Lutz & Guggisberg — Sezieren, schichten, katalysieren

Erpelbert mit Gabe, 2020, diverse Materialien, 55 x 40 x 40 cm © ProLitteris

Erpelbert mit Gabe, 2020, diverse Materialien, 55 x 40 x 40 cm © ProLitteris

Maisopfer, 2018, Öl und Acryl auf C-Print, 100 x 150 cm © ProLitteris

Maisopfer, 2018, Öl und Acryl auf C-Print, 100 x 150 cm © ProLitteris

Wachsbau, 2020, diverse Materialien, 45 x 33 x 33 cm © ProLitteris

Wachsbau, 2020, diverse Materialien, 45 x 33 x 33 cm © ProLitteris

Volle helle Halle, 2020, diverse Materialien, Ausstellungsansicht Kunstdepot Altdorf © ProLitteris 

Volle helle Halle, 2020, diverse Materialien, Ausstellungsansicht Kunstdepot Altdorf © ProLitteris 

Giardini di domani, 2018, diverse Materialien, Ausstellungsansicht Collezione Maramotti, Reggio Emilia © ProLitteris. Foto: Roberto Marossi

Giardini di domani, 2018, diverse Materialien, Ausstellungsansicht Collezione Maramotti, Reggio Emilia © ProLitteris. Foto: Roberto Marossi

Andres Lutz

Andres Lutz

Anders Guggisberg

Anders Guggisberg

Globus, 2008, Holz, 88 x 65 x 65 cm © ProLitteris. Foto: Stefan Altenburger

Globus, 2008, Holz, 88 x 65 x 65 cm © ProLitteris. Foto: Stefan Altenburger

Family of Sculptures, 2020, Holz, 19 x 15 x 11 cm © ProLitteris. Foto: Carlo Hafen

Family of Sculptures, 2020, Holz, 19 x 15 x 11 cm © ProLitteris. Foto: Carlo Hafen

Fokus

Seit über zwanzig Jahren arbeiten Andres Lutz und Anders ­Guggisberg zusammen. Sie schnitzen Holz, giessen Beton, verwenden gefundene Objekte oder Elemente aus vergangenen Arbeiten, die sie neu arrangieren. Sie schaffen Skulpturen, raumgreifende Installationen, ergänzen sie mit Malereien, Fotografien und Videos, mit Referenzen aus Kunst und Kultur. Schicht für Schicht entsteht ein immer dichterer Kosmos, der katalysiert, Gedankenspiele in Gang setzt, hineinreisst, um einen am Ende wieder auszuspucken, aber nie ganz loszulassen. 

Lutz & Guggisberg — Sezieren, schichten, katalysieren

Treppe rauf, Treppe runter, links um die Ecke, und schon stehe ich im geräumigen Atelier, wo sich mir demnächst ein Mikrokosmos offenbaren wird. «Sali, komm rein. Ich bin Lutz, das ist Guggi.» Ich werde zwischen langen Arbeitstischen und aufgetürmtem Material hindurchgeführt, vorbei an Gips- und Betonskulpturen mit skurrilen Namen: ‹Dickichtbert›, ‹Erpelbert mit Gabe›, ‹Wachsbau›. Bevor ich überlegen kann, was wie nochmal hiess oder dass der ‹Erpelbert› tatsächlich wie eine Ente aussieht, einfach etwas gruseliger und anthropomorpher, oder dass mich der ‹Dickichtbert› an einen Wald aus Schrauben, Zweigen und Dübel erinnert, ist Andres Lutz schon bei der nächsten Skulptur angelangt – und ich beim nächsten Gedankenspiel. ‹Ofen, Geist und Meister›, ‹Oh my God I’m full of Plans!› Ich muss schmunzeln, bin fasziniert, und etwas überfordert; versuche langsam eine Ordnung zu schaffen, an der ich mich festhalten kann, verbinde Elemente miteinander. Vielleicht gehören sie zusammen. Vielleicht nicht. Vielleicht spielt es keine Rolle, denn im Kosmos von Lutz & Guggisberg herrschen eigene Gesetze.

