Reto Müller — Die Welt als temporärer Aggregatzustand
Anlässlich des Manor Kunstpreises Schaffhausen bespielt der Künstler Reto Müller den Wechselsaal und das Kabinett des Museum zu Allerheiligen. An der Grenze zwischen freier Gestaltung und normierter Formgebung fokussiert er auf Prozesse des Um- und Abformens. Seine skulpturalen Arbeiten setzt er aus diversen Gesteinen und Metallen als ‹Potentielle Normalien› in ein assoziatives Bedeutungsgeflecht. Mit feinem Gespür für Materialien und Raum gelingt es ihm, eine Resonanz zwischen Gegenwart und Geschichte zu erzeugen.
Reto Müller — Die Welt als temporärer Aggregatzustand
Wie ein Vorbote zur Ausstellung hängt im Treppenhaus des Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen die Arbeit ‹Pozzo di San Patrizio›, 2023. Ein hochformatiges Glas ist mit einer Zinnfolie so beschichtet, dass sich darin die Besuchenden ebenso wie Bilder und Raum spiegeln, ohne dass genaue Konturen erkennbar wären. Reto Müller (*1984) nutzt dafür eine alte Technik aus der Schriftenmalerei, bei der die Zinnfolie als Schablone diente. In seinem Werk hat er sie nun zu einer Art Hinterglasmalerei umfunktioniert. Die monochrome Fläche mit feinen Arbeitsspuren suggeriert Bildhaftigkeit. Als Spiegel verleitet das Exponat ausserdem zu einer metaphorischen Lesart: Es lässt Assoziationen zu den anderen Objekten und Werken des Museums zu, das mit Naturgeschichte, Archäologie sowie Kunst vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart eine grosse thematische Bandbreite unter einem Dach versammelt. Vielleicht spielt der Künstler auch darauf an, wenn er seine Ausstellung ‹Le nombril du monde› (Der Nabel der Welt) betitelt.
Künstler und Ausstellungsmacher
Der Blick durch die grossen Fenster des Treppenhauses fällt auf den Industriebau, in dem von 1982 bis 2014 die Hallen für Neue Kunst beheimatet waren. Unter anderem als Standort der letzten von Joseph Beuys selbst eingerichteten Arbeit ‹Das Kapital Raum 1970–1977›, verstand sich die Institution als Nabel der Welt für neue künstlerische Tendenzen. «Die Temporalität und das Selbstverständnis einer Institution faszinieren mich. Heute ist es zum Beispiel normal, dass Kunst in ehemaligen Industriehallen ausgestellt wird, Anfang der 1980er-Jahre war das revolutionär. Hier leuchtete ein Ort auf der internationalen Landkarte auf, und nun ist er wieder weg», erzählt Reto Müller, der neben seiner künstlerischen Tätigkeit seit Kurzem auch die Co-Leitung des Kunstraum Kreuzlingen innehat, wobei sich diese beiden Bereiche bei ihm gut zu ergänzen scheinen. So versteht er auch die Platzierung seiner Werke als Teil des künstlerischen Prozesses.
Zudem fussen seine Arbeiten auf fundierter Kenntnis von Materialien und Verarbeitungstechniken, die er in Recherchen stetig weiterentwickelt. Im Rahmen einer Residency am Istituto Svizzero in Rom hat sich Müller unter anderem mit der Transformation und Umdeutung von etruskischem Goldschmuck und Säulen beschäftigt: «Alle drei Glas-Arbeiten in der Schaffhauser Ausstellung benennen im Titel Orte, welche kulturelle Zentren früherer Zeiten markieren und Bezüge zu existierenden Säulenmotiven herstellen. So etwa zum ‹Umbilicus urbis›, der als runder Nabel die Ober- und Unterwelt verband und in Rom als Mittelpunkt der Welt galt.»
