Jérôme Leuba - Sag mir, wo die Blumen sind
Wie unsichtbare Inszenierungen bettet Jérôme Leuba seine ‹battlefields› in die reale Welt ein und lässt diese sich darin spiegeln. Indem er gewisse Elemente aus ihrer Umgebung herausschält, sie auf ihre Essenz reduziert und nachher wieder in ihre «natürliche» Umgebung zurückschleust, weist er gekonnt auf die Komplexität und Verstrickung von Gesellschaftsstrukturen hin. Themenbereiche wie das Abwesende, Blickdynamik und Erwartungen des Publikums eröffnen Schlachtfelder von Fragen. Leuba weist auf die Risse in der glatten Oberfläche unseres Alltags hin.
Jérôme Leuba - Sag mir, wo die Blumen sind
Seit 2004 nennt der Genfer Künstler seine Werke ‹battlefield›. Er nummeriert sie und ergänzt sie teilweise mit Untertiteln, die als Indiz für den Inhalt gelesen werden können, obwohl sie gleichzeitig verklärend wirken. Fotografien, Performances, Videos oder Installationen - Leuba konzipiert seine Werke als spezifische Komposition. Erwähnt seien hier insbesondere seine Performancearbeiten, deren Dokumentation nicht als Nebenprodukte gelten, sondern einen eigenen Status aufweisen, der einen anderen Zugang zum Werk ermöglicht.
(Augen-)Blick
Leuba hantiert geschickt und sehr gezielt mit einem Repertoire an gesammelten Blickkonstellationen, das wie eine Art Angelpunkt funktioniert und auf das er immer wieder zurückgreift. Er lenkt unseren Blick auf vermeintliche Nebenschauplätze, in denen sich Bedeutungsgräben öffnen. So bildet ‹battlefield #64› die harmlose, leere Fassung eines Fingerrings ab - der abwesende Hauptakteur, vielleicht ein Diamant, wird von den individuellen Vorstellungen der Betrachtenden ergänzt.
Bei den Performances setzt Leuba (Augen-)Blicke als zentrales Element ein, Blicke, die zwischen Performenden und Betrachtenden hin und her wandern. Eine Art Konfrontation entstand bei ‹battlefield #95/gaze›. Performerinnen und Performer sollten auf der Strasse Blickkontakt mit den Passant/innen aufnehmen und dabei länger oder kürzer ausharren.
Beim ‹battlefield #111/sightseeing› wurde der Blickkontakt zwischen einem von der Strasse aus aufs hochgelegene Fenster starrenden Performer und dem vom Kunstraum aus hinabschauenden Publikum auf die Distanz hergestellt. Dabei wurden die Ausstellungsbesucher/innen mit diskreten Hinweisen zur Arbeit hingeführt: Mit einem weissen Sockel im Raum und dem Werktitel auf dem Saalblatt. Sobald jemand den Sockel betrat und nach draussen schaute, entstand durch den Blickkontakt eine Art persönlich-platonische Distanzbeziehung, die von eigenen Projektionen und Erwartungen aufgeladen war und ganz unterschiedlich lange dauerte. ‹Battlefield #111/sightseeing› ist exemplarisch dafür, wie der Künstler das Publikum Teil einer Living Sculpture werden lässt. Dem oder der Betrachtenden kommt durch den individuell gestalteten Blickaustausch eine gewisse Macht zu, doch zugleich ist er oder sie in der «mise en scène» gefangen. Und die Frage, wer wen betrachtet, bleibt in diesem flüchtigen Moment ungeklärt.
(In-)Filtrieren
In welche Richtung man schaut, wird oft bestimmt vom Verhalten einer Gruppe, der man nicht selten gedankenlos folgt. So beispielsweise bei der Menschenmenge vor der ‹Mona Lisa› von Leonardo da Vinci im Louvre, einem institutionell aufgebauschten Grossereignis, mit dem Leuba im Video ‹battlefield #71/mona lisa› abrechnet. Das Motiv des gleichgerichteten Blicks nimmt er in ‹battlefield #37/focus› wieder auf: Performer/innen scharen sich an einem Stand an der Kölner Kunstmesse um eine Leere. Zufällige Besucher/innen gesellen sich dazu, fügen sich der Dynamik der gemeinsamen Aufmerksamkeit, und merken, dass es nichts zu sehen gibt. Der Augenblick des Entdeckens des Abwesenden kann eine Enttäuschung und/oder Denkanstoss sein.
(Er-)Warten
Als analytischer Beobachter der Gesellschaft und ihrer Repräsentationsformen - im öffentlichen Raum, in den Medien oder in alltäglichen Erfahrungen - sammelt Leuba Zeichen, Gesten und Situationen in einer Bilddatenbank. Einzelne Elemente isoliert und verarbeitet er dann und speist sie wieder in den Alltag ein. So geschehen beim Einschleusen eines Blumenverkäufers an den Swiss Art Awards 2012 mit dem Werk ‹battlefield #84/american carnation›. Das Schlachtfeld eröffnet sich in der direkten Begegnung mit dem Performer, wir werden mit den eigenen Vorurteilen - bspw. gegenüber Blumenverkäufern - konfrontiert. Das Spektrum der Reaktionen reichte von Sich-Wundern, Sich-Nerven bis zum Rausschmiss (auf einen anonymen Hinweis wurde der Performer von der Polizei während der Vernissage abgeführt). Auf der Ebene der Fotografie eröffnet die Performance durch den politisch aufgeladenen Untertitel ein weiteres Assoziationsfeld. Die Nelkenart «American carnation» wird jeweils zum Valentinstag oder Muttertag aus Gaza trotz des Embargos importiert.
