KiöR Stadt Zürich — Kunst für die postdigitale Öffentlichkeit

Aram Bartholl · 12 V / 5 V / 3 V, 2017 (Detail), Skulptur Projekte Münster. Foto: LWL-Museum / Skulptur Projekte Archiv / H. Rogge

Aram Bartholl · 12 V / 5 V / 3 V, 2017 (Detail), Skulptur Projekte Münster. Foto: LWL-Museum / Skulptur Projekte Archiv / H. Rogge

Gordan Savičić, Felix Stalder, Vladan Joler · Infrastructure of a Migratory Bird, 2022, Ausstellungsansicht We Are AIA, Zürich

Gordan Savičić, Felix Stalder, Vladan Joler · Infrastructure of a Migratory Bird, 2022, Ausstellungsansicht We Are AIA, Zürich

Joana Moll · A Silent Opera for Anthropogenic Mass, 2023, transmediale, Berlin. Foto: Juan Saez

Joana Moll · A Silent Opera for Anthropogenic Mass, 2023, transmediale, Berlin. Foto: Juan Saez

Constant · Techno-disobedience, 2023, Worksession, Brüssel

Constant · Techno-disobedience, 2023, Worksession, Brüssel

Christoph Haerle · Ganymeds Schwester, 2003, Beton, 225 x 290 x 290 cm, General-Guisan-Quai, ­Zürich. Foto: Stadt Zürich KiöR / Lucrezia Zanetti

Christoph Haerle · Ganymeds Schwester, 2003, Beton, 225 x 290 x 290 cm, General-Guisan-Quai, ­Zürich. Foto: Stadt Zürich KiöR / Lucrezia Zanetti

Fokus

KiöR heisst eine Fachgruppe, die im Auftrag der Stadt Zürich Strategien und Modelle für Kunst im öffentlichen Raum ausarbeitet. 2006 wurde sie gegründet, 2023 von einer neuen Kommission mit einem neuen Leitbild versehen. Wie hat sich der Blick auf Kunst und Stadt verändert? Der Vorsitzende Heiko Schmid und die Fachstellenleiterin Sara Izzo geben Auskunft.

KiöR Stadt Zürich — Kunst für die postdigitale Öffentlichkeit

Brita Polzer: Seit Januar 2022 gibt es eine neue externe Fachgruppe KiöR. Voraus gingen 14 Jahre, in denen die Zürcher Stadträume recht klassisch mit Kunstwerken bespielt wurden und zum Leitbild auch Stadtmarketing oder Standortförderung gehörten. Die neue KiöR hat nun gut ein Jahr an einer neuen Ausrichtung gearbeitet. Welches sind die grundlegenden Unterschiede zum früheren Konzept?

Heiko Schmid: Wir wollen Kunst aus dem Stadtmarketing lösen. Uns interessieren Projekte, die auf soziale Prozesse und die Herstellung von Gemeinschaft und Öffentlichkeit zielen. Dabei sehen wir den öffentlichen Raum nicht mehr vor allem als physischen Raum, wie das bis anhin geschehen ist, sondern als politischen und sozialen Raum. Öffentlichkeit verstehen wir als soziale Struktur, die sich in Form von Vernetzungen entfalten kann. Menschen erzeugen gemeinsam Öffentlichkeiten. Das wollen wir deutlich machen, und das soll sich auch als Forderung an Infrastrukturen aussprechen. Diesbezüglich sind Begrifflichkeiten wie «Infrastructuring» interessant. Wie sind Infrastrukturen und die Entstehung von Öffentlichkeiten verflochten?
Ein weiterer Schwerpunkt der KiöR liegt neu auf dem postdigitalen Raum. Öffentlichkeit wird heute vom Digitalen transformiert. Jeder Mensch, der irgendwo sitzt, kann mit seinem Smartphone eine Form von Öffentlichkeit erzeugen. Zugleich gibt es vermehrt in Erscheinung tretende digitale Abbilder, das heisst am analogen Raum orientierte Strukturen, die im Umfeld von Augmented-Reality- und Virtual-Reality-Technologien relevant werden.

Polzer: Bisher ging man weitgehend davon aus, dass ein Kunstwerk im öffentlichen Raum – im Unterschied zu einem Werk im Museum – potenziell für alle sichtbar ist. In einen digitalen Raum muss man sich bewusst einklinken, das hat eine andere Art von Begegnungsstruktur. Was heisst das für euch?

Schmid: Uns interessiert der hybride Raum, wo sich Digitalität ins Analoge einschreibt, wo beispielsweise jemand Maps benutzt oder andere Tools, um sich zu bewegen. Der analoge Raum ist längst digital, er ist permanent unterfüttert von digitalen Technologien. Das wollen wir erfahrbar und verhandelbar machen.

