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Erik Bulatov und Andrej Molodkin — ‹The Black Horizon›

In der Ausstellung der zwei in Paris lebenden russischen Künstler Erik Bulatov und Andrej Molodkin im BPS22 Hainaut Province's Museum of Art Charleroi (Belgien) werden zwei Pole sozialer Affekte gespannt: individuelle Distanzierung und kollektive körperliche Anteilnahme. Dafür verwenden sie ihre Lieblingsmedien: das Gemälde und die Bluttransfusion.

Die gemalten Worte von Erik Bulatov (*1933) erschienen zum ersten Mal öffentlich in der Kunsthalle Zürich im Jahr 1988. Mit der von Claudia Jolles kuratierten Einzelausstellung bekam der Künstler aus der Sowjetunion mit 55 Jahren die erste Ausstellungmöglichkeit seines Lebens. Auf dem für das Poster verwendeten Gemälde überdeckte wiederholt das rote Wort «Einstimmig/ Единогласно» die Abbildung der synchron abstimmenden Deputaten des sowjetischen Parlaments. Das letzte ins Bild gesetzte Wort des inzwischen in Paris lebenden Künstlers erklingt gemäss seiner eigenen Zusicherung im belgischen Charleroi im Rahmen der Duettausstellung ‹Black Horizon›. Das in manchen westeuropäischen Medien bereits zensurierte Wort «насрать [nasrat`]», zu Deutsch = «Scheiss drauf» oder auch „ist egal“, bezeichnet er als eine Art Testament. Es muss allerdings aufmerksam gelesen werden, um nicht missverstanden zu bleiben. 

Das Werk von Bulatov ist wie immer präzise kalkuliert. Diesmal reduziert auf den Dreiklang Schwarz, Weiss und Rot und im Überformat greift es den Raum der ehemaligen Fabrik auf, der die ideale Bedingungen für die transitive Zentralperspektivierung der Gemäldeserie bietet. Das rote «Scheiss drauf» verdeckt den Fluchtpunkt und verwandelt die Architektur in eine scheinbar nihilistische transzendentale Konstruktion. Der ‹Schwarze Horizont› des Raumes aus dem sich wiederholenden Fluch «scheiss drauf» stellt das historische Update des ‹Roten Horizontes› von 1972 dar. Auf diesem bekannten Gemälde Bulatovs versperrt ein roter Rollteppich einer Gruppe sowjetischer Menschen die Weitsicht in einen blauen Himmel über dem ebenfalls tiefblauen Meer. Für seine Installation ‹Young Blood›  lässt der ebenfalls in Paris lebende Andrej Molodkin (*1966) die Ausstellungsbesucher Blut spenden, das die Lichtboxenskulpturen mit gesetzlich zensurierten Slogans aus der extremistischen Musikszene rot färben und «beleben» soll. Wie der russische Revolutionär und Systemtheoretiker Alexander Bogdanov, der vor hundert Jahren radikale Kunstprogramm des Produktivismus[i]prägte, setzt Molodkin die Bluttransfusion ein, um die Solidarität einer Gemeinschaft im kontrovers-utopischen (Kunst)Projekt sichtbar zu machen und auch materiell zu verwirklichen. Sowohl bei der Auswahl der ultraaggressiven Slogans für die Installation als auch bei ihrem Auffüllen mit eigenem Blut haben die Partizipanten freiwillig abgestimmt – auf einer ganz anderen Ebene der Diskussion – so Molodkin. Diese improvisierte Affektgemeinschaft „des blutigen Karaoke“ (Molodkin) trägt weder moralischen Index noch bestimmte soziale Konturen: extremistische Jugendliche und alte gute Kunstfreunde der Stadt Charleroi stimmen im Namen der Kunst ab, die von Ihnen als letzte Instanz der Freiheit verstanden wird – inklusiv die Freiheit von realen Gewaltzwecken. Mit dem zitierten Slogan „Burn the Tempel“ handelt Molodkin in den Grenzen des Tempels, die noch vom Kant gezogen wurden. 

