Thomas Julier — Ambivalenzen nähren, Widersprüche produzieren
Thomas Julier — Ambivalenzen nähren, Widersprüche produzieren
Im Park des Kulturzentrums Les Arsenaux in Sion steht ein junger Mann vor Lemme, einem kleinen Betonkubus mit Fenstern, den der Künstler Pierre Vadi zugleich als Skulptur und Ausstellungsraum konzipiert hat. Thomas Julier justiert am offenen Fenster die sogenannten «Transducer», die den Schall auf den Fensterscheiben transformieren und die Kleinarchitektur über einen Synthesizer in einen Klangkörper verwandeln. Der Sound ist eine Art Echo auf Juliers Jugend in Brig, die von Techno-Raves und MTV geprägt war und die der Künstler mit seiner Intervention in Lemme als Teil seiner ästhetischen Sozialisierung zur Diskussion stellt.
Zwei Filmelemente in den Schaufenstern ergänzen die Installation ‹Dawn Chorus Protocol›: Die Videoanimation aus dem Werkkomplex ‹Puzzle of a Maze›, 2022, zeigt in einem leeren Raum ein kugelförmiges Objekt, das um die eigene Achse rotiert und dabei immer wieder in einzelne Scherbenteile zersplittert, um sich erneut zu einem Ganzen zu fügen. Rund um die Splitterteile dieses Orbits hat Julier einen vielschichtigen Werkkorpus geschaffen, der das Wechselspiel zwischen digitalem und realem Raum auslotet. Die zweite filmische Arbeit stammt von einer Wärmebildkamera, die auf dem Dach einer Genossenschaftssiedlung im Zürcher Letzigraben aufgestellt wurde. Die Kamera nahm die urbane Landschaft am Käferberg in knalligen Bildschirmfarben auf. Der Himmel ist blau, Wolken und Nebel werden grün, die Gebäude rot, orange und gelb angezeigt. Ausgelöst wurden die Videoaufnahmen durch Objekte aus der Luft, vor allem Vögel, die vor der Kamera vorbeizogen. Das fertige Video ‹Chameleon Eyes›, 2020, besteht aus den so entstandenen, aneinandergehängten Clips – kurze, dunkle Linien und Flecken vor medienbunter Landschaft.
Was ist visuelle Repräsentation?
Thomas Juliers Praxis entfaltet sich über das digitale Bild, das er in subtilen Installationen einsetzt. Er konfrontiert darin die Betrachter:innen mit Fragen nach dem Status und der Bedeutung des erzeugten Bildes und nach dem Einfluss, den es auf unsere Vorstellung von Welt hat. Denn Julier interessiert sich sowohl für die Konzeption fotografischer Standbilder, animierter Bilder oder digitaler Filmstills als auch für ihre Umsetzung in einem physischen und gedanklich-virtuellen Ausstellungsraum. Zentral wird dabei immer wieder die Frage der bildlichen Repräsentation – eine Frage, die sich an der Schnittstelle von Ästhetik und Philosophie bewegt. In Anlehnung an diese Disziplinen macht Julier in seiner Arbeit stets deutlich, dass ein Bild von zwei Elementen gekennzeichnet ist: vom dargestellten Objekt und von der Art der Darstellung.
Der Künstler nennt in diesem Kontext gerne Nelsen Goodmans Buch ‹Weisen der Welterzeugung›, 1990, welches das besondere Verhältnis vom symbolischen Gehalt des Bildes und seinen Denotaten, den bezeichneten Gegenständen also, beschreibt. Diese Denotationen bestimmen in hohem Masse Juliers Arbeit. Insbesondere beschäftigt er sich mit Bildern und Objekten aus der Museumswelt oder aus der Wissenschaft – bestehenden Bildwelten also, die bereits codiert sind. Immer wieder gerät dabei die Darstellung des Körpers in seinen Fokus. Er untersucht Körperabbildungen durch die Präsentation verschiedener Objekte: Fotografien, digitale Zeichnungen, aber auch Skulpturen und Puppen. Diese Vielfalt an Gegenständen und Medien dient ihm dazu, verschiedene Arten des Sehens zu beschreiben und Techniken des Machens zu erforschen: «Es ist mir ein Anliegen, dass konzeptuelle Fragestellungen in meinen Werken sinnlich erfahrbar und intellektuell fassbar werden.»
Dabei zerlegt und rekonstruiert Julier das Wesen der Körper durch ihre digitale Reproduktion, indem er das gefundene Objekt auseinandernimmt, es in Serien und Fragmenten im virtuellen Raum neu komponiert und so die Symbolik des Dargestellten hinterfragt. Oft benutzt er Technologien, die in der Archäologie, der Forensik oder auch in Computerspielen zum Einsatz kommen: Fotoscans, Fotogrammetrie, Rendering und 3D-Animationen.
