Kara Walker — Tragedies of Different Size and Shape
Voller introvertierter Dringlichkeit ist ihre Kunst und zugleich durchdrungen von explosiven Botschaften. Kara Walker hat für Basel ihren lange privat gehaltenen Fundus an Skizzen und Notaten geöffnet. Damit findet ein dunkler Zauber Anschluss an eine Sammlung, welche die Kunst afroamerikanischer Provenienz lange nicht oder kaum im Auge hatte.
Kara Walker — Tragedies of Different Size and Shape
In Toni Morrisons Roman ‹Beloved›, 1987, tötet eine Sklavin ihr Kind. Es ist das Eigentum des Vaters und Sklavenhalters. Das mütterliche Erbgut von Besitz- und Rechtlosigkeit hätten es lebenslänglich umklammert. Der Preis des bleibenden Albtraums ist hoch. Doch unter dem Gesetz der Leibeigenschaft wird Mord zum Akt der Befreiung. Dem Schicksal von Entrechteten ist mit Anstand und gutem Geschmack, auch mit Virtuosität nicht beizukommen. Erinnern ist Erzählen. Im englischen «re-member» steckt das Zusammenfügen von Körperteilen, deren Zusammenhalt lange zerborsten war. Nicht zufällig erkennt Kara Walker in Toni Morrison eine literarische Leitfigur und Mentorin für ihre eigene Kunst.
Nicht nur Körper
Teddy, Kind und Totenkopf sind auf einem Blatt beisammen, als wäre nichts dabei. Ein energischer Strich setzt dunkle Körper dem Begehren weisser Peiniger aus. Schnell scheint eine neue Schöpfungsgeschichte auf wenige Blätter skizziert. Unter direktiven und anekdotischen Headlines bringt Krieg Klischees zur Welt und sichert einem karnevalesken Lauf der Dinge seinen Fortgang. «Who Will Win the Future Race War?» titelt eine über sieben Meter lange Papierbahn Kara Walkers aus dem Jahr 2012. Kohle, Bleistift, Collage, Typoskript oder Gouache rufen Partikel afroamerikanischer Geschichte auf, schreiben gegen sie an, bleiben der einseitig sexualisierenden Rezeption und Mystifizierung schwarzer Physiognomie in Werbung, Populärkultur, Folklore auf der Spur.
Die Ausläufer des nutzniesserischen Arbeitsmarkts und das historisch befrachtete Bild des schwarzen Körpers bilden Rückgrat wie Abgrund von Kara Walkers expressiver Nachdenklichkeit. Dass sie auch Sprache in Mitleidenschaft gezogen haben, liegt auf der Hand. «I Am No Body» – der Aufschrei in kohligen Grossbuchstaben neben einer nur schattenhaft angedeuteten Gestalt zeugt nicht nur von Missachtung, sondern mutiert als Schriftzug zum Appell an die Anerkennung von Mensch zu Mensch. Wenn die Tusche-Wolken über einem Enthaupteten durch die Inschrift «The Right Side of History» durchbrochen werden und das Wort «Side» wie zufällig eine Lücke in den Himmel reisst, wird das Recht auf Geschichte zur Leerstelle und der namenlos Gelynchte zum Abkömmling einer Gesellschaft, die es offensichtlich auf die falsche Seite verschlagen hat. Das systematische Verschweigen ihrer Historie hat Schwarze verfügbar gemacht – für sexuelle Übergriffe wie für Experimente im Dienst medizinaler Forschung. Informiert und engagiert, kann sich Kara Walker diesem Tatbestand ebenso wenig entziehen, wie sie mit ihrem Schaffen darauf verkürzt werden will. In seiner Gesamtheit ertastet das Entwerfende, Offene, Fragmentarische und scheinbar Unfertige ihres Zeichnens eine Repräsentation, die den langen Schatten kolonialer Herrschaft erlebbar macht, ohne ihn einzufrieren.
Gespenster der Aufklärung
Kara Walkers eindringliches Fragen nach dem Puzzle von Identität hat in fast dreissig Jahren viel Stoff aufgeworfen. Ihr eigenes Archiv, dem sie für die Kooperation mit dem Kupferstichkabinett in Basel einen Grossteil der rund 600 jetzt ausgestellten Blätter entnahm, schien lange zu intim, zu provokant für eine Veröffentlichung. Nun ist die Büchse der Pandora aufgesperrt und um neue, eigens für Basel entstandene Werke ergänzt: ein Reservoir an handschriftlichen Aufzeichnungen; ein vielgliedriger Tanz um Macht und Ohnmacht; subjektive Anverwandlungen von Heroen der europäischen Kunstgeschichte – und all dies immer auch als Hommage an Menschen, die dem wissenschaftlich untermauerten Konstrukt von Rasse über Generationen ausgesetzt bleiben oder ihm zum Opfer gefallen sind. In Reihen oder Clustern über Wände und in Vitrinen ausgelegt, pulst durch Kara Walkers Recherche eine von geisterhaften Dramen gezeichnete Wirklichkeit.