Ich versuche zu verstehen, was die zwei so verschiedenen Künstler in einem gemeinsamen Ausstellungprojekt verbindet und was trennt? Erstens war es die alte Stahlgiesserei in der südfranzösischen Provinz, die Molodkin aufkaufte, um dort eine kollektive Künstlerwerkstatt einzurichten. Erik Bulatov wurde auch von ihm eingeladen. Jeder der beiden Künstler hat seinen eigenen generationenbedingten Bezug zur Fabrik. Bulatov wuchs in der Zeit der sowjetischen Industialisierung auf, in der die Stahlgiesserei ein wirtschaftlich und ideologisch führender Wirtschaftszweig war. Die Spuren der Fabrikgeometrie sind in seinen früheren Bildern zu finden. Der dreissig Jahre jüngere Molodkin gehört zu der Generation, welche die einstigen Ströme der industriellen Energie in einen Kreislauf der künstlerischen Produktion umlenkt. Die von Künstlern belebte Fabrik begeisterte Bulatov und gab dem überzeugten Ateliermaler zum ersten Mal die Gelegenheit grosse, raumergreifende Objekte industriell herzustellen, oder, gemäss seinem Wort, die Ausweitung des Tableaus in einen realen Raum auszutesten. 

Beide Künstler arbeiten auch mit der visuellen Wirkung von Worten. Während Bulatov Partikel von Alltagsgerede im Bild und Skulptur monumentalisiert, rezykliert Molodkin fluide Lebensstoffe wie Blut oder Öl in Gefässformen der schriftlichen Sprachsequenzen. Beide versuchen dabei der künstlerischen Subjektivität zu entgehen. Bulatov hilft die Standardisierung der Schrift und die Normierung der Bildsprache: Das Wort dringt in sein Werk als Zitat aus dem sowjetischen Alltag, seine Form verdankt es der konstruktivistischen Plakatgrafik. Molodkin bedient sich dagegen der präsubjektiven Formlosigkeit der organischen Materialien, der Anonymität der Donner und der Verfügbarkeit des Internets. In seiner Installation an der Biennale von Venedig 2009 trifft das Blut der in den tschetschenischen Krieg geschickten russischen Soldaten auf das in diesem Krieg gewonnene Erdöl. Nach der Zensurierung der Arbeit im russischen Pavillon bleib ihre kritische Botschaft zwar lesbar, doch die soziale und geografische Konkretheit in Form einer Namensliste der betroffenen Soldaten wurden geopfert.[ii]

Auch die Farbe Rot vereinigt die in einer Ausstellung untergebrachten Slogans von Bulatov und Molodkin. Im streng kodifizierten semantischen System Bulatovs bedeutet Rot „der soziale Raum“, der das individuelle Subjekt zu absorbieren droht. Molodkin, der mit projizierten sprudelnden Blutwellen die ganze Wende „bemalt“, lässt im Rot das biologische und das soziale Leben immanent zusammenbinden. Was spielen die von Molodkin inszenierte Metabolismen aus: Kausalität der politischen Beteiligung, posthuman regulierte Kombinatorik der Kraftströme, ewige Wiederkehr der gesellschaftlichen (Selbst)Zerstörungszwänge im Trieb der Erneuerung, die böswillige Alchemie der humanitären Katastrophen? 

«Alles ist nicht so schlimm/Всё не так страшно» – antwortet darauf der eiserne Skulpturturm von aufeinander gestapelten Worten Bulatovs. Aus seinem Obergeschoss zahnt der Wolkenbügel und der hinaufragende Keil der unteren «A» droht das «Alles» zu zerschlagen. Die harmlose Aussage verwandelt sich im dreidimensionalen Spielraum in eigenes Vexierbild. Nicht nur die Tradition der russischen Avantgarde, sondern auch die anagrammatische Permutationen des Franzosen René Magritte gehören zu Bulatovs Instrumentarium. Wenn den auf dem Boden Stehenden «Alles nicht so schlimm» erscheint, liest man aus der Distanz der Empore: «Alles ist nicht so. SCHLIMM»/ «Всё не так. СТРАШНО». Zudem werden weitere Variationen möglich: 

«Alles» ist nicht so schlimm.   «Все» – не так страшно.

Alles. Ist nicht so schlimm.   Всё. Не так страшно.

Alles ist nicht so rasch /rush.   Все не так раш.

Alles ist nicht so, Russia   Все не так, раш.

