessung, die mit Ankunft der Kolonialherren einen neuen Nullpunkt setzte. Als Betrachtende möchte man solches Erzählen selber verstehen. Kunst will grosszügig sein, um ihre tatsächlich poetische Kraft ganz zu entfalten.
Isabel Zürcher ist freie Kunstwissenschafterin und Autorin in Basel. mail@isabel-zuercher.ch
→ ‹Adji Dieye – Aphasia›, Fotomuseum Winterthur, bis 29.5.; Begleitpublikation mit Texten von Katrin Bauer, Frida Robles, Olamiju Fajemisin und Nadine Wietlisbach, Christoph Merian Verlag, Basel 2023
↗ fotomuseum.ch
Adji Dieye (*1991, Mailand) lebt in Mailand, Dakar und in der Schweiz
2017 BA Nuove Tecnologie dell’Arte, Accademia di Belle Arti di Brera
2018 The October School, Shiv Nadar University, Neu-Dehli
2020 MA Fine Arts, ZHdK, Zürich
Einzelausstellungen (Auswahl)
2022 ‹Faites-nous confiance›, Galerie Cécile Fakhoury, Abijan
2020 ‹Culture Lost and Learned By Heart›, C/O Berlin
2019 ‹Red Fever›, Atlantico Festival, Biblioteca Cabral for Post-Colonial Studies, Bologna; ‹Maggic Cube›, 29. FESCAAL, Casello Ovest Porta Venezia, Mailand
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2022 16. Biennale d’art contemporain de Lyon; 14. Dak’art Biennale, Dakar; 13. Rencontres de Bamako – Biennale africaine de la photographie
2020 ‹Memory Matters›, Fondazione Sandretto, Turin; ‹… von Brot, Wein, Autos, Sicherheit und Frieden›, Kunsthalle Wien; ‹FOAM Talent›, FOAM Fotografie Museum, Amsterdam
2019 12. Rencontres de Bamako – Biennale africaine de la photographie
2018 Lagos Photo Festival
Institutionen | Land | Ort |
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Fotomuseum Winterthur | Schweiz | Winterthur |
Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ | Ort | Land | |
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Adji Dieye — Aphasia | 25.02.2023 – 29.05.2023 | Ausstellung | Winterthur |
Schweiz CH |
Adji Dieye |
Isabel Zürcher |