Eine Säule aus Basalt
Im Wechselsaal und im Kabinett des Museum zu Allerheiligen dekliniert der Künstler das Thema der Säulen anhand verschiedener Formen und Materialien durch. Zwei Glasscheiben im hellen Wechselsaal sind so an die Wand gelehnt, dass sich darin das natürliche Oblicht der grossen Fensterfront spiegelt. Zwar nicht mitten im Raum, aber doch zentral, steht die ‹Säule für Schaffhausen›, 2023. Sie ist aus gegossenen Basalt-Elementen gefügt und erstreckt sich mit über fünf Metern Höhe vom Boden bis zur Decke. Es entsteht der Eindruck, dass die Säule ohne Anfang und Ende über den Raum hinauswachsen könnte.
Das Objekt ist Teil von Müllers fortlaufender Serie ‹Potentielle Normaliensammlung› und wie viele seiner Werke aus leicht adaptierten Standardformen gefertigt. So wurde der Basalt in einer Industriegiesserei in Polen zu Rohrelementen gegossen, woraus der Künstler dann die Säule errichtet hat. Ein entscheidendes Moment dieser Arbeit liegt im Transformationsprozess, der ins Material eingeschrieben wird. «Das Millionen Jahre alte Gestein wird innerhalb von kürzester Zeit in eine neue Form gegossen und kann nun potenziell über Jahrtausende in dieser Form und in diesem Aggregatzustand verharren», erklärt Müller. Er sieht im Vorgang von Erstarrung, Abformung und Umformung auch Parallelen zu kulturellen Aneignungsprozessen historischer Monumente wie der Trajansäule in Rom. Das Marmordenkmal ist aussen mit einem spiralförmig aufsteigenden Fries geschmückt, der Szenen aus dem Krieg Kaiser Trajans gegen die Daker idealisiert, und wurde zum Vorbild für zahlreiche Ehren- und Siegessäulen von der Antike bis in die Gegenwart. Mit der begehbaren Wendeltreppe im Inneren der Trajansäule ist hier zudem ein Symbol für Transzendenz an die steinerne Materialität geknüpft – ein Moment, das Müller interessiert.
In den zwei von Reto Müller bespielten Sälen finden sich mehrere Arbeiten aus seiner ‹Potentiellen Normaliensammlung›, welche er teils spezifisch für diese Räume entwickelt, teils aber auch schon in anderen Kontexten ausgestellt hat. Sie geben zusammen einen guten Überblick über die subtile Formensprache und den analytischen Ansatz des Künstlers. Da liegt beispielsweise der ‹Appenzellergranit›, 2021, ein grosses Nagelfluh-Gestein, aus dessen Kern Müller einen Block herausgeschnitten hat, um ihn dann wieder in seiner Ursprungsform zusammenzufügen. Durch den Sägevorgang wird ein Teil des Gesteins unwiederbringlich abgetragen, sodass dieses neu zusammengesetzt eine Art Bildstörung erzeugt.
An der Wand angebracht sind mit Blei verbundene ‹Moränensteine I–IX›, 2023, welche ein wenig an Lungen erinnern. Wie ein Gitter vor einem geschlossenen Geschäft hebt sich die ‹Serrande›, 2023, als verzinkte Schmiedearbeit nur leicht und unscheinbar von der weissen Fläche ab. Ein ‹Opaker Leuchter›, 2021, aus Zinn hängt an einer feinen Stange aus Rundstahl so weit von der Decke herab, dass er fast den Boden berührt. Im kleineren Kabinett finden sich verschiedene mit einer Zinnhaut überzogene Stahlrahmen, gemeinsam mit Steinschreinern gezimmerte Steinrahmen sowie die vier Türmchen mit Titel ‹Stele›, 2023, welche aus sogenannten Opferanoden gefügt sind. Diese Zinkklötze werden beispielsweise in der Nautik als Schutz vor Korrosion an Funktionsteilen eingesetzt, indem sich das Zink für den Stahl «aufopfert» und diesen so beschützt. Üblicherweise hohl, hat Müller die Objekte für seine Zwecke vollständig mit Zinn ausgegossen.
