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Europäische Kulturhauptstadt 2023 — Elefsina: Mysterien, durchnummeriert

Eleusis — Im Grunde ist der Granatapfel an allem Schuld. Wären seine Kerne nicht so süss und weinsatt fruchtig, hätte sich Persephone vielleicht nicht von Hades verführen lassen, einige der herrlichen Samen zu kosten. Hätte sie in der Unterwelt also keine Speisen zu sich genommen, hätte sie den düsteren Ort auch einfach wieder verlassen können, das waren damals die Regeln. Ihre Mutter Demeter, Herrin der Fruchtbarkeit, hätte sich in dem Fall auch nicht aufregen und die Welt nicht kahl frieren müssen … 

Es würde zu tief führen oder zu hoch, hier alle Einzelheiten dieser fruchtsträubenden Geschichte auszubreiten. Kurzum: Persephone teilt sich die Zeit seit der kleinen Granatapfelsünde zwischen Welt und Unterwelt hälftig auf. Der Ort, an dem sie jeweils im Frühling vom Hells Angel zum braven Göttertöchterchen mutiert, damit wieder Leben auf der Erde werde, die Spargeln austreiben können und das Blut in die Zehenspitzen zurückkehrt, liegt nicht weit von Athen entfernt. Eine halbe Marathonstrecke vom Westen der Hauptstadt entfernt, ragt über dem Strand ein Felsen mit einem Loch empor. Und genau da soll Persephone ihre Lederjacke jeweils abgestreift haben, um den Sommer bei Mama zu verbringen.

Natürlich lockte die göttliche Umkleide auch massenhaft Schaulustige an und also musste die Sache irgendwann organisiert werden: Der Mysterienkult von Eleusis war geboren und zog ab der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus massenweise religiös verzückte Touristen an. Fast 2000 Jahre lang liefen die Geschäfte hervorragend, dann kam der römische Kaiser Theodosius I. im Jahre 392 auf die Idee, den Kult per Dekret zu verbieten. Und drei Jahre später legten die Goten unter dem Warlord Alarich hier alles in Schutt und Asche.

Eleusis verschwand für mehr als eineinhalb Jahrtausende sozusagen in seinem eigenen Loch und war allenfalls noch Fischern ein Begriff, die ihre Boote ab und zu an den Säulentrümmern vertäuten. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert entdeckte man den Standort für die Industrie und siedelte allerlei Fabriken und später auch Raffinerien an, von denen einige bis heute ihre Flammentürme in die heilige Luft fauchen lassen. Dennoch fand ein wirtschaftlicher Aufschwung hier nicht wirklich statt. Man versuchte es mit einer Schiffswerft, die jedoch mehr und mehr zum Friedhof mutierte. Ruinen und Wracks versabbern seither ihre Petroleum- und sonstigen Abfälle ungestört in die Bucht, die sich zum Baden folglich gar nicht eignet. 

Das klingt alles nicht nach grosser Zukunft. Doch, und jetzt halte man den Atem an: Die Mysterien sind zurück. Nicht in Gestalt von Persephone zwar, die klemmt wohl irgendwo in der Bucht unter einem gesunkenen Tanker fest, aber in Gestalt der europäischen Kommission, die Eleusis oder vielmehr Elefsina, wie das 3000-Seelen-Dorf heute heisst, zur europäischen Kulturhauptstadt 2023 erkoren hat – gemeinsam mit dem ungarischen Veszprém und dem rumänischen Timișoara.

Zweifellos ein grosses Ereignis für das kleine Städtchen. Zweifellos eine Chance, kulturell wieder mehr zu werden als eine Siedlung mit endlosen Umweltproblemen am Rande einer antiken Ruinenstätte.

Michail Marmarinos, Schauspieler, Regisseur und künstlerischer Leiter des Projekts, verkündete zur Eröffnung mit plutonischem Lächeln, es werde in diesem Jahr ebenso um sichtbare, konkret fassbare wie auch um nicht greifbare, nicht sichtbare Werte und Bedeutungen gehen. Mehr als zweihundert Projekte listet der Katalog, Marmarinos hat sie alle kurzerhand ‹Mysterien› getauft und durchnummeriert.

Vorerst gibt es im Raw Museum eine kleine Ausstellung über die Geschichte von Elefsina zu sehen, in der es stark auch um die Griechen aus Kleinasien geht, die man bei der ethnischen Rochade nach dem türkisch-griechischen Krieg 1922 hier ansiedelte. In den Betonhallen einer alten Ölmühle gibt es eine Mehrkanal-Videoinstallation von Heiner Goebbels zu bewundern und daneben eine Ausstellung über Melina Mercouri, die Filmschauspielerin, Kulturministerin und Mitbergründerin des Konzepts der Europäischen Kulturhauptstadt. Ausserdem kann man sich im Rahmen einer performativen Führung den Reiz der antiken Ruinen vorführen lassen.

In welchen Geist es weitergehen könnte, machte im frühen Februar die grosse Performance zur feierlichen Eröffnung deutlich. Während sich das Publikum, kurz nach einem Regenguss, am Ufer mit allerlei Alkoholika oder griechischer Kamille gegen Nacht und Kälte zu wärmen versuchte, fuhren die romantischsten Schiffe aus dem nahen Hafen auf, von einer Orgel aus Scheinwerfern effektvoll in Szene gesetzt. An Deck einer jeden Barke ein paar Bläser, deren Klänge sich allmählich dem Ohr der Versammelten nähern und sich schliesslich symphonisch vermischen sollten. Eine schöne Idee, die den dunklen Raum der Bucht auf feine Art erlebbar gemacht hätte. Hätte, denn zugunsten der Dezibelsteigerung liefen all die mühevoll produzierten Einzeltöne von all den schönen Booten in kräftiger Verstärkung durch ein und dieselbe Lautsprecherwand, wo sich überdies Chorgesänge und dumpfes Wummern dazu mischten. Mir kam das vor, als giesse man ein Thousand-Island-Dressing über einen Salat aus gartenknackigem Gemüse und bestem Fetakäse. Aber ich bin ja kein Musikkritiker und es kann gut sein, dass ich den Höllenbrei einfach nicht richtig verstanden habe. Sicher aber ist: Mir war die ganze Zeit über so kalt, dass ich mir wünschte, Persephone hätte die Finger von dem Granatapfel gelassen. Denn dann hätten wir zwar keine Mysterien in Eleusis, aber auch keinen Winter.

 

Informationen und Veranstaltungsprogramm:
https://2023eleusis.eu

 

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