Die tröstende Behauptung ist ein Bündel alternativer Möglichkeiten, deren Optimismus von subjektiven Lebenserwartungen und objektivem Standpunkt der Betrachter abhängt. 

Frühere Gemälde Bulatovs zeigten eine aus vielen Vorzeichnungen gewonnene finale Form, das eine subjektive Wahrheit hinter einer äusserst objektivierten Bildsprache präsentierte. Es ging in der Regel um die Wahrheit der individuellen Freiheit, die für den im totalitären Staat gross gewordenen Künstler die einzig mögliche Form der Freiheit ist. Wenn die von Bogdanov inspirierten linken Kunsttheoretiker in den Zwanzigerjahren durch die Abwendung von der Staffeleikunst als individueller Schaffensform eine neue kollektive Freiheit der sozialen Partizipation gewinnen wollten, die auch Molodkin in seinem Werk anspielt, erleben die Künstler der spätsowjetischen Generation ihren individuellen EXIT durch das Gemälde, jenseits der Bildfläche. Zentralperspektivische Flucht kristallisierte sich im Gesamtwerk von Bulatov zum Emblem der Freiheitserfahrung die in jedem einzelnen Fall neu gesucht und gefunden werden sollte. Das Gemälde «ŽIVU-VIŽU»/ «[Ich] LEBE - [Ich] SEHE» (mehrere Versionen in den Achtziger- und Neunzigerjahren) führt diese Freiheits-cogito-Struktur deutlich vor Augen. Etwas anderes findet in der Serie ‹НАСРАТЬ› statt. Neu lässt der fünfundachtzigjährige Künstler eine Pluralität von alternativen Endvarianten des «Exits» aufscheinen, von denen allerdings keine der klaustrophobisch wirkenden Einzelperspektiven den realen Austritt aus einer beengten Realität bereitet. Das hin und wieder auftauchende schwarze Quadrat signalisiert die russische Tradition des Alogismus, der Malevitsch zufolge, jeden zweckmässigen «gesunden Verstand» anzweifelt. 

Das sakramentale Handlungswort, das selbst die Flucht aus der Unmöglichkeit der Flucht darstellt, kam zu Bulatov nicht heute. Seine autobiografische Geschichte, die in die Zeiten des stalinistischen Terrors zurückgeht, erzählt Bulatov in einem Interview im russischen Onlinemagazin ‹Meduza›.[iii] Während seiner Reise nach Samarkand 1957 lernte er – damals noch als Kunststudent – einen Archäologen kennen, den Grafen Sergej Nikolaevitsch Jurenev, der nach Jahrzehnten Stalinlager in Mittelasien zurückgeblieben war. Dieser erwies sich als ein ruhiger, liebevoller Mensch, der trotz seinem harten Schicksal eine sanfte Umgangsart bewahrte. Trotz dem Altersunterschied freundeten sie sich an. Sergej Nikolaevitsch erlaubte Bulatov, sich frei in seiner Wohnung zu leben, nur die mit einem weissen Vorhang abgedeckte Wandnische durfte er sich nicht nähern: Dort sei sein heiliger Ort. Wenn das Leben unerträglich werde, erklärte Jurenev, knie er sich nieder, bete und finde Erleichterung. Bulatov berichtete dann, wie er am letzten Abend bat, ihm das Heiligtum zu zeigen: «Er stand auf, öffnete den Vorhang. Dort an der Wand stand mit Bleistift geschrieben: nasrat`. Nur ein Wort. Das hat mich absolut erschüttert – ich habe mir alles Mögliche vorgestellt, aber dies konnte ich nicht erwarten. Und heute, wenn mir eine abscheuliche Situation die Atmung blockiert und es unerträglich wird, wird es für mich zur einzigen Lösung: Die eigene Sache gut zu tun und auf das, was rund herum passiert, zu scheissen.»

