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Noomi Gantert — Neues anzetteln, Bild für Bild

Noomi Gantert verfolgt seit Jahrzehnten unabhängig von einem Echoraum ihre Projekte – und das mit unglaublicher Hingabe und eigenen Vorstellungen verpflichtet. Um ihre grossformatigen Bildteppiche zu platzieren, braucht es weite Wände: So sind es denn vor allem öffentliche Sammlungen, die Werke von ihr erworben haben. 

Durch ein Vorgärtchen geht’s zum Reihenhäuschen am Zürcher Stadtrand. Die Diminutive sind nicht angebracht und falsch liegt, wer eine kleine Welt erwartet. Im Innern des Hauses führen von zahlreichen Marionetten aus Burma gesäumte Treppen über fünf Stockwerke in Räume voller Bücher. Ein beeindruckender Kosmos tut sich auf. Und der Blick schweift weiter über die Terrasse auf einen Baumgarten. Hier lebt die 84-jährige Noomi Gantert (*1937) allein, seit ihre drei Kinder ausgezogen und ihr Mann vor 17 Jahren verstorben ist. Ihr Daheim war stets Ort des Wohnens und Arbeitens zugleich. Nicht immer in diesem Haus, aber stets in Zürich. 

Noomi Gantert durchwirkt ihren Lebensraum, von der Küche bis unter die weissen Sparren des Daches, wo sich die Künstlerin «wie auf einem Schiff» fühlt und wo ein Teppich auf den rohen Bodenbrettern liegt, der ihr jüngstes Werk ist. Respektive die Hälfte davon, denn die andere Hälfte von ‹Memories› ist noch in den Webstuhl eingespannt. Vor diesem Webstuhl beginne ich zu begreifen, wie die Künstlerin vorgeht. Am Hochwebstuhl schickt Noomi Gantert die Fäden nicht mit einem Schiffchen geschwind durch die Kette, sondern sie hält die Fäden buchstäblich selbst in der Hand. Mit den Litzen trennt sie die hinteren von den vorderen Kettfäden und führt dann den Büschel mit dem Schussfaden von Hand ins Gewebe ein. Dabei folgt sie Entwürfen – interpretierend, nicht sklavisch – die hinter den Kettfäden angebracht sind. Die farbigen Entwurfszeichnungen sind eine eigene Disziplin der Künstlerin. Sie wollte in ihrer Jugend Malerin werden und schulte sich an der Ecole des Beaux Arts in Genf, bevor sie nach einer Ausbildung zur Zeichenlehrerin in Israel und einem halbjährigen Aufenthalt in Paris zu ihrer Kunst des Bild-Webens fand. 

Aufwändig erarbeitete Unikate

Vor allem Eindrücke von Fundstücken aus der Natur sind es, die Noomi Gantert in Zeichnungen verarbeitet: Blätter, eingetrocknete Blütenteile, Knollen, Schnipsel, Fetzen, natürliches Gespinst – «je banaler, desto lieber». Die kleinen Zeichnungen vergrössert sie auf Formate, die sie dann 1:1 in ihre Bildteppiche übersetzt. Am Webstuhl sitzend greift sie zu farbigen Fäden aus Wolle und Leinen, die wie Farbtuben neben dem Webrahmen bereitliegen. Noomi Ganterts Bildteppiche sind Unikate, sie entstehen in einem mehrstufigen und zeitlich sehr langen gestalterischen Prozess. Sie übertragen nicht mechanisch die Vorlagen und sind nicht technisch reproduzierbar. Das unterscheidet Noomi Ganterts Werke denn auch von Bildteppichen von Künstlerinnen und Künstlern, die ihre – oft am Computer entwickelten Entwürfe – in Webereien umsetzen lassen. «Das Handwerk beinhaltet viele Bedingungen, und diese Eigenheiten wirken gleichberechtigt nebst meinen Entwürfen und meinem Kopf bei der Entstehung der Teppiche mit», sagt die Künstlerin. «Meine Bildteppiche entstehen in einem permanenten Dialog zwischen den Entwürfen und der handwerklichen Umsetzung. Kunstschaffende, die ihre Werke digital entwerfen und von High-Tech-Webstühlen herstellen lassen, sind gewissermassen in einem schnellen Auto unterwegs – ich ziehe ein Leiterwägeli. Mit einer Manufaktur zu arbeiten würde mir nicht entsprechen – ich möchte über jeden Millimeter meines Werkes selbst entscheiden. Langsames Arbeiten und Expressivität widersprechen sich nicht – die Ausdruckskraft steigert sich im Dialog.» 

Den Dialog zwischen Handwerk, künstlerischem Entwurf und ihrem Gestaltungswillen lebt sie besonders intensiv, seit ihr Mann gestorben ist. Zuvor dialogisierte sie mit ihm in einer konstruktiven, einzigartigen Arbeitsgemeinschaft und entwickelte aus ihr heraus ihre eigene Bildsprache. «Was immer er als Grafiker und Künstler und ich als Künstlerin taten – wir blieben im Gespräch und mischten uns gegenseitig ein.»

Das Eigene finden

Alles begann damit, dass sie Entwürfe ihres Mannes Hans Gantert in Gewebe umsetzte. Und als es darum ging, einen Wandbehang fürs Zuhause der jungen Familie zu schaffen, kreierte sie diesen kurzentschlossen zusammen mit ihrem Mann selbst.