Zwischen Norm und Gestaltung
Bei allen Arbeiten bewegt sich Reto Müller an der feinen Grenze zwischen gestalterisch künstlerischem Ausdruck und funktionaler Formgebung. Zwischen Eingriff und Umdeutung arbeitet er mit der Materialität, mit Industriestandards sowie mit historischen Zuschreibungen und Geschichten seiner Werkstoffe. Dadurch erzeugen die «potenziellen Normalien» eine Spannung, auf der die Wirkung der Ausstellung zumindest teilweise aufbaut: In unaufdringlicher Weise tangiert Müller so grosse Themen wie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, von Allgemeinheit und Idiosynkrasie, wobei den Materialien wie Basalt, Zink, Zinn und Gestein selbst eine Form der Agency zuzukommen scheint. Das normative Moment von austauschbaren Standards erlebt durch Müllers nahezu emphatische Aufmerksamkeit fürs Material eine erfrischende Relativierung. Das könnte so gelesen werden, dass gesellschaftliche Normen zwar ihren Einfluss haben, aber als historische Setzung auch transformiert und weiterentwickelt werden können.
Gewiss klingen in seiner Arbeit auch Elemente aus der Minimal Art oder der Architektur des Brutalismus an, doch gelingt es Müller, die eher kühle Formensprache dieser Kunst- und Architekturströmungen mit einer durchaus verspielten Subjektivität aufzulockern und in etwas Neues zu transformieren. Oder wie er es selbst formuliert: «Ich bin kein Bildhauer. Es geht mir darum, an die Grenzen zu gehen von Gestaltung und Grundform, von Erzählung und dem Kontext, der anhaftet oder abgestreift werden kann. Das ist vielleicht eine Annäherung an den Grundakt der Aneignung durch das Gestalten.»
Die Zitate stammen aus einem Gespräch mit dem Künstler in Schaffhausen am 23.5.2023.
Andrin Uetz, Musiker, Kulturjournalist und Klanganthropologe, lebt in Basel und Wien. andrin.uetz@gmail.com
→ ‹Reto Müller – Le nombril du monde. Manor Kunstpreis Schaffhausen 2023›, Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen, bis 15.10.; Buchpräsentation: 30.9., 14 Uhr ↗ allerheiligen.ch
Reto Müller (*1984, Stein am Rhein) lebt in Zürich, Uesslingen-Buch (TG) und Stein am Rhein
2002 Gartenbauschule Oeschberg, Koppingen
2010 Diplom LEM – Szenografiedepartement, École Internationale de Théâtre Jacques Lecoq, Paris
2013 BA Fine Arts, Ecav / École cantonale d’Art du Valais, Siders
Einzelausstellungen (Auswahl)
2020 ‹Shanghaien›, mit Francisco Sierra, Auto, St. Gallen
2018 ‹La règle du pigeon›, Cinéma Rex, Bern
2017 ‹Potentielle Normaliensammlung›, Kunsthaus Langenthal
2016 ‹Ein essentieller Knoten›, mit Vincent Hofmann, Kunstraum Kreuzlingen und Stadttheater Winterthur
2012 ‹Manga_Village Cinéma_›, mit Vincent Hofmann, Manga, Burkina Faso
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2023 ‹Frida›, Lichtensteig
2022 ‹La Casa Ispirata›, Istituto Svizzero, Rom
2021 ‹Heimspiel›, Kunsthalle St. Gallen; ‹Body extravagant›, Pilz Welle Lust, Basel
2017 ‹Gesellschaft zur Wertschätzung des Brutalismus›, Hartware MedienKunstVerein, Dortmund
Institutionen | Land | Ort |
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Museum zu Allerheiligen | Schweiz | Schaffhausen |
Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ | Ort | Land | |
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Reto Müller | 25.05.2023 – 15.10.2023 | Ausstellung | Schaffhausen |
Schweiz CH |
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Andrin Uetz |