Dem Zufall überlassen
Lutz & Guggisberg arbeiten mit Materialien wie Gips, Holz und Ton, mit gefundenen Objekten aus Brockenhäusern und Elementen aus vergangenen Arbeiten, die sie jeweils neu arrangieren. «Wenn man so lange zusammenarbeitet wie wir, greifen die Werke immer mehr ineinander», sagt Anders Guggisberg, überlegt. «24 Jahre sind es nun schon.» «Twenty-four years», wiederholt aus dem Hintergrund Andres Lutz, der mittlerweile an einem der Tische Platz genommen hat und grazile Holzzweige zu kleinen Leitern zusammenfügt. Er schnitzt, leimt, hört aufmerksam zu. 24 Jahre. Das war 1996, als sich Lutz & Guggisberg nach dem Studium in einer Zwischennutzung an der Zentralstrasse in Zürich kennenlernten. Im selben Jahr fand ihre erste Ausstellung im Message Salon von Esther Eppstein statt, der Treff- und Ausgangspunkt der unabhängigen Kunstszene war. Sie begannen mit raumgreifenden Installationen, später folgten Skulpturen, Malereien, Fotografien und ­Videos. Ähnlich, wie ihre Werke ineinandergreifen, vermischen sich auch die Genres: Lutz & Guggisberg behandeln den flachen Bildträger als dreidimensionalen Raum, ergänzen ihre Installationen mit Videoprojektionen. So etwa in ‹Galaxy Evolution Melody› aus dem Jahr 2014, die im September Teil einer Gruppenausstellung im Kunst Museum Winterthur ist. Stäbe werden ins Bild geschoben, Haarspangen hineingeworfen, Murmeln rollen umher. Dabei erinnert das Video an eine abstrakte Malerei von László ­Moholy-Nagy oder Wassily Kandinsky, gleichzeitig an die Bildsprache von Fischli/Weiss: Die alltäglichen Gegenstände, die scheinbar zufällig arrangiert werden, wobei jedes Geräusch gut hörbar ist. Das Schleifen, das Klappern, das Rollen. «Vieles entsteht durch Zufall», sagt Andres Lutz. «Wir möchten nicht alles bis ins Detail durchdenken, immer ein Konzept haben.» «Nei, jaa nöd!», schliesst sich Anders Guggisberg an. Vieles entstehe auch aus dem Nebenprodukt einer Arbeit. So war es beispielsweise bei ihrer ‹Bibliothek›: eine Serie von Holzbüchern, die sie über zwanzig Jahre fortführten. Ursprünglich haben sie ein Buch als Requisit für eine Fotografie gebraucht. Um etwas Witz hineinzubringen, nahmen sie ein rechteckiges Stück Holz und versahen es mit einem selbst gestalteten Buchumschlag. Und plötzlich wurde das Neben- zum Hauptprodukt, entwickelte ein Eigenleben. So entstanden rund 450 Holzbücher, die an bestehende Literatur anlehnen, sie parodieren. Darunter etwa Alice Vollenweiders ‹Kochen mit alten Meeresfrüchten› vom Biogemüs Verlag, oder ‹Mengenlehre› mit unzähligen bunten Eimern auf dem Cover. «Methodik und Einführung in die Welt der modernen Mengenlehre», verrät der Klappentext. «Drüüeggli, Viereggli, Chraisli.» Nun werden die Holzbücher in einer Publikation vereint, die Ende Jahr in der Edizione Periferia veröffentlicht wird. Dabei mutet der Titel ‹Vergleichende Komparatistik› – wie könnte es anders sein –, nicht weniger absurd an. «Es ist ein Stöberbuch», sagt Andres Lutz. «Ein Nachschlagewerk», fügt Anders Guggisberg an.

Fremd und vertraut
Sie bringen Unordnung in die Ordnung – stets mit einem Augenzwinkern –, greifen bestehende Inhalte auf, öffnen etwas Abgeschlossenes und damit neue Denkräume. Dies zeigt sich auch in ihrer nächsten Einzelausstellung, die ebenfalls im Kunst Museum Winterthur zu sehen sein wird. Darin reagieren Lutz & Guggisberg auf die Künstlerinnen und Künstler der Sammlung: auf Meret Oppenheim, Hans Arp oder Alexander Calder. Einige ihrer Objekte stehen auf einem monumentalen Sockel, andere wiederum – und hier taucht wieder der ‹Dickichtbert› auf –, in einer orangefarbenen Vitrine, die nicht zur Schau stellt, sondern verschleiert. Die Frage nach der Präsentation im musealen Raum stellte sich bereits 2014 in der Gruppenausstellung ‹Gastspiel› im Museum Rietberg, als die historische Sammlung mit zeitgenössischen Positionen ergänzt wurde. Dort zeigten Lutz & Guggisberg unter anderem die Skulptur ‹Globus›, die aus exotisch anmutenden Holzfiguren wie Elefanten, Nashörnern und Buddhas bestand, die aber wider Erwarten nicht aus fernen Ländern stammten, sondern aus dem Brockenhaus. Dadurch stellt sich an einem Ort wie dem Museum Rietberg einerseits die Frage nach Provenienz und Appropria­tion, andererseits nach der Rezeption: Ist das Fremde tatsächlich so fremd, wie es uns zunächst erscheint? Oder können wir dem Fremden doch etwas Vertrautes abgewinnen? Denn würde man genau hinschauen, entdeckte man im ‹Globus› auch christlich konnotierte Objekte: einen Fisch, einen Esel, einen Weihnachtsstern.

