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Marie Angeletti — Lunatisch

Genf — In den Vitrinen des Centre d’édition contemporaine/CEC spiegeln sich zurzeit parkierte Autos, im Mittelgrund rotweisse Bauschranken, im Hintergrund die Trauerweiden des Cimetière des rois – das Freilichtpantheon von Genf mit den Grabstätten der vergessenen Nomenklatur der Stadt, aber auch Berühmtheiten von Jean Calvin bis zu Robert Musil und J. L. Borges oder auch der im Moment wiederentdeckten Alice Rivaz. 

Ringen heute die Institutionen um eine Entgrenzung zwischen innen und aussen, wirkt das normalerweise wie ein Aquarium aussehende CEC mit der Ausstellung von Marie Angeletti (*1984, Marseille) nun tagsüber wie ein Block. Solange die Sonne am Himmel steht, zieht die in der Schweiz einzigartige, auf Druckgrafik und Multiples spezialisierte Kunsthalle keinen Blick mehr an. Zu alltäglich wirken die verspiegelten Flächen, hinter denen sich meist Büros und Krippen, Laboratorien und Praxen verstecken, die in den letzten Jahren vermehrt in den Ladenlokalen eingezogen sind. Erst während der Abenddämmerung werden die zwei Säle des CEC wie durch einen grauen Schleier hindurch als grell erleuchtete Bühnen sichtbar, um in der Morgenröte wieder überblendet zu werden – vom Spiegelbild der urbanen Banalität vor dem weihevollen Friedhof, der ein kollektives Gedächtnis schafft. 

In der Schau der französischen Künstlerin gerinnen dagegen persönliche Erinnerungen zu einem melancholischen Rätsel. Die sich seit Jahren radikal mit der Verflüssigung der Bilder im Zeitalter ominpräsenter Aufnahme-, Vervielfältigungs- und Verbreitungsgeräte beschäftigende Künstlerin kommt darin auf ihren Velounfall kurz nach den Absprachen zur Ausstellung mit der Leiterin des CEC, Véronique Bacchetta, zurück. Mit Blaulicht kam sie 2018 nachts in die Diagnoseräume und Operationssäle eines Spitals in Berlin. Das Ausheilen der Wunden und des Schocks dauern bis heute an.

Ursprünglich dachte die Künstlerin daran, letzterer als Folge einer zufälligen Konstellation zwischen unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern durch eine Transformation des CEC in so etwas wie einen riesengrossen Flipperkasten zu versinnbildlichen. Sie entschied sich jedoch stattdessen dazu, Boccia-Kugeln in der Ausstellung auszulegen. Diese erscheinen im Scheinwerferlicht in steriler Kühle. Dazu musste sie Marie Angeletti jedoch erst auf Hochglanz poliert. Dabei liefen sie heiss und begannen zu stinken. An 13 Tagen zwischen dem 2. und 23. schaffte Marie Angeletti zwischen 16 und 56  Bällen, wie sie es im Begleittext zur Ausstellung festgehalten hat. In der säuberlichen Messung dieser körperlichen Performance mag dabei noch die Kontrolle der Fortschritte ihrer Gesundung mitgeschwungen haben. 

Dieser Prozess wird auch in ihren Bildern evoziert, welche die Wände auf Augenhöhe durchziehen. Fotografien, die sie 2019 im Spital geschossen und anschliessend auf unterschiedliche Weise manipuliert hatte, erscheinen nun wie Grisaillen, deren Gegenstand in der Materie versunken ist. Zum Teil bereits für frühere Ausstellungen auf silberbeschichtetes Papier abgezogen, übermalt und überzeichnet, haben sie ihre Farben zugunsten eines Hell-Dunkel- und Glänzend-Matt-Spiels verloren. Wie im Traum scheinen da eine Wirbelsäule, dort ein Nervensystem auf. Oder es taucht eine verschwommene Verdoppelung der Halskrause auf, die sie für lange Monate auf Schritt und Tritt begleitete. Durch den weiten Abstand zwischen diesen schwer zu kategorisierenden Bildern wie auch deren verspiegelte Rahmung erscheinen sie wie einzelne Tunnels, die von der Gegenwart in die Vergangenheit führen und zwar mit ebenso diffuser Atmosphäre wie sie nun im CEC herrscht. 

Véronique Bacchetta, die seit ihrer Übernahme des CEC 1992 mit Hunderten von Künstlern und Künstlerinnen zusammengearbeitet hat, wunderte sich darüber, wie lange Marie Angeletti das Dispositiv der Schau bis zur Vernissage im Fluss hielt. Die quecksilbrige Stimmung, die nun im CEC herrscht, zeugt nicht nur von den vielen schlaflosen Nächten und den im Dämmerlicht verbrachten Tagen der Künstlerin in den letzten zwei Jahren. Mit dieser Schau konzentriert Marie Angeletti vor allem die von ihr bislang durch kompromisslose Vertiefungen und Ausreizungen bewusst gemachten Faktoren, die Bilder und natürlich auch jedes andere Ding an und für sich und in unserer Wahrnehmung instabil und zugleich einmalig machen. Und zwar auf die beiden klassischen: Zeit und Licht. 

Institutionen

Titel Land Ort Details
Centre d'édition contemporaine
Schweiz
Genève

Künstler:innen

Details Name Portrait
Marie Angeletti

Ausstellungen / Events

Titel Datum Typ Ort Land Details
Ram — Marie Angeletti - Ausstellung Genève Schweiz
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Ausstellung
Genève
Schweiz