Kunst und Klima — Zwischen Hoffnung und Schmerz

Joan Jonas · Moving Off the Land II, 2019, Courtesy Galleria Raffaela Cortese © ProLitteris

Joan Jonas · Moving Off the Land II, 2019, Courtesy Galleria Raffaela Cortese © ProLitteris

Hannah Weinberger · As if I became upside down, right side up, 2023

Hannah Weinberger · As if I became upside down, right side up, 2023

Monira Al Qadiri · Holy Quarter, 2020, Courtesy Sammlung Kerstin Hiller & Helmut Schmelzer

Monira Al Qadiri · Holy Quarter, 2020, Courtesy Sammlung Kerstin Hiller & Helmut Schmelzer

Sigalit Landau · Salted Lake, 2011. Alle Fotos: Gina Folly / Ausstellungsansichten Kunsthaus Baselland

Sigalit Landau · Salted Lake, 2011. Alle Fotos: Gina Folly / Ausstellungsansichten Kunsthaus Baselland

Fokus

Auf der einen Seite wird die Vision einer lebenswerten Zukunft immer fassbarer, auf der anderen Seite sind wir auf direktem Weg, diese Zukunft für immer zu verlieren. Die Ausstellung ‹Nature. Sound. Memory› im Kunsthaus Baselland ist für mich ein Museumsbesuch zwischen Hoffnung und Schmerz.

Kunst und Klima — Zwischen Hoffnung und Schmerz

Ich sitze im Kunsthaus Baselland auf Hannah Weinbergers ‹Singenden Steinen›, welche aus einem Schweizer Flussbett stammen und zu Lautsprechern umfunktioniert wurden, und träume von einer lebenswerten Zukunft für alle, in der wir das Klima stabilisiert, den Biodiversitätsverlust aufgehalten und die Armut besiegt haben. Für mich geht diese Zukunft weit über technisch-naturwissenschaftliche Begriffe wie «Netto Null» hinaus. Sie fühlt sich langsamer und ruhiger an als das Heute. Aber auch sinnvoller, gemeinschaftlicher, sicherer, gleicher, grüner, gesünder, fairer, für alle. Es gibt nicht mehr Mensch und Natur, sondern nur noch Welt. So wie Joan Jonas in ihrer Multimedia-Installation ‹Moving Off the Land II›, 2019, Teil des Meeres wird.
Es gibt Tage, an denen denke ich, dass vieles davon bereits auf dem Weg ist: Wenn etwa die Vier-Tage-Woche greifbarer wird, Paris mit grossen Schritten zu einer fussläufigen 15-Minuten-Stadt gemacht wird oder lokale Nahrungsmittelkooperativen immer mehr Aufwind erfahren. Dazu passt das bekannte Zitat der indischen Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy: «Another world is not only possible, she is on her way. On a quiet day, I can hear her breathing.» Wie fühlt sich eine lebenswerte Zukunft für Dich an?

Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust
Abgelöst wird dieser Traum von einem Gefühl von Trauer und Schmerz, welches mich beispielsweise bei Maya Schweizers Videoarbeit ‹L’étoile de mer›, 2019, ergreift. Darin wird eine Folge von Aufnahmen von Fischen und Korallen unterbrochen durch den Satz «Alle Bilder werden verschwinden». Ähnlich ergeht es mir, wenn Joan Jonas in ihrer Arbeit die Ozeanografin Sylvia Earl zitiert: «Der Ozean hat uns schon so lange so viel gegeben. Es ist an der Zeit, sich zu revanchieren.» Auch die Szenerie der grössten Sandwüste der Erde auf der Arabischen Halbinsel, die uns Monira Al Qadiri in ‹Holy