Intimitäten im World Wide Web

SIS.TM - Sis Taggman (*1963). 1978?1984 künstlerische Tätigkeit (Malerei und Fotografie). 1980?1984 Studium Fotografie, Typografie und Audiovisuelle Medien an der FH Düsseldorf sowie Philosophie an der Universität Düsseldorf. 1979-1984 Assistent, später auch Projektpartner von Jörg Immendorff. 1985-2001 Tätigkeit als Art Director, Fotograf und Musikproduzent. Seit 2001 ausschliesslich künstlerische Tätigkeit.

SIS.TM - Sis Taggman (*1963). 1978?1984 künstlerische Tätigkeit (Malerei und Fotografie). 1980?1984 Studium Fotografie, Typografie und Audiovisuelle Medien an der FH Düsseldorf sowie Philosophie an der Universität Düsseldorf. 1979-1984 Assistent, später auch Projektpartner von Jörg Immendorff. 1985-2001 Tätigkeit als Art Director, Fotograf und Musikproduzent. Seit 2001 ausschliesslich künstlerische Tätigkeit.

FLICKERING SUBJECTS III, 2007, Video Takeout ohne Titel, Inkjet Druck auf Leinwand, 150 x 200 cm

FLICKERING SUBJECTS III, 2007, Video Takeout ohne Titel, Inkjet Druck auf Leinwand, 150 x 200 cm

Fokus

Der hinter der Kunstfigur SIS.TM stehende Künstler Sis Taggman setzt sich schon lange mit Internetplattformen und der Blogsphäre auseinander. Sein Thema sind die Spannungsbögen, welche gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene im Internet verbinden

Intimitäten im World Wide Web

Brutstätte eines ernsthaften gesellschaftlichen Problems

Nicht einmal einer engsten Freundin oder einem sympathischen Psychologen würde ich so intime Geständnisse anvertrauen oder so tiefe Einblicke in meine seelischen Abgründe gewähren. Doch in der virtuellen Globalität des Internets ist solche Vertrautheit gang und gäbe. Hier sind die Schranken zwischen privatem und öffentlichem Raum aufgehoben und man trifft auf die unglaublichsten Selbstentblössungen und -verletzungen. Dagegen muten die Big-Brother-Serien wie Sandkastenspiele an. Was früher hinter verschlossenen Türen stattfand, ist heute im Web zwischen Grönland und Feuerland allen zugänglich. Man braucht nur auf Videoportalen wie YouTube oder MySpace, auf Blogs und User-Groups zu surfen und schon wird man mit Äusserungen konfrontiert, die zwischen Selbstüberschätzung und -hass, abgrundtiefer Einsamkeit und Realitätsverlust schwanken. Mit dieser Thematik setzt sich der Zürcher Künstler Sis Taggman, dessen Name SIS.TM eine lautmalerische Anspielung auf «System», aber auch auf «This Trademark» (TM) ist, schon lange auseinander. In Videos, Aktionen, Texten und Bildern macht er die Abgründe der digitalen Welt sichtbar.
In Anbetracht der gesellschaftlichen Bedeutung des Mediums und der Brisanz der Themen wundert man sich, dass sich die bildende Kunst bislang wenig damit auseinandergesetzt hat. Auch wenn die Gruppe der Netzkünstler zunehmend wächst, scheinen diese mehrheitlich das Medium zu feiern oder rein technisch zu erkunden. Höchste Zeit also, das World Wide Web kritisch zu hinterfragen und in einen übergeordneten gesellschaftlichen Zusammenhang zu setzen. Dieser Aufgabe stellt sich der Multimediakünstler SIS.TM, der sich der politischen Tradition von Beuys und Immendorff verpflichtet fühlt und mit einem offenen, gesellschaftspolitisch geschulten Blick den Finger auf die schwärende Wunde legt. Dies tut er, indem er Video-Clips, die auf populären Video-Blog-Plattformen verbreitet werden, ohne wesentliche Eingriffe aneinanderreiht, lediglich Farbfilter und Überblendungen einfügt und Tonspuren bearbeitet. So vermittelt er eine möglichst realitätsnahe Sicht auf die exhibitionistischen Selbstdarstellungen, Perversionen und Gewaltfantasien der Video-Blogger.

Erstickte Schreie im Netz   In der Ausstellung «Augenzeugen - Bilder von Krieg, Globalität und Blogs» im Seedamm-Kulturzentrum in Pfäffikon im März/April dieses Jahres präsentierte SIS.TM den Film «Flickering Subjects». Man sieht verliebte Teenager, Neonazis, onanierende Jugendliche, eine Frau, die sich die Zunge mit einem Skalpell spaltet oder einen Jugendlichen, der sich die Fingerkuppe abhackt. Diese harten Bilder werden gleichzeitig von der selbstbezüglichen Geschwätzigkeit der Blogger überlagert. Kein Wunder hat SIS.TM im neuen, beinahe achtstündigen Film «You can now send me private messages» den Ton der Clips ausgeblendet. Die tonlosen Auftritte zeigen die Blogger bei ihren oft nichtigen Versuchen, im digitalen Ozean des Webs wahrgenommen zu werden. Sie produzieren sich meist maskiert und verweisen so auf ihre künstlichen Identitäten. Doch welche Identität sie auch vorgeben, man ist sich nie sicher, ob die Personen und die Geschehnisse authentisch oder nur gespielt sind. Ein bekanntes Phänomen ist die äusserst beliebte Figur «Lonleygirl15», ein angeblich 16-jähriges Mädchen, dessen Videos regelmässig auf YouTube erscheinen. Drei YouTube-Mitglieder haben dann allerdings herausgefunden, dass es mit dem Namen Lonelygirl15 sowohl eine Website als auch eine eingetragene Marke gibt und unter anderen die «Creative Agent Agency», Los Angeles, und eine 19-jährige professionelle Schauspielerin hinter dem smarten Teenager stehen. Dies macht deutlich, wie leicht beliebte Blog-und Videoplattformen von kommerziellen Anbietern mit professionell hergestellten Clips durchsetzt und als indirekte Werbeflächen missbraucht werden können. Doch auch abgesehen von solchen Fakes liegen in den zahlreichen Darstellungen von ungehemmter Gewalt, sexuellen Übergriffen und Neonazi-Propaganda einschneidende Tabubrüche vor. Dass diese Bilder von Gewaltdarstellungen zu Veränderungen von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen führen, ist unbestritten.
Anfänglich hat SIS.TM im Internet das Potenzial einer starken demokratischen Kraft gesehen, dank der er die Beuys´sche Utopie der «sozialen Plastik» für verwirklicht hielt. Doch diese positiven Seiten des Internets werden durch die Flut von privaten Nabelschauen, Falschmeldungen, Lügen und Betrügereien mehr und mehr überschattet. Meinungen werden geäussert, aber keiner will die Verantwortung dafür tragen. Dadurch wird das Medium diskreditiert und jede gesellschaftspolitische Utopie in Frage gestellt.

