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LaToya Ruby Frazier – «Braddock ist überall»

Genf – Im zurzeit räumlich extra erweiterten Centre de la photographie Genève trifft eine Retrospektive der afroamerikanischen Fotografin LaToya Ruby Frazier (*1982, Braddock/Pennsylvania) eindringlich auf eine Dokumentation zu den Anfängen der Fotoreportage in Frankreich im Dienst ökonomischer und sozialer Gerechtigkeit zwischen 1928 und 1936. Geht die Manifestation zu Frazier auf das Mudam Luxembourg zurück, ist das historische Projekt unter dem unmissverständlichen Titel ‹Photographie, arme de classe› vom Centre Pompidou mit zahlreichen akademischen und musealer Fachleuten – darunter dem Direktor des Centre de la photographie Genève Jörg Bader – erarbeitet worden.

In Fraziers Bildern wird Arbeitergeschichte, als das deutlich, was sie aufgrund des für ein Individuum nur in Ausnahmefällen durchbrechbaren Klassensystems ist: Familienerfahrung. In vierter Generation in eine Stahlarbeitersippe von Braddock in der Agglomeration von Philadelphia hineingeboren, hatte sich während ihrer ganzen Kindheit bereits zeichnerisch und malerisch intensiv mit ihrem Leben auseinandergesetzt. Als Teenager fing sie darüber hinaus an, ihre von Entindustrialisierung, Umweltverschmutzung, Kapitalflucht und Staatsrückzug sowie nach wie vor unbewältigtem Rassismus und Sexismus gebeutelte Familie und Nachbarschaft zu fotografieren – mit zunehmendem Sinn für Strukturelles. So hatte sie mit 17 Jahren das Glück, an der Edinboro University of Pennsylvania auf die Fotografin Kathe Kowalsky zu treffen, die sie in Roland Barthes wie auch die feministische Theorie einführte und zu einer wichtigen Mentorin wurde. 

Der gewichtigste der drei von LaToya Ruby Frazier gezeigte Werkblock besteht aus einer Auswahl der Fotografien aus ihrem Langzeitprojekt ‹The Notion of the Family› von 2001 bis 2014, in dem sie anders als die engagierten Fotografen Dorothea Lange und Walker Evans während der Great Depression die postfordsche Krise der Arbeitergeschichte seit mittlerweile zwei Generationen von Innen zeigte. Die Menschen in ihren Bildern haben Vornamen, Mittelnamen, Nachnamen – und Kosenamen. Sie stehen miteinander in Beziehungen, in welche die Fotografin selbst mit der existentiellen Frage eingebettet ist, ob sie darin alles Nötige für ihre Entwicklung und Entfaltung findet, angefangen mit Nahrung, Luft und Wasser, aber auch emotionale Zuwendung und intellektuelle Anregung. Nicht nur spielen Selbst- und Generationenbildnisse in ihrem Werk eine grosse Rolle. Auch sehr intime Momente wie die aufreizenden Berührungen eines der Geliebten ihrer Mutter oder das Saubermachen des gebrechlichen Ehemannes der Grossmutter werden behutsam in Kompositionen gebracht, welche durch die häufige Verwendung angeschnittener Figuren in den grossformatig abgezogenen Positiven mitten in das Geschehen hineinführen, wenn auch das dramatische Schwarzweiss der Silbergelatine die Mediatisierung nie vergessen lässt. 

Zusammen mit Aussenansichten von Braddock setzt sich so eine Narration über eine Umgebung in Gang, in der jeder Lebensabschnitt zu einer immer grösseren Herausforderung wird. Richtig schlimm wird alles für die Familie Frazier, als die «Momme» erkrankt, aber mitten in der Behandlung das Spital geschlossen wird, mit dem auch noch letzte ausschlaggebende Arbeitgeber aus der Vorstadt verschwindet. Zugleich kommen sich Mutter und Tochter aber berührend näher, hatte die «Momme» aufgrund ihrer unsteten Existenz doch die kleine LaToya Ruby vermutlich klug bei der obsessiv puppensammelnden und grossen Wert auf gepflegte Kleidung wie auch generell Haltung und Leistung legende Grossmutter Ruby aufwachsen lassen, die Braddock noch florierend mit sinnstiftenden Arbeits-, Bildungs-, Aufstiegs- und Vergnügungsmöglichkeiten gekannt hatte. 