Ab da kam eins zum andern, Noomi Gantert entwickelte stetig ihre Technik und ihre Bildwelt: «Es war gar nicht so einfach, mein Eigenes zu finden.» 1972 entstand ein Bildteppich fürs MNG Rämibühl, eine Auftragsarbeit für ihren Mann, der auch als Zeichenlehrer tätig war. Ab 1974 dann begann Noomi Gantert eigene Projekte zu entwickeln. Sie strebte einen subjektiveren Ausdruck als die grafisch perfektionierten Arbeiten ihres Mannes an. Den Übergang zu ihrem eigenständigen Schaffen markierte das ‹Sklavenschiff›, ein 506 x 180 Zentimeter messendes Werk, mit dessen figurativ formulierter Inhaltlichkeit sie sich aus der Formensprache ihres Mannes löste. Als Vorlage diente ein Stich aus dem 19. Jahrhundert, der ein Sklavenschiff in Aufsicht zeigt. Für die Ausgestaltung benötigte Noomi Gantert zwei volle Jahre – eine Dauer, die auch das Gewicht des Themas reflektiert.

Das Arbeiten mit figurativen Elementen trat fortan eher in den Hintergrund. Noomi Gantert begann aus Fundstücken der Natur zu schöpfen, ihre Eindrücke zu abstrahieren und sie zeichenhaft reduziert einzuweben. «Hat der Blick sich einmal entzündet, braucht es ganz wenig, um ins Feuer zu kommen. Ich entwickle viel mehr schöpferische Fantasie, wenn ich mich der Natur unterordne und nicht einfach selbstherrlich alles aus mir herauspressen will. Dabei bestünde auch die Gefahr, mich zu wiederholen. Meine Entwürfe sollen so dicht und komplex sein, dass ich damit ein Jahr verbringen mag. Ziel ist es, dass sich die Herstellung des Teppichs untrennbar mit dem Entwurf verbindet: Es geht nicht anders, als dass dieses bestimmte Bild gewebt ist.»

Stilles Werk im Sturm 

Ihre letzte fertiggestellte Arbeit fusst auf der Begegnung mit dem Herbarium von Rosa Luxemburg. Die in einer Faksimile-Ausgabe (Dietz, Berlin 2016) einsehbaren Hefte der Botanikerin und Sozialistin erzählen von einer Hingabe an die Welt alltäglicher – nicht exotischer  –  Gräser, Blätter und Blumen, die Noomi Gantert aufgewühlt, ja, wie sie sagt, «zutiefst erschüttert» hat. In ihren fünf letzten Lebensjahren und selbst noch auf den Spaziergängen im Gefängnishof kurz vor der Ermordung hat Rosa Luxemburg Pflanzen gepflückt, hat sie getrocknet, eingeklebt, mit wissenschaftlichen Namen versehen und inmitten des politischen Aufruhrs ein geerdetes, stilles Werk geschaffen. Solche Hingabe und Verausgabung muss Noomi Gantert vertraut sein: Wie sonst wäre es möglich, Tag für Tag, monatelang für einen einzigen Teppich vor den Kettfäden zu sitzen, sich das entstehende Bild völlig zu eigen zu machen, «intuitiv-wohlüberlegt» die Farben zu wählen, zu memorieren, welche Schussfäden zu greifen und an welcher Stelle sie in die Kette einzufädeln sind, damit jenes Bild entstehe, das dessen Vorzeichnung zwar inspiriert, aber niemals vorwegnimmt. Geduld und Durchhaltevermögen sind vonnöten – aber nicht nur: «Das innere Feuer ist viel wichtiger als Disziplin. Es braucht unendlich viel Fantasie, um ein Werk auszudenken. Dazu Beweglichkeit, Nahrung von überall her. Ich will, dass äussere Dinge einfliessen. Dafür muss ich lesen, hören und vor allem schauen. Die Hingabe ans Schaffen führt dann zu einem Erlebnis mit dem Werk, das grösser ist als alles, was man eingebracht hat, und wichtiger als jedes Echo und Erfolg.»   

Für ‹Memories›, ihr jüngstes Werk, sitzt Noomi Gantert bis zu fünf Stunden täglich am Webstuhl und fügt Felder von 30 x 35 cm zu einem 255 x 360 cm messenden Bild. Die Farben Beige, Braun, Grau, Gold, Schwarz und Weiss sollen zu einer Fläche zusammenwachsen  ̶   die Grösse des Bilds soll das Gefüge aus Wolle und Leinen aus Distanz besehen schwingen und schweben lassen. Feinste, von Kapselformen und den Konturen von Schweizer Masken inspirierte Zeichnungen sind eingebracht. 

Ob sie sich nach der Fertigstellung müde zurücklehnen wird? Ob sie in ein Loch fällt? «Nein, nein. Schon während ich arbeite, überlege ich, was als Nächstes kommt, skizziere vielleicht etwas am Ende des Tages. Als Erstes wende ich mich nach einem Teppich etwas anderem zu, ruhe die Augen aus, indem ich zum Beispiel Fotos aus Zeitungen in Hefte klebe. Die Beschäftigung mit unserem alltäglichen Bilderschatz und der Kunst bleibt unerschöpflich.» Solchermassen genährt, beginnt Noomi Gantert dann wieder, die Kettfäden für ein nächstes Projekt am Webstuhl «aufzubäumen», einen «Zettel» für den nächsten Bildteppich bereitzustellen und dranzubleiben, an dem, was sie für sich vor Jahrzehnten angezettelt hat: «Aufgeben ist nicht meine Sache – ich habe noch nie einen Teppich abgebrochen.» 

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