Ungeheuerlichkeiten in spiessigen Interieurs   Das neuste Projekt «Learn more» von SIS.TM handelt von Pornografie im Internet. Inspiriert wurde der Künstler durch Jugendliche, die Pornos auf ihre Handys runterladen oder Teenagervergewaltigungen mit der Handycam filmen. Diese Verhaltensweisen sind weitgehend dem medialen Nachahmungseffekt zuzuschreiben. Bereits die pure Menge an intimsten, perversesten Bildern zeigt, laut SIS.TM, wie gross das Problem ist. Wie jeder weiss, sind die Pornosites leicht zugänglich. Mann/frau braucht nur die gängigen Suchmaschinen anzuwählen, um unter «boys» und «girls» auf die deftigsten Websites zu stossen. Im Projekt «Learn more» geht es um die Protagonisten solcher Pornovideos, oft blutjunge Menschen aus dem Ostblock, beispielsweise Strassenkinder aus Russland, deren miserable ökonomische Situation skrupellos ausgenutzt wird. Auffallend ist, dass solche Pornoszenen oft in spiessigen Interieurs gespielt und die Mädchen erstaunlich adrett präsentiert werden, fast mit einem Touch von Vertrautheit. Damit wird eine heile Welt vorgegaukelt, die reine Staffage ist. «Learn more» besteht aus mobilen Aktionen, einem Videofilm, einer Website www.learnmore.ch mit Textcollagen sowie einer Grossinstallation mit Digital-Paintings. Dies sind Porträts von jungen Pornodarstellern und -darstellerinnen, die nun während eines Monats auf der riesigen Plakatwand neben dem «Freitag Tower» an der Geroldstrasse in Zürich prangen - just am Ort, an dem sich die trendigsten Discos befinden, deren Besucherinnen und Besucher jetzt als potenzielle Opfer und Täter angesprochen sind. Formal erinnern die Bilder an sozialistische Propaganda Installationen, gleichzeitig basieren sie auf einem didaktischen Ansatz. Sie wecken Neugierde auf das Projekt, werfen aber auch Fragen auf, nach der Auswirkung der weltweit verbreiteten Bilder von Sexualität, Gewalt und Exhibitionismus auf die Gesellschaft in zehn, zwanzig Jahren. Führt die Verfügbarkeit zu einer Amoralität, Verrohung oder zu einem neuen religiösen, ethischen Fundamentalismus? Ist unsere Prüderie schuld daran, dass bei jeweiligen Medienberichten über die Aufhebung eines Kinderpornoringes oder über Jugendgewalttaten jeweils kurz aufgeschrien wird, um die Nachricht anschliessend gleich wieder zu verdrängen? Noch ratloser fühlt man sich angesichts der Szenen von Selbstverletzungen und Selbstverstümmelungen vor laufender Webcam. Es ist erschreckend zu sehen, wie Leiden und sogar Tod im Hinblick auf die völlig enttabuisierten Bildwelten abstrakt zu werden drohen. Doch, was veranlasst diese Jugendlichen, sich solches anzutun und warum zeigen sie es einer globalen Öffentlichkeit? Ist es die pure Lust an der Selbstdarstellung, ist es ein letzter Hilfeschrei oder reiner Sadomasochismus? Ich für meinen Teil kann mir da nur mit der Diagnose des deutschen Weisheitslehrers und Mystikers Eckhart Tolle weiterhelfen. Die Gewalteskalationen auf unserem Planeten schreibt er dem individuellen und kollektiven «Schmerzkörper» zu, einer Akkumulation von altem emotionalem Schmerz, der in jedem Einzelnen abgelegt ist. Dieser unbewusste Schmerz will akzeptiert, aufgelöst werden und verlangt als «halb autonomes Energiesystem» regelmässig nach Nahrung, beispielsweise in Form von gewalttätigen Filmen und Schreckensnachrichten. «In den Nachrichtenmedien einschliesslich des Fernsehens herrscht generell die Tendenz vor, negative Nachrichten zu verbreiten. Je schlimmer etwas ist, umso mehr begeistert sich der Berichterstatter, und diese Begeisterung am Negativen teilt sich häufig durch die Medien direkt mit. Nichts liebt der Schmerzkörper mehr.»1

1 Eckhart Tolle, Eine neue Erde. Bewusstseinssprung anstelle von Selbstzerstörung, München 2005.

Autor/innen
Dominique von Burg
Künstler/innen
Sis.tm

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