en passant — Alles und noch etwas mehr

Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger, Maskenball der Biodiversität, 2021, Kongresshaus Zürich. Foto: SH

Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger, Maskenball der Biodiversität, 2021, Kongresshaus Zürich. Foto: SH

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en passant — Alles und noch etwas mehr

Vor dem langen Fenster des Kongresshauses zanken sich zwei Spatzen um einen Paprikachip. Als ich nähertrete, hüpfen sie zur Seite, flattern davon, kehren zu dritt zurück. Ich schaue in die Vitrine, direkt vor mir schwebt eine Art Tulpe mit Orchideenblättern, eine manipulierte Kunstblume, die mir ebenfalls wie ein Spätzchen vorkommt. Der Tulpenpiepmatz ist ein Objekt von Hunderten, die Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger in dem «Schaufenster» installiert haben. Dahinter dämmert das riesige Gartensaalfoyer in gelblichem Licht vor sich hin, menschenleer. Ganz am Ende des Saals passieren dann und wann Kellner:innen, schwarz-weiss und klein wie Käfer. In einer gläsernen Schüssel, die neben dem Blumenvogel hängt, spiegelt sich die Strasse. Auch ich werde hier in Tulpengrösse abgebildet – mit den wie Mücken um mich flatternden Spatzen, nun sind es fünf. Karl Valentins Panoptikum kommt mir in den Sinn, der sagenhafte Grusel- und Lachkeller, in dem der Kabarettist im Juni 1940 seine letzte Vorstellung gab. Auch diese Vitrine ist ein Panoptikum, in dem man alles in neuen Dimensionen sieht – alles, und bei jedem Blick noch etwas mehr.
Ich drehe mich um und trete dabei aus Versehen auf den Paprikachip. Es knirscht. Fünf Augenpaare starren mich an. «Dummkopf», sagt der kleinste Piepser. Ja, wer die Vitrine von Steiner & Lenzlinger gesehen hat, versteht danach die Sprache der Vögel. Also wären wir nun sechs. Und hungrig! Wenn die Käfer das wüssten!

Samuel Herzog, Textbauer, Inselbauer, Schüttsteinschaffer. info@samuelherzog.net
Eine Textreihe in Kooperation mit der Fachstelle Kunst und Bau, Amt für Hochbauten, Stadt Zürich.

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