Katharina Grosse — Im Resonanzraum der Farbe

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2005, Acryl auf Leinwand, 299 x 602 cm, Kunstmuseum Bern © ProLitteris

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2005, Acryl auf Leinwand, 299 x 602 cm, Kunstmuseum Bern © ProLitteris

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2001, Acryl auf Leinwand, 250 x 170 cm © ProLitteris. Foto: Olaf Bergmann

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2001, Acryl auf Leinwand, 250 x 170 cm © ProLitteris. Foto: Olaf Bergmann

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2021, Acryl auf Leinwand, 354 x 266 x 66 cm © ProLitteris. Foto: Jens Ziehe

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2021, Acryl auf Leinwand, 354 x 266 x 66 cm © ProLitteris. Foto: Jens Ziehe

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2021, Acryl auf Leinwand und Holz, 349 x 248 x 80 cm, Courtesy Gagosian © ProLitteris. Foto: Jens Ziehe

Katharina Grosse · Ohne Titel, 2021, Acryl auf Leinwand und Holz, 349 x 248 x 80 cm, Courtesy Gagosian © ProLitteris. Foto: Jens Ziehe

Katharina Grosse © ProLitteris. Foto: Aman Shakya / SCAD

Katharina Grosse © ProLitteris. Foto: Aman Shakya / SCAD

Fokus

So mutig sich Katharina Grosse vor 25 Jahren in der Berner Kunsthalle mit Sprühfarbe erstmals in den Ausstellungsraum vorwagte, so farbgewaltig hält sie nun im Kunstmuseum Bern mit Gemälden der letzten Jahrzehnte Einzug. Heute bekannt für ihre grossformatige Malerei, bewahrt sie die Uneindeutigkeit in ihren Werken als «Prototypen der Imagination». 

Katharina Grosse — Im Resonanzraum der Farbe

Mit ihren gesprayten ortsspezifischen Werken, die oftmals ganze Ausstellungshallen, Häuserfassaden und Landschaften einnehmen, ist Katharina Grosse heute international bekannt und weitum gefragt. So findet neben der aktuellen Ausstellung ihrer ‹Studio Paintings› im Kunstmuseum Bern noch dieses Jahr in der Wiener Albertina eine Grossausstellung mit «begehbaren Bildern» der Künstlerin statt. Derweil wartet auch Bern mit einer eigens fürs Museum geschaffenen Installation auf: Über die gesamte Höhe des Treppenaufgangs im neueren Ausstellungstrakt sind auf langgezogenen Stoffbahnen Fotodrucke vergrösserter Gemäldeausschnitte und der mit Farbe übertünchten Hände der Künstlerin zu sehen. Zwischen den Bahnen umhergehend, wird ihre monumentale Malerei aus der Nähe erfahrbar, wobei die Fotoreproduktionen in ein spezielles Verhältnis zu den Originalen vor Ort treten.

Bern, der Durchbruch und die Farbe
Was sich bei Katharina Grosse bisweilen als Raum und Publikum einnehmende Monumentalmalerei manifestiert, nahm im Untergeschoss der Kunsthalle Bern seinen Anfang: Hier besprühte die deutsche Künstlerin 1998 erstmals eine Raumecke und die angrenzenden Wände mit grüner Acrylfarbe. Damit entledigte sie sich der gängigen Vorstellungen von Malerei und führte das Medium bewusst auf unbestimmtes Terrain. Und obwohl sie selbst und auch Fachkreise Vorbehalte hatten, die Intervention bestünde weder als Gemälde noch als Skulptur oder Installation und könnte zu leicht und respektlos wirken, überzeugte die Arbeit schliesslich durch ihre schlichte Präsenz. Sie gab den Impuls zu einer neuartigen Sichtweise auf die Malerei und bescherte Grosse den Durchbruch.
Inzwischen ist die 1961 geborene Künstlerin mit ihren Malerei-Interventionen nahezu überall aufgetreten, und ihrer Kunst wird neben Bezügen zu Graffiti oder Amerikanischer Farbfeldmalerei auch eine Nähe zur Land Art attestiert. Grosse selbst versteht ihre prozesshafte und performative, von steter Aufmerksamkeit und Agilität des Körpers geleitete Malerei als Erforschung der Farbe und deren unmittelbarer Wirkung. «Für mich ist Farbe so wichtig, weil sie sofort eine Resonanz erzeugt. Bevor du es bewusst merkst, reagierst du instinktiv darauf», so die Künstlerin. Sie malt mit ungemischten Industriefarben aus einer kompressorbetriebenen Sprühpistole, womit normalerweise Küchenabdeckungen lackiert werden. Das langarmige Gerät hält sie dabei auf die nötige Distanz zum Malgrund und lässt sie umgekehrt ins Farbgeschehen eintauchen.
Ungleich weniger Beachtung fanden bislang die Leinwandarbeiten von Katharina Grosse, weshalb das Mildred Lane Kemper Art Museum in St. Louis mit den Kunstmuseen Bern und Bonn für eine Ausstellungstour dieser Bilder sowie eine umfassende Publikation zusammenspannte. Die Schau mit Werken der 1980er-Jahre bis in die Gegenwart wurde vergangenes Jahr bereits in St. Louis gezeigt. Nun hat sie Kathleen Bühler für Bern adaptiert mit 43 Bildern, in zwei Themenblöcke gruppiert: ‹Wiederholungen, Revisionen, Neufindungen› sowie ‹Brüche und Risse›.
Grosse arbeitet stets parallel an den Bildern, teilweise zur Vor- und Nachbereitung ihrer In-situ-Projekte und manchmal an bis zu vierzig Leinwänden gleichzeitig. Nebeneinander, ohne Keilrahmen im Atelier ausgelegt oder aufgehängt, malt sie über die Ränder der einzelnen Leinwände hinweg. Die meisten Bilder zeigen daher Ausschnitte eines grossflächigeren Malprozesses. Neben der Sprühpistole greift die Künstlerin auch immer wieder zu Pinsel oder Malspachtel. Besonders die früheren Arbeiten zeichnen sich durch breite, zügige und gleichzeitig präzise Pinselspuren aus. Die übereinander- gelegten Flächen verweben sich optisch ineinander und erzeugen auf diese Weise den eigentlichen Farbton. So erscheint etwa das Zitronengelb über dem Dunkelblau auf einer Arbeit von 1993 als schimmerndes Grün.