Der zweite Werkblock in der Retrospektive stellt hingegen eine flammende Ehrerweisung an die afroamerikanische Schriftstellerin und Kunstschaffenden Sandra Gould Ford dar, von der Frazier erst erfahren hat, als sie selbst schon als eine der bedeutendsten Fotografinnen ihrer Generation erkannt worden war und einen Lehrstuhl für das Medium an der Harvard University erhalten hatte. Dabei war Ford zeitlebens in der gleichen Nachbarschaft als Stahlarbeiterin, Gewerkschaftlerin und Intellektuelle aktiv gewesen und den (wenigen) Promotoren/-innen und Kritiker/-innen afroamerikanischen Kulturschaffens durchaus ein Begriff. Auf tiefblauen Cyandabzügen erhebt die Fotografin Ford oft eingemittet in einem Lichtkegel zur Ikone, beim Schreiben, Nähen und Lesen in der Braddock Carnegie Library, welche 1885 die erste dieser vom gleichnamigen Stahlmagnaten geschaffenen Institutionen war und in den siebziger Jahren nur knapp durch ein Bürgerkollektiv vor dem Verfall gerettet werden konnte. Zugleich spitzt LaToya Ruby Frazier in diesen auf die Jahre 2015 zurückgehenden Bildern ihr Anliegen zu, das Übersehene, Missverstandene, Vernachlässigte zu Gesicht zu bringen. 

Der letzte Werkblock ist in diesem Sinne eine von fotografischen Aufnahmen wie auch textuellen Aufzeichnungen von Genealogien lebende Wiederbegegnung mit den Nachfahren der Arbeiter/-innen des riesigen Mienengebietes Borinage in Belgien. Nathlos führt diese in Zusammenarbeit mit dem MAC au Grand Hornu inmitten des Gebietes erarbeite Ausstellungs zur historischen Ausstellung zurück, die eine Rekontextualisierung der nach dem Zweiten Weltkrieg oft etwas als «humanistisch»  verbrämte Fotoreportage leistet. So gehörten ein Henri Cartier-Bresson, eine Gisèle Freund, einen Robert Doisneau, Germaine Krull, eines George Brassaï oder eine Dora Maar alle Vereinigungen an, die sich für die Rechte der Arbeiter/-innen stark machten wie auch gegen den Imperialismus, Kolonialismus und Militarismus im neuen, geschniegelten und gestriegelten Gewand des Faschismus kämpften, notabene der Association des écrivains et des artistes révolutionnaires, die eng mit den Amateurs photographes ouvriers kooperierte, welche die ersten kritischen Fotomagazine oft anonym belieferten. Solidarisch unter sich und mit den unterprivilegierten Klassen suchten diese Fotografen/-innen sich programmatisch der Verführung durch eine fesche Fotografie entgegenzustellen, die mit dem inneren Vakuum der Menschen spielte. Nicht anders als in einem beschwerlichen, aufreibenden Widerstand entstand die lebendige Fotoreportage, welche nicht anderem als der Wahrheit über das Leben der kleinen Leute verpflichtet war – ihre immer wieder bedrängten Verhältnisse, aber auch ihre Zusammenschlüsse, Streiks und Demonstrationen wie auch ihre Funken sprühenden Kulturmanifestationen und Sportveranstaltungen – und nicht zuletzt ein anderes Bild der Farbigen um den Globus zurückspielte als eine Entstellung als primitiv.

Die Ausstellung bringt zu Bewusstsein, wie sich bei der Ankunft jedes neuen Mediums auch die Machtverhältnisse neukonfiguriert werden. Noch ist unklar, wie sich die digitale Revolution längerfristig auf die Ökonomie, Gesellschaft und Kultur auswirken wird. Aber im Moment geht es den Schwächsten vielerorts weniger gut als vorher!

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Centre de la Photographie Genève
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Genève

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Latoya Ruby Frazier - Ausstellung Genève Schweiz
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Genève
Schweiz