Sara Izzo: Dabei geht es uns aber nicht vorrangig darum, Kunst in den digitalen Raum zu versetzen. Kunstwerke können weiterhin materialisiert im öffentlichen Raum auftreten, aber wir wollen, dass solche Situationen reflektiert werden.

Schmid: Ein gutes Beispiel für das Ineinanderfliessen von digitalem und analogem Raum ist eine auf der transmediale 2023 in Berlin gezeigte Arbeit von Joana Moll, ‹A Silent Opera for Anthopogenic Mass›. Man konnte sich auf einem spezifischen Platz in diese Klangkunstinstallation einloggen und dann mithilfe des Smartphones eine Tour machen.
Wir trennen nicht mehr zwischen digital und analog. So sind auch Rezeptionsräume, die sich vor Displays auftun, nicht einfach abstrakt. Da wird Kohlestrom verbraucht, das ist hochphysikalisches Material. Wir müssen uns dieser Vernetzungen bewusst werden. Es geht um Hybridität, um Überschneidungen. Nicht nur unsere Mentalität, sondern unsere ganze Umwelt ist inzwischen so stark von technologischen Strukturen geprägt, dass man mit diesen umgehen lernen muss. Das ist zentral! Das Subjekt steht insofern auch nicht mehr für sich, entscheidend sind die Interaktionen mit den Strukturen. Beispielsweise im Projekt ‹Infrastructure of a Migratory Bird›, 2022, thematisieren Felix Stalder und Gordan Savičić Auswilderungsversuche des eigentlich bereits ausgestorbenen Waldrapps. In diesem Projekt wird gezeigt, wie auch digitale Strukturen genutzt werden, um so einen Vogel wieder «wild» zu machen. Virtualisierung, digitale Abbilder, Hybridisierung – die Öffentlichkeit steht unter starkem Transformationsdruck. Das wollen wir antizipativ angehen. Was kommt da auf uns zu?

Von der Kunst lernen
Izzo: Kritisch befragen werden wir auch, wie sehr der digitale Raum von Privaten und der Privatwirtschaft dominiert wird. Ein Beispiel: Die Stadt Zürich hat begonnen, die Kunstwerke im öffentlichen Raum auf Google Maps zu kennzeichnen, weil sich die meisten Leute ja via Google im Stadtraum bewegen. Zu ‹Ganymeds Schwester›, 2003, von Christoph Haerle gibt es aber unter den entsprechenden Koordinaten bereits einen Standorteintrag, in dem die Arbeit als «Kannibalentopf» bezeichnet wird. Seit zwei Jahren versuchen wir, diesen Eintrag zu ändern. Wer entscheidet über die im Web vermittelten Informationen zum öffentlichen Raum?

Schmid: Digitaltechnologien erzeugen Vernetzungen. Wir interessieren uns für die Tools, die genutzt werden, um User:innen zu steuern. Wie können Künstler:innen mit diesen umgehen? Wie können wir Technologien und Infrastrukturen bauen, um Leute in ihren Rezeptionsprozessen zu emanzipieren?

Izzo: Zu solchen Fragestellungen gibt es noch nicht viele künstlerische Arbeiten im Sinne von «Best Practices». Ziel der KiöR ist es, diesbezüglich mit den entsprechenden Kunstschaffenden zusammenzuarbeiten, um solche Arbeiten zu entwickeln.

Polzer: Könnt ihr weitere Beispiele nennen?

Schmid: Interessant ist beispielsweise das feministische Server-Projekt des belgischen Kollektivs Constant, das aus dem techno-feministischen Umfeld stammt. Dieses Kollektiv thematisiert verborgene ideologische Ebenen von Infrastrukturen und entwickelt mit Communities kritische Perspektiven auf Technologien, wobei sie fragen, wie und unter welchen Bedingungen Öffentlichkeit gestaltet werden kann, gestaltet werden muss. Interessant ist weiterhin Aram Bartholl, der 2017 an den Skulptur Projekten Münster teilgenommen hat. Er untersucht die Beziehungen zwischen der digitalen und der physischen Welt, etwa indem er digitale Tokens von Google Maps im analogen Raum nachbaut.

Polzer: Es gibt also konkrete Vorstellungen, wie eine Kunst im postdigitalen Raum aussehen kann, aber wo sollen solche Arbeiten eingebracht werden?

Izzo: In ihrer Anfangszeit wurde die KiöR vor allem im Rahmen von städtischen Vorgaben aktiv. Es hiess: Die Kunst begleitet die Transformationen der Stadt, womit vor allem bauliche Veränderungen gemeint waren. Das wird man auch jetzt nicht aufgeben. So macht man sich bei den neu zu schaffenden städtischen Zentren, beispielsweise in Altstetten, stark für die Stadt der kurzen Wege. Kunst und Kultur werden hier von Beginn an mitgedacht.

