Yves Netzhammer im Haus zum Kiel

Yves Netzhammer · Zeichnung aus der Ausstellungsinstallation «Gefährdete Liebschaften» im Haus zum Kiel Zürich, 2006, © Yves Netzhammer

Yves Netzhammer · Zeichnung aus der Ausstellungsinstallation «Gefährdete Liebschaften» im Haus zum Kiel Zürich, 2006, © Yves Netzhammer

Besprechung

Yves Netzhammers Computerzeichnungen treffen auf illustrierte Liebesgedichte aus Indien. So unvergleichbar diese Lebenswelten auch sind, lassen sie gleichzeitig erkennen, dass die Liebe trotz sich ändernder Zeiten und Welten denselben anthropologischen Konstanten zu obligen scheint.

Yves Netzhammer im Haus zum Kiel

Der hinterste Raum des Hauses zum Kiel ist derzeit mit dem Mobiliar eines Boudoirs eingerichtet: einer Kommode, einem ovalen Kippspiegel, einer zerbrochenen Vase und einer umgekippten Schublade. Als würde es schon länger nicht mehr bewohnt, sind die symbolträchtigen Möbelstücke mit Stoff umspannt. Auf diese weissen Überzüge hat der Schaffhauser Medienkünstler Yves Netzhammer Computerzeichnungen projiziert. So sieht man gesichtslose, oft kahlköpfige Menschen - die für Netzhammer typischen, künstlich generierten Figuren - in enger Umarmung. Ihre Arme gehen in Schwanenhälse über und im nächsten Moment wachsen Baumäste aus ihren Körpern. Dann wird der virtuelle Kamerablick von einem mit einem Spinnennetz überwachsenen Bett gewissermassen zoomartig auf sich ineinander verschlungene Zungen gelenkt.

Yves Netzhammer, der oft und gerne im Museum Rietberg weilt, liess sich dafür von wunderbar illustrierten Liebesgedichten aus dem Indien des frühen 19. Jahrhunderts inspirieren. Ein unbekannter «Meister von Sharanakula» hatte sie nach Gedichten aus dem 8. Jahrhundert gezeichnet. Die Verse wurden von einem Dichter namens Amaru zu einer Anthologie von hundert Gedichten aus vierzeiligen Sanskritversen zusammengestellt und erlangten so weltweite Berühmtheit. Ein nahezu komplettes Palmblattmanuskript ist im Besitz des Museums Rietberg. In der Ausstellung liegen die Gedichte in einer deutschen Fassung (von 1829) von Friedrich Rückert vor, welche aus heutiger Sicht sehr gestelzt anmutet. Es hat die indischen Maler immer wieder gereizt, diese Gedichte zu illustrieren, doch keiner erreichte einen solch exquisiten Charme, einen solch intensiven Ausdruck üppigster Erotik wie eben der erwähnte Meister, der im Tempel von Sharanakula geschrieben und gezeichnet haben soll. Er gravierte die knapp vier Zentimeter hohen Zeichnungen mit einem eisernen Nadelstift in die Palmblätter. Analog zum Querformat sind die Figuren oft gestaucht und die Architekturelemente breit gezogen. Doch unvergleichlich, wie der Künstler die ganze Palette erotischen Spiels und Widerstreits ausreizte, verbotene Liebesspiele in ihrer knisternden Begehrlichkeit aufleben liess und Verlassenheit und Verrat in fast schmerzhafter Intensität zu veranschaulichen wusste. Demgegenüber ist bei Netzhammers Projektionen von solch ausschweifender Erotik nichts zu spüren. Allzu unterkühlt kommen die mit knappen Strichen evozierten Bildfolgen daher. Dass hier nicht das pralle Leben gefeiert wird, sondern die Vergänglichkeit der sich in ständiger Metamorphose befindenden Sequenzen vorherrscht, ist ein Ausdruck unserer äusserst fragilen Lebensbedingungen, in denen Liebespartner allzeit verfügbar sein sollen, aber auch aus nichtigen Gründen wieder verlassen werden. Auch wenn Netzhammers Liebende vielmehr in ewigem Werden kreisen, scheint im Vergleich der beiden Werke gleichzeitig auf, dass die Liebe letztlich trotz sich ändernder Zeiten und unterschiedlicher Kulturen denselben «dem Menschen eigenen» Konstanten zu obliegen scheint. Katalog «Amorous Delight». The Amarushataka Palm Leaf Manuscript.

Bis 
04.06.2006
Autor/innen
Dominique von Burg
Künstler/innen
Yves Netzhammer

Werbung