Editorial — Nachhall aus dem Paradies
Editorial — Nachhall aus dem Paradies
Aus voller Kehle schmettert die Drossel ihr Lied. Und als wollte die Natur die Schallwellen nachzeichnen, schwingt sich ein gebogenes Ästchen wie eine Lyra in die Höhe. Was den Vogel und den dürren Zweig verbindet, bleibt ein Rätsel, ob er auf oder hinter ihm sitzt, ist nicht zu erkennen – und spielt auch keine Rolle. Als Protagonistin agiert hier eine einsame Rotrücken-Spottdrossel mitten in einer weitläufigen texanischen Steppenlandschaft, die im Hintergrund nur als Ahnung zu erkennen ist. Die sorgfältig komponierte Szene in verwischten Erd-, Grün- und Blautönen wirkt wie gemalt. Das ist kein Zufall. Jean-Luc Mylayne lässt sich jeweils von einer klaren Vorstellung leiten, wenn er zusammen mit seiner Frau Mylène bestimmten Vögeln nachreist, mit diesen über Monate ein Vertrauensverhältnis aufbaut, bis sich einer aus dem Schwarm genau auf dem ihm zugedachten Ort niederlässt. Seit er als Vierjähriger auf dem Hof seiner Grossmutter an einem Flüsschen sass, während ein Vogel neugierig um ihn herumhüpfte, hat sich Jean-Luc Mylayne diesen zarten Tieren verschrieben. Sein zehn Jahre älterer Halbbruder hat in ihm das Interesse an Malerei und Mathematik geweckt. Doch Malerei erwies sich für Mylayne als zu statisch, um die Begegnungen mit den flüchtigen, scheuen Wesen festzuhalten. Dass er dann als Jugendlicher nicht eine Film-, sondern eine Fotokamera erhielt, ist aus heutiger Sicht ein Gewinn. Denn sonst hätte er wohl kaum über Jahrzehnte so geduldig mit Kameragehäusen, Balgen, Objektiven und Linsen experimentiert, bis er den Zauber der immer wieder einzigartigen Begegnung Auge in Auge mit einem Wildvogel in ein ebenso einzigartiges multifokales Bild bannen konnte. Jede Aufnahme erzählt eine Geschichte, die auf Achtsamkeit und Vertrauen beruht, und liest sich zugleich als Appell, diesen gefährdeten Wesen Sorge zu tragen.
Claudia Jolles |
Jean-Luc Mylayne |