Mit grossen Silhouetten hat sich die Künstlerin rassistische Stereotype schon in den 1990er-Jahren schwarz auf weiss zu eigen gemacht und gnadenlose Erniedrigungen scheinbar spielerisch als Schattenwurf zur Aufführung gebracht (zwei Filme im Kunstmuseum Basel | Gegenwart geben Zeugnis davon). In der überfordernden Fülle der jetzigen Ausstellung wird lesbar, dass ihre scharf umrissenen Silhouetten nicht vom Himmel gefallen sind. Walkers Auftritte auf der internationalen Bühne der Kunst verdanken sich zunächst einer bewussten Bezugnahme auf die kunsthandwerkliche Tradition des Scherenschnitts, die im 19. Jahrhundert auch von Schwarzen praktiziert wurde. Und sie sind einem weitläufigen Sammeln von rassistischen Spuren im Alltag, einer Selbstbefragung bis in die Träume abgerungen. «Dreams are the space where problematics can be explored», formulierte die Künstlerin im Artist Talk, der die Eröffnung im Juni begleitete. Gross geworden ohne einen «Sinn für Geschichte» – die Wurzeln ihrer Familie verlaufen sich in Georgia schon in der vorletzten Generation –, habe sich das Papier bald als introspektiver Raum der Freiheit angeboten. Die Empfehlung an die Studentin, in einem Fluss von hundert und mehr Zeichnungen unzensiert Reflexe des physischen und psychischen Befindens einzufangen, sollte lange nachwirken. «Für mich ist jedes Fitzelchen Papier der Ereignishorizont – die Grenze zwischen der geordneten Welt und dem Chaos», schreibt sie in einem konzentrierten Text im Katalog.
Verwaiste Blätter
Schon im Studium an der Rhode Island School of Design in Providence (RI, USA) hatte sie den Entschluss gefasst, ihr künstlerisches Schaffen ganz aus der Perspektive einer Schwarzen und einer Frau zu entwickeln. Ihre Handschrift würde dem Kanon einer westlichen, vom Patriarchat durchdrungenen Kunstgeschichte nicht ohne weiteres folgen können. Kara Walker stellte die Frage retrospektiv: «Can I sit at that table?» Lässt sich die Fläche eines Blatts einnehmen, ohne erneut dem Gestus von Beherrschung und Überlegenheit aufzusitzen? Wie überhaupt ist die Ächtung der afroamerikanischen Bevölkerung darstellbar, ohne dass die Kunst selbst ein possessiv koloniales Gebaren fortschreibt? Direktheit ist eine von Walkers Antworten, das Aufbieten und Verflüssigen von medialen Bildern, die Ballung und Isolation schriftlicher Äusserungen, die unter keinem Strang mehr ganz zu fassen sind. Im additiven und assoziativen Protokoll über lange Zeiten und viel Papier hinweg insistiert ihr Zeichnen auf einer produktiven Skepsis gegenüber jeder einmaligen, bedeutungsschweren Setzung.
Die 52-jährige Künstlerin weiss genau: Es gibt heute kein Porträt, kein Kriegsbild, keine Darstellung mehr von Sex oder Gewalt, die nicht schon so oder anders die Geschichte von Kunst und Medien durchlaufen hätte. Kara Walker beruft sich schon lange auf Bildwelten von Honoré Daumier, James Ensor oder auf die Tradition politischer Karikatur. In der Vorbereitung zur Basler Ausstellung hat sie sich in den historischen Beständen des Kupferstichkabinetts umgesehen. Martin Schongauers Dämonen, der klappernde Tod von Hans Baldung Grien oder Goyas traumatisiertes Menschenbild finden jetzt ein Echo in der explosiven Mischung, in der Kara Walker US-amerikanische Gründerväter, medizinische Experimente oder «Black Lives Matter» zusammenführt. Unter dem vieldeutigen Titel ‹A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be› kollabieren so Jahrhunderte im Untergeschoss des Museumsneubaus: Während die Künstlerin an der Normalität der amerikanischen Gegenwart schürft, haben Drohgebärden und Übergriffe längst die Erinnerung an Alte Meister in sich aufgesogen. Am genannten Gespräch formulierte Kara Walker offen, der Wegzug ihrer Blätter aus dem Studio in New York habe diese vorübergehend zu Waisen werden lassen. Jetzt wurzeln sie ganz selbstverständlich und unbefriedet in Europas humanistischem Erbe.
Isabel Zürcher lebt und arbeitet als freiberufliche Kunstwissenschaftlerin und Autorin in Basel. mail@isabel-zuercher.ch
→ ‹Kara Walker – A Black Hole is Everything a Star Longs to Be›, Kunstmuseum Basel, bis 29.9.; Schirn Kunsthalle Frankfurt, 15.10.–16.1.; De Pont Museum Tilburg, Frühjahr 2022; mit reich bebildertem Katalog ↗ www.kunstmuseumbasel.ch
Kara Walker (*1969, Stockton, CA) lebt in New York
Einzelausstellungen (Auswahl)
2019 ‹Fons Americanus›, Hyundai Commission at Turbine Hall, Tate Modern, London
2017 ‹Emancipating the Past – Kara Walker’s Tales of Slavery and Power›, University Museum of Contemporary Art, Amherst, Massachusetts
2015 Biennale Venedig: ‹Norma›, Bühnenbild und Kostüme zur Oper im Teatro La Fenice, Venedig
2014 ‹A Sublety, or the Marvellous Sugar Baby›, Domino Sugar Refinery, Brooklyn
2013 ‹Rise Up Ye Mighty Race!›, Art Institute of Chicago; ‹Kara Walker›, Camden Arts Centre, London; Metropolitan Arts Center, Belfast
2011 ‹A Negress of Noteworthy Talent›, Fondazione Merz, Turin
2007–08 ‹My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love›, Walker Art Center, Minneapolis, Hammer Museum, Los Angeles u. a.
2007 ‹After the Deluge›, Metropolitan Museum of Art, New York
Institutionen | Land | Ort |
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De Pont | Niederlande | Tilburg |
Kunstmuseum Basel | Gegenwart | Schweiz | Basel |
Schirn Kunsthalle | Deutschland | Frankfurt/M |
Ausstellungen/Newsticker | Datum | Typ | Ort | Land | |
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Kara Walker. A Black Hole Is Everything a Star Longs to Be | 05.06.2021 – 26.09.2021 | Ausstellung | Basel |
Schweiz CH |
Kara Walker |
Isabel Zürcher |