Schmid: Aber wir wollen auch dort aktiv werden, wo wir spannende Konflikte feststellen, wo Urbanität entsteht, wo etwas «bottom up» in Bewegung ist. Es wird keinen Stadtkurator mehr geben, wir machen strategische Arbeit, wir öffnen Diskursräume.

Polzer: Neben der KiöR gibt es schon lange die Fachstelle Kunst und Bau, die – nachvollziehbar – beim Hochbauamt angesiedelt ist. Warum ist die KiöR, auch wenn sie nun nicht mehr vor allem städtische Transformationsprozesse begleitet, weiterhin beim Tiefbau und nicht bei der Kulturabteilung verankert?

Izzo: Die KiöR ist ja auch zuständig für die im Stadtraum schon vorhandenen 400 Kunstwerke – und die gehören dem Tiefbauamt. Strategisch könnte die KiöR auch beim Kulturdepartement untergebracht sein, aber beim Tiefbau sind die städteplanerischen Prozesse verankert, und weil es um die Umsetzung des Stadtraums geht, ist die KiöR hier weit besser aufgehoben.

Polzer: Man könnte wohl sagen, die KiöR ist «embedded». Aber diese im herkömmlichen Sinn eher negative Konnotation kann sich als Gewinn herausstellen, da Zürich – um mit Philip Ursprung zu sprechen (→ KB 9/2012, S. 46) – mit der KiöR ein Instrument hat, das hilft, «langfristige städtische Planung und städtisches Zusammenleben zu reflektieren und in einzelnen Punkten zu verbessern». Mit der neuen KiöR, die nicht mehr vor allem affirmativ als Begleitaktion der Stadterweiterung agiert, scheint das tatsächlich möglich zu sein – obwohl ich eine digitale Banausin bin.

Izzo: Die Stadt ist offener geworden, sie ist bereit, von der Kunst zu lernen. Jedenfalls liegt jetzt ein wirklich kritisches Leitbild vor.

Schmid: Uns geht es darum zu zeigen, dass die Stadt gestaltbar ist. Wir wollen Machtstrukturen aufzeigen, aber auch die Möglichkeit ihrer Transformation. Wenn hoffentlich der Gemeinderat Ende Jahr das für die KiöR festgelegte Budget genehmigt, ­werden wir beginnen.

Brita Polzer, Dozentin, Autorin, lebt in Zürich. britapolzer@swissonline.ch

↗ stadt-zuerich.ch/kioer → Buchtipps von Heiko Schmid: Craig J. Saper: Networked art, University of Minnesota Press, 2001; Cornelia Sollfrank, Felix Stalder, Shusha Niederberger: Aesthetics of the Commons, Zürich: Diaphanes, 2021; Magdalena Tyżlik-Carver: Curating in/as commons – Posthuman Curating and Computational Culture, PhD Dissertation, Aarhus University, 2016

Fachgruppe KiöR — Chronologie
2004 Beschluss des Zürcher Stadtrats zur Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt ‹Kunst Öffentlichkeit Zürich› der Hochschule für Gestaltung und Kunst (heute ZHdK)
2006 erstmaliger Einsatz der AG KiöR
2006–2009 Vorsitzende Dorothea Strauss (damals Direktorin Museum Haus Konstruktiv)
2009–2020 Vorsitzender Christoph Doswald (Kurator und Publizist)
Mitglieder der externen Fachgruppe seit Anfang 2022: Heiko Schmid (Vorsitz); Mîrkan Deniz; Studer / van den Berg; Hanna Hilbrandt; Bärbel Küster; Jörg Scheller

Struktur und Leitbilder
Zusammensetzung der Arbeitsgruppe KiöR: jeweils sechs für vier Jahre gewählte externe Fachpersonen und fünf Delegierte verschiedener Ämter der Stadt Zürich (Amt für Hochbauten, Abteilung Kultur, Amt für Städtebau, Grün Stadt Zürich, Tiefbauamt) Aufgabenbereich: Umsetzung strategischer Ziele; Planung und Realisierung von Kunstprojekten im öffentlichen Raum; Bewirtschaftung und Pflege des Bestands
Leitbild 2006–2012: Fokus auf Stadtmarketing und organisatorische Fragen
Leitbild 2013–2021: Standortförderung mit Akzent auf Kunstmarkt und Kreativindustrie
Leitbild seit 2022: Die bildenden Künste in der postdigitalen Gegenwart; Befragung ihrer Rolle bei der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe an diversen Öffentlichkeiten und ökologischer und sozialer Gerechtigkeit

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