Auf der Leinwand, in den Bildern
In ‹Wiederholungen, Revisionen, Neufindungen› wird das stete Wiederaufgreifen und gleichzeitige Revidieren wie Erneuern der Malverfahren nachvollziehbar. In ‹Brüche und Risse› zeigt sich deutlich, wie die Künstlerin mit den Konventionen der Malerei bricht. Sie verwendet Schablonen oder Erde, um beim Malen bestimmte Partien ab- und wieder aufzudecken. Schichtweise aufgetragene Farbflecken und -flächen, schlingernde Linien und geschwungene Bänder, satte Sprayfarbe und Sprühnebel oder triefende Farbspuren erzeugen ungeahnte Bildwelten. Einige Werke wie jene von 2013 in der Ausstellung erinnern an Collagen oder Décollagen – an die «Dessous d’affiches», die Plakatabrisse der Nouveaux Réalistes Ende der 1950er-Jahre. In jüngerer Zeit appliziert Grosse gar narrativ behaftete Elemente wie Holzlatten oder Geäst auf ihre Bilder: Das Natürliche mutiert zum Künstlichen und weiter zur objekthaften Kunst. Oder sie zerschneidet die Leinwände, nicht aber um wie Lucio Fontanas geschlitzte Bilder auf eine Tiefenwirkung im Dunkel dahinter hinzudeuten, sondern um den Blick auf die weisse Wand freizulegen, mit der die Gemälde eine Verbindung eingehen oder sich objekthaft davon absetzen.
Als Betrachtende sind wir bei den Werken von Katharina Grosse ständig «im Bild». Wir bewegen uns der Malerin gleich in einem performativen Akt, schauen uns in den Bildern um, geraten ins Staunen angesichts der stupenden Farbigkeit. Wobei es keinen eindeutigen Vorder- und Hintergrund gibt, sondern die Farbwirkung hauptsächlich aus hellen über dunkeln Partien sowie aus der Transparenz der Schichten erzeugt wird. Insofern eröffnen ihre Bilder Vorstellungswelten, die auch Paradoxes verhandeln. Grosse umschreibt ihre Werke selbst als Modelle: «Meine Bilder», sagt sie, «erproben die Eigenschaften der Realität und verdichten sie dramatisch. Ich schaffe Prototypen der Imagination, die die Betrachter:innen für sich nutzen und in andere Bereiche übertragen können.» So gesehen ist ihrer Kunst ein gesellschaftlicher und politischer Impetus inhärent: Es scheinen in ihr uneindeutige Zonen des Konflikts und Widerspruchs auf, die zur ergebnisoffenen Begegnung und Auseinandersetzung auffordern.

Die Zitate von Katharina Grosse stammen aus dem Dossier für Medienschaffende zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern vom 21.2.2023.

Marc Munter ist Kunsthistoriker, lebt und arbeitet in Bern. m_munter@hotmail.com
 

Bis 
25.06.2023

Katharina Grosse (*1961, Freiburg im Breisgau) lebt in Berlin und Neuseeland
1982–1990 Studium an den Kunstakademien Münster und Düsseldorf
2000–2009 Professur an der Weissensee Kunsthochschule Berlin
2010–2018 Professur an der Kunstakademie Düsseldorf
Seit 2010 Mitglied der Akademie der Künste Berlin

Einzelausstellungen (Auswahl)
2022–2024 ‹Studio Paintings 1988–2022›, Mildred Lane Kemper Art Museum, St. Louis; Kunstmuseum Bern; Kunstmuseum Bonn
2021 ‹Chill Seeping from the Walls Gets between Us›, Helsinki Art Museum
2020 ‹It Wasn’t Us›, Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin
2015 ‹yes no why later›, Garage – Museum of Contemporary Art, Moskau
2005 ‹Constructions à cru›, Palais de Tokyo, Paris
1998 ‹Katharina Grosse›, Projektraum, Kunsthalle Bern

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2017 ‹Asphalt Air and Hair›, ARoS Triennale, Aarhus
2015 Arsenale, 56. Biennale Venedig
2010 ‹Next Generation – Einblicke in junge Ostschweizer Privatsammlungen›, Kunstmuseum St. Gallen
2006/07 Taipeh Fine Arts Museum, Taipeh Biennale

Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Katharina Grosse — Studio Paintings, 1988–2022 03.03.202325.06.2023 Ausstellung Bern
Schweiz
CH
Künstler/innen
Katharina Grosse
Autor/innen
Marc Munter

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