Tiefgründig und trivial
Was Geschichte, Kunst und Kultur hervorgebracht haben, türmt sich vor unseren Augen auf. Auch Lutz & Guggisberg stehen vor dieser überwältigenden Dichte, sezieren sie, um sie anschliessend wieder aufeinanderzuschichten. Dies wird in der permanenten Ausstellung ‹Volle helle Halle› im ehemaligen Getreidelager in Altdorf veranschaulicht, wo sie in einer 600 Quadratmeter grossen Halle dreissig Skulpturen aufgebaut haben, die einmal mehr ineinandergreifen. Das Gebäude, das 2017 vom Sammler Christoph Hürlimann erworben wurde und Ende Juni eröffnete, soll nun Ort für Ateliers und Ausstellungsräume bieten. «Jede Installation gleicht einer Station unseres Schaffens, an der wir angehalten, etwas erarbeitet haben, um dann weiterzuziehen, ohne das Vergangene dabei ganz zurückzulassen», sagt Andres Lutz, während er den Blick durch die Halle schweifen lässt, durch den ­Kosmos, der das Tiefgründige, aber auch das Triviale in sich birgt. Dies vergegenwärtigt etwa die Installation ‹Origamiameisentunnel›, ein langer, schwarzer Tunnel, an dessen einem Ende kleine, schwarze Origami zu sehen sind, am anderen ein Video, eine Art Origami-Tutorial. Die Hände falten das grell leuchtende Papier, als ob sie etwas Göttliches erschaffen würden. Allerdings wird das Papier planlos gefaltet, erschaffen wird nicht etwa ein künstlerisches Objekt, sondern – so Anders Guggisberg – ein «Tubel-­Origami». «Die Arbeit erinnert mich an die Installation von Bruce Nauman, eine Spirale aus rot-blauem Neonlicht, die verheissungsvoll ankündigt: ‹The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths›», sagt Anders Guggisberg. «Was ist diese unergründliche Wahrheit, nach der wir immer suchen? Ja – worum geht’s eigentlich im Leben?» Kurz in existenziellen Gedanken versunken, steigt er zugleich wieder auf, hin zum humorvoll Trivialen. «Siehst du die Finger, die ins Bild hineinragen?», fragt er und zeigt auf das Video. «Sehen sie nicht aus wie Zähne, die kauen, um am Ende ein Origami nach dem anderen auszuspucken?»

Giulia Bernardi ist freie Autorin, lebt in Zürich. giulia.bernardi@outlook.com

→ ‹Lutz & Guggisberg›, Kunst Museum Winterthur, 22.8.–10.1. ↗ www.kmw.ch
→ ‹Bewegte Bilder›, Kunst Museum Winterthur, 12.9.–15.11. ↗ www.kmw.ch
→ ‹Made in Witzerland›, Forum Schweizer Geschichte Schwyz, bis 24.1. ↗ www.forumschwyz.ch
→ ‹Volle helle Halle›, Kunstdepot Altdorf, Eyschachen 8, Besuch auf Voranmeldung: +41 (0)41 728 09 09

Bis 
10.01.2021

Lutz & Guggisberg leben in Zürich
Andres Lutz (*1968, Wettingen), Studium an der F + F Schule für Kunst und Design, Zürich
Anders Guggisberg (*1966, Biel), Studium an der Schule für Gestaltung, Zürich
Seit 1996 arbeiten sie als Künstlerduo

Einzelausstellungen (Auswahl)
2018 ‹Giardini di domani›, Collezione Maramotti, Reggio Emilia
2014 ‹Lutz & Guggisberg›, Museum im Bellpark, Kriens
2013 ‹The Forest›, Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean, Luxembourg
2010 ‹The Studio in Heaven›, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam
2008 ‹Eindrücke aus dem Landesinnern›, Museum Folkwang, Essen; ‹Leben im Riff›, Aargauer Kunsthaus, Aarau
2002 ‹The Great Unknown›, Kunstmuseum St. Gallen

Gruppenausstellungen (Auswahl):
2019 ‹Umzug der Tiere und Möbel›, Manif d’art – La biennale de Québec
2016 ‹dall’altra parte›, Strohhalle Göschenen
2014 ‹Gastspiel› Museum Rietberg, Zürich
2010 ‹Negotiations›, Today Art Museum, Beijing
2001 ‹Sonsbeek 9›, Arnheim

Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Bewegte Bilder 12.09.202015.11.2020 Ausstellung Winterthur
Schweiz
CH
Lutz & Guggisberg. Ofen, Geist und Meister 22.08.202010.01.2021 Ausstellung Winterthur
Schweiz
CH
Lutz & Guggisberg 26.06.202031.07.2020 Ausstellung Altdorf
Schweiz
CH
Made in Witzerland - worüber die Schweiz lacht 09.06.202024.01.2021 Ausstellung Schwyz
Schweiz
CH
Autor/innen
Giulia Bernardi
Künstler/innen
Lutz/Guggisberg

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Die Ausstellung «Made in Witzerland» im Forum Schweizer Geschichte Schwyz erkundet den humoristischen Kern unseres Landes: von der Politsatire bis zum unanständigen Witz. Die Ausstellung inszeniert den Schweizer Humor multimedial und in vielen Facetten.

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