In einer Therme in Rom fotografierte der Künstler beispielsweise mit einer manipulierten Digitalkamera antike römische Statuen, die von Spuren der Zeit markiert waren. Die Kamera registrierte einzig das für den Menschen unsichtbare Infrarotlicht. Die Aufnahmen zeigen die Skulpturen durch einen blauen Film. Der Prozess dieser Bildproduktion verleiht den Statuen eine rätselhafte Präsenz, die an die Geister- und Aurafotografie des 19. Jahrhunderts denken lässt.
Oft stellt er auch im «realen» Raum diesen fotografischen und druckgrafischen Serien physische Objekte zur Seite. Er konzentriert sich dabei auf die Fragmente von Schaufensterpuppen sowie auf eine zerbrochene Gipsskulptur aus der Sammlung des Kunstmuseum Glarus: ein Faun von Johannes Leuzinger (1789–1855), der ihn wegen seiner Versehrtheit fasziniert. Durch die Wahl spezifischer Unterlagen für die Objekte in der Ausstellung – Regale, Rahmen, Teppiche – thematisiert der Künstler in seinen Installationen auch die Tätigkeit des Ausstellens und Zeigens.
Raffinierte mediale Beziehungen
Die vielseitigen medialen Transformationen und Übersetzungen sind zentral in Thomas Juliers Werk. Er interessiert sich für Konzepte von Computersprachen und AI-Applikationen, mit denen er seine durch Kameras produzierten Aufnahmen weiterbearbeitet. Nach seinem Studium der bildenden Kunst und Fotografie hat er angefangen, hinter die Realität der Kamerabilder zu schauen und die Medienspezifität von technischen Aufnahmegeräten gezielt einzusetzen. Das Konzept der «Camera arts» des avantgardistischen Fotografen und Experimentalfilmers Hollis Frampton (1936–1984) ist wichtig für ihn: «Kamera- und computergenerierte Bilder werden in immer raffiniertere Beziehungssysteme eingebettet, mit denen ich mich in meiner künstlerischen Arbeit auseinandersetze.»
So konfrontiert der Künstler bewusst unterschiedliche Lesarten und Stimmungen von virtuellen und analogen Bildern miteinander, um Widersprüche zu erzeugen. Viele seiner Arbeiten entstehen über einen langen Zeitraum hinweg und werden in unterschiedlichen Kompositionen weitergedacht, wie beispielsweise in der Ausstellung bei Lemme in Sion, wo drei eigenständige Werke im Kubus aufeinandertreffen. Durch die räumliche Präsentation und Inszenierung kommunizieren und interagieren Thomas Juliers Bildwelten immer wieder neu miteinander.
Sibylle Omlin, Kunstwissenschaftlerin und Autorin, lebt in Aven und Zürich. sibylle.omlin@gmail.com
→ ‹Thomas Julier – Dawn Chorus Protocol›, Lemme, Les Arsenaux, Sion, bis 11.3. ↗ www.lemme.com
Thomas Julier (*1983, Brig) lebt in Zürich
2006–2013 Studium Fotografie und Fine Arts, Zürcher Hochschule der Künste ZHdK
2010–2013 Co-Kurator des Ausstellungsraums Taylor Macklin, Zürich
2016–2021 Gastdozent an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK
Seit 2021 PhD-Kandidat am Collegium Helveticum, ETH Zürich
Einzelausstellungen (Auswahl)
2022/23 ‹On Display›, openspace, Nancy
2022 ‹Puzzle of a Maze›, The Lighthouse, Zürich
2020 ‹A Knife is a Bloody Metaphor›, Bureaucracy Studies, Lausanne
2019 ‹Violation›, Shanaynay, Paris
2018 ‹The Awakening of Johannes Leuzinger’s Flute-Playing Faun›, Milieu, Bern
2016 ‹Hunter in the Void›, Kunsthaus Glarus
Gruppenausstellungen (Auswahl)
2020 Werkschau Kanton Zürich, Haus Konstruktiv, Zürich
2019 ‹Wearable / Unwearable Art›, Centre culturel suisse, Paris
2018 ‹Kunstankäufe der Stadt Zürich 2011–2018›, Helmhaus, Zürich
2015 ‹Imagination of Nature›, Alte Fabrik, Rapperswil-Jona
2014 Klöntal Triennale, Glarus
Institutionen | Country | City |
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Lemme, Les Arsenaux | Switzerland | Sion |
Exhibitions/Newsticker | Date | Type | City | Country | |
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Thomas Julier — Dawn Chorus Protocol | 10.12.2022 to 11.03.2023 | Exhibition | Sion |
Schweiz CH |
Thomas Julier |
Sibylle Omlin |