en passant — Sternenreise mit Bierdose
en passant — Sternenreise mit Bierdose
Offensichtlich ist ihr eben etwas ins Auge geflogen. Kein Wunder bei den heftigen Böen, die stetig vom Bodensee her durch Kreuzlingen fegen. Mit dem Rücken der Rechten, in der sie eine Bierdose hält, versucht sie sich den Fremdkörper aus dem Auge zu wischen. Dabei schüttet sie sich Schaum übers Jackett und die gebügelte Bluse. Die junge Trunkene sieht aus wie eine Geschäftsfrau mit Liebeskummer, die vom Feierabendbier direkt zur Party überging und später, als sich die Türe der letzten Bar hinter ihr schloss, noch nicht in den unbetäubten Schmerz zurückkehren wollte.
Jetzt entdeckt sie das Metallband zu ihren Füssen. Es gehört zu einer komplexen Zeichnung, zu einer astrogeografischen Karte, welche die Künstlerin Doris Naef 2011 auf dem Platz intarsiert hat, mit Bezug zur Einweihung der Kirche Egelshofen am 19. November 1724. Ein kleiner Ruck geht durch die junge Frau, sie breitet die Arme aus und balanciert entschlossen auf der Schiene voran. Als spürte sie, mit welchem Tempo sie durchs Weltall rast, schlittert sie immer wieder aus der Bahn. Nach einigen Torkelschritten kreuzt der schlingernde Schatten eines Lindenastes ihren Weg. Dankbar steigt sie auf die weniger geradlinige Alternative um, stakst ihr kurz entlang, wird dann von einem plötzlichen, heiseren Lachen geschüttelt, wirft die Dose in einen Mülleimer und stuckert in Richtung See davon. Wer weiss, vielleicht wird sie, wenn sie aus ihrem Rausch erwacht, tatsächlich meinen, sie hätte eine Sternenreise unternommen. Wenn dem so sein sollte, dann hat sich nicht nur das Besäufnis gelohnt, sondern auf jeden Fall auch die Kunst.
Samuel Herzog, Textbauer, Inselbauer, Schüttsteinschaffer. info@samuelherzog.net
Ein Text zu einem Kunstwerk im öffentlichen Raum der Stadt Chur.
Samuel Herzog |
Doris Naef |