Camille Henrot — Kind und Knigge

Camille Henrot · Sweet Days of Discipline, 2023, Ausstellungsansichten Lok, Kunstmuseum St. Gallen © ProLitteris. Foto: Sebastian Stadler

Camille Henrot · Sweet Days of Discipline, 2023, Ausstellungsansichten Lok, Kunstmuseum St. Gallen © ProLitteris. Foto: Sebastian Stadler

Camille Henrot · Sweet Days of Discipline, 2023, Ausstellungsansichten Lok, Kunstmuseum St. Gallen © ProLitteris. Foto: Sebastian Stadler

Camille Henrot · Sweet Days of Discipline, 2023, Ausstellungsansichten Lok, Kunstmuseum St. Gallen © ProLitteris. Foto: Sebastian Stadler

Besprechung

In St. Gallen zeigt Camille Henrot eine Ausstellung, die sich um bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, um Hausarbeit, Pflege und Kinderbetreuung dreht. Genauso sehr geht es aber ums Kindsein und ums Kindbleiben und damit verbunden um Erwartungen und das sich Eingliedern in Normen und Konventionen.

Camille Henrot — Kind und Knigge

St. Gallen — Das Thema der Ausstellung in der Lokremise hat nicht nur gesellschaftliche Relevanz, sondern auch ganz persönliche Dringlichkeit für Camille Henrot (*1978, Paris): Seit der Geburt ihres Sohnes macht sie ihr Erleben rund um Mutterschaft und Kinderbetreuung wiederholt zum Thema ihrer Kunst. Geschickt und mit Leichtigkeit schlägt sie dabei humorvolle Brücken zum Kanon der westlichen Kunstgeschichte sowie zu Normen und Erwartungen der sogenannt erwachsenen Gesellschaft.
Die Ausstellung selbst wirkt wie eine Mischung aus Spielplatz, Wohnung und konventioneller musealer Präsentation. An den Wänden hängen Gemälde, am Boden finden sich Skulpturen aus Bronze, Kalkstein oder Stahl. Bewusst lässt Henrot die Materialien und Formsprachen klassischer Kunst zusammenprallen mit einer Motivwahl, die dieser entgegensteht: So erinnert etwa die auf einem Sockel platzierte Kalksteinskulptur ‹Hide and Seek›, 2023, wahlweise an Minimal Art, eine Madonnenstatue, eine griechische Skulptur oder eine Gesetzestafel. Tatsächlich stellt sie einfach ein Kind dar, das sich unter einem Bettlaken versteckt. Anstelle von Inschriften zur historischen Bedeutung sind auf der Skulptur Buchstaben in Form eines Wortsuchrätsels eingraviert. Entziffern lassen sich dort Begriffe, die sonst eher selten in Stein gemeisselt werden: gugusdada, LaLaLaLa, DNA oder Placenta.
Das Kindliche ist bei Henrot oft auch das Rebellische: Eine bewusste Verweigerung gesellschaftlicher oder «erwachsener» Normen stellen das Objekt ‹Misfits›, 2022, sowie die Collagen aus der Serie ‹Dos and Don’ts›, 2022, dar. ‹Misfits› ist ein Bronzewürfel in der Art eines Kinderspielzeugs, mit Löchern in Dreieck-, Kreis- und Quadratform, durch die man entsprechende Figuren einwerfen kann. In Henrots Skulptur ist ein Zylinder gewaltvoll in die quadratische Öffnung gerammt – wobei der Würfel mit seinen anthropomorph anmutenden Löchern buchstäblich leidend aussieht. In Collagen wie ‹L’art de la table›, ‹Courtesy counts› oder ‹Unfold your napkin›, alle 2022, verarbeitet Henrot Seiten aus Knigge-Büchern mit Aquarell, Tinte und Acryl zu abstrakten, zerfliessenden Bildern. Henrots Schau ist damit weit mehr als einfach nur die Darstellung des Alltags mit Kindern und Care-Arbeit. In ihrer Auseinandersetzung mit Kinderbetreuung und -erziehung spricht sie gleichzeitig von Normen und Systemen, von Wertvorstellungen, Lern- und Anpassungsprozessen, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft konstant prägen. 

Bis 
05.11.2023
Ausstellungen/Newsticker Datum Typ Ort Land
Camille Henrot — Sweet Days of Discipline 10.06.202305.11.2023 Ausstellung St. Gallen
Schweiz
CH
Künstler/innen
Camille Henrot
Autor/innen
Martina Venanzoni

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