Der Wartezustand, in den der Künstler sein Publikum versetzt, ist äusserst aktiv und produktiv. Wenn die Ortsangabe einer Performance sehr vage bleibt, sind die Betrachtenden dazu aufgefordert, sich zu bewegen. Sie begeben sich auf der Suche nach dem Werk mit einem geschärften Blick in den öffentlichen Raum. Der Weg ist fester Bestandteil des Ziels und erlaubt uns, die gewohnten Umgebungen wiederzuentdecken. Bei ‹battlefield #120/living sculpture› läuft eine Performerin mit einem Migros-Einkaufswagen auf der zentralen Genfer Shoppingmeile hin und her. Beim genauen Betrachten des Inhalts ihres Wagens merkt man, dass der Status der Performerin zwischen einer Shopping Victim und einer Obdachlosen oszilliert. Dem Publikum wurde nur der ungefähre Ort angegeben, und man musste sich durch den samstäglichen Einkaufsrausch schlängeln.
In der Installation ‹battlefield # 82› muss man sich nicht durch eine Menge kämpfen, ist jedoch mit einer Leere konfrontiert. Im Zentrum des Ausstellungsraums hängt ein schwarzer, bodenlanger Vorhang, der ein quadratisches Volumen abschirmt. Der Vorhang ist nicht transparent, hat keine Öffnung, zudem fällt der Stoff nah vor den realen Wänden herab, sodass nur ein schmaler Gang frei bleibt. Man kann nur erahnen, was sich dahinter befindet. Die Mutigen werden eine Leere entdecken, die anderen warten darauf, dass vielleicht etwas passiert, auf jeden Fall muss man eine Entscheidung treffen. Jérôme zielt so auf Momente des aktiven (Er-)Wartens ab: Wenn etwas nicht vorhanden ist, wird es reflexartig vervollständigt. Genau für solche Automatismen, deren Auslöser und Verwurzelungen interessiert sich der Künstler. Gezielt schafft er entsprechende Situationen, denn - so Leuba: Das Warten ist der Moment, aus dem individuelle und kollektiv gespeicherte Bilder hervorsprudeln, andererseits Dinge entdeckt werden, die man sonst leicht übersieht.
Rätseln
Leuba hofft nicht auf grosse Resultate, indem er kleine Wahrnehmungsverschiebungen arrangiert. Immer wieder betont er seinen Status als Künstler und nicht den eines Aktivisten. Das heisst natürlich nicht, dass er einfach seine Gesten durchexerziert, seine Themen sind mit Bedacht gewählt. Er öffnet ein weites Feld, in dem Pluralität, Denksport und Diskussionen gefordert sind. Beim Betrachten seiner Werke ist kein bequemes Zurücklehnen oder einfaches Hinschauen angesagt. Man fühlt sich immer ein wenig unwohl oder ist am Rätseln. Denn die Stärke seiner Kunst liegt in der Vagheit ihrer Allusionen.
Die erwähnten Kommentare stammen aus Gesprächen mit dem Künstler im April 2017.
Madeleine Amsler ist Kuratorin und lebt und arbeitet in Genf und Zürich. madeleine.amsler@eofa.ch
Jérôme Leuba (*1970, Genf) lebt in Genf
Ausstellungen
2017 ‹Notes on the beginning of the 20th Century, National Center For Contemporary Art, Kaliningrad
2016 ‹Unsettling Green›, Marta Museum, Herford; ‹Twisting C(r)ash›, Romantso, Athens
2015 ‹Test Run - performance in public›, Modern Art Oxford, Oxford
2014 ‹New Conceptual Practices›, Profile Fondation, Warsaw
2013 ‹Falsefakes›, Centre de la photographie, Genève
2012 ‹Status-24 documents›, Fotomuseum Winterthur
2011 ‹battlefields›, Casal Solleric, Palma de Mallorca
2010 ‹battlefield #82›, Centre d'art de Neuchâtel
2009 ‹Utopics›, 11e Exposition Suisse de sculpture, Biel/Bienne
2008 ‹Shifting identities›, Kunsthaus Museum, Zürich
2007 ‹spectre›, MAMCO, Genève
‹Territoire#2›, Openspace, Nancy, 10.7.-10.9. www.opn-space.com
Triennal d'art contemporain, Valais/Wallis 2017, 26.8.-22.10.
Jérôme Leuba, Galerie annex14, Zürich, 30.11.-20.1.2018 www.annex14.com
Madeleine Amsler |