Worauf man scheissen muss, sind sich die beiden Künstler einig. Sie erklären es in ihren Videointerviews auf der Homepage des Museums: auf die Manipulationen der Propaganda, auf die Anreize des Extremismus zur Polarisierung der Bevölkerung. Der Anschluss an den Streit vermindert, ihrer Sicht zufolge, die Quantität des Friedens, wie der Ausschluss Russlands aus der europäischen Gemeinschaft das Regime Putins nun mehrfach bekräftigte. Wenn man es nicht ändern kann, ist es besser, etwas zu ignorieren – so war die Einstellung, die die nichtkollaborierenden sowjetischen Bürger verinnerlichten. Die Verantwortung des Künstlers sah Erik Bulatov schon immer darin, seinen perspektivisch begrenzten Anteil der Welt möglichst klar und aufrichtig zum Ausdruck zu bringen: «Ein wichtiger Faktor ist die Verantwortung. Auch Ehrlichkeit ist sehr wichtig. Die Verantwortung für den Ort, wo du stehst: Du musst keinen anderen Ort beanspruchen und dich des Ortes nicht schämen, wo du stehst, wo du der Formel ‹Ich lebe – Ich sehe› entsprechen musst. Ich habe das Gemälde gemalt, mit dem Wunsch zu sagen: ‹Ich schwöre, nicht wegzuschauen und nicht zu lügen›. Und versuche dem zu entsprechen.»[iv] Die ideologiekritische Haltung, die in den Interpretationen der Werke von Bulatov oft im Vordergrund stand war ein wohltuender Effekt seiner «Grundlagenforschungen» am Gemälde. Dieser Effekt ist laut Bulatov unumgänglich, sobald der Künstler seiner Zeit zur Sichtbarkeit verhilft. «Jetzt betrifft es mich aber persönlich, - sagt Bulatov - in meinem Bewusstsein ist es jetzt so: scheiss drauf. [...] Das ist meine letzte Aussage. Ja, ich werde keine Worte mehr äussern. ‹Nasrat`› ist mein letztes Wort. Es ist wie mein Testament.»[v] Im Gegensatz zu allen früheren, mit Öl auf Leinwand gemalten Worten gehört das serielle ‹Nasrat’› nicht mehr der Hand des Malers. Ob die ersten industriell produzierten Aussagen Bulatovs mit ihrer Ladung des persönlichen Schmerzes eine Ignoranz bedeuten, bleibt den Kritikern zu beurteilen. 

 

[i] Im Gegensatz zu den in der Autonomie des Kunstwerks verharrenden anderen Gruppierungen der linken Künstler, erforderte der marxistische Ansatz des Produktivismus ab 1920 mit dem ganzen System der Kunst zu brechen, das auf Privatbesitz, der Trennung von Produktion und Verbrauch und dem privaten Geschmacksurteil beruhte. Sie betrieb eine radikale Kritik des Gemäldes als Dispositiv der individuellen Kunstpraxis und des von der gesellschaftlichen Produktion entfremdeten Subjektes.

[ii] Vladimir Rajevskij, ‹Eto moe poslednee slovo›. Intervive mit Erik Bulatov und Andrej Molodkin in: Meduza 26.032019, https://meduza.io/feature/2019/03/26/eto-moe-poslednee-slovo-ono-ot-menya-kak-zaveschanie (zugriff 08.04.2019)

[iii] Ebd. Meduza 26.03.2019

[iv] Erik Bulatov, Gorizont, Vologda 2013, 194-195.

[v] Ebd. Meduza 26.03.2019

[1] Im Gegensatz zu den in der Autonomie des Kunstwerks verharrenden anderen Gruppierungen der linken Künstler, erforderte der marxistische Ansatz des Produktivismus ab 1920 mit dem ganzen System der Kunst zu brechen, das auf Privatbesitz, der Trennung von Produktion und Verbrauch und dem privaten Geschmacksurteil beruhte. Sie betrieb eine radikale Kritik des Gemäldes als Dispositiv der individuellen Kunstpraxis und des von der gesellschaftlichen Produktion entfremdeten Subjektes.

[1] Vladimir Rajevskij, ‹Eto moe poslednee slovo›. Intervive mit Erik Bulatov und Andrej Molodkin in: Meduza 26.032019, https://meduza.io/feature/2019/03/26/eto-moe-poslednee-slovo-ono-ot-menya-kak-zaveschanie (zugriff 08.04.2019)

[1] Ebd. Meduza 26.03.2019

[1] Erik Bulatov, Gorizont, Vologda 2013, 194-195.

[1] Ebd. Meduza 26.03.2019

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‹Der schwarze Horizont›, Erik Bulatov und Andrej Molodkin - Ausstellung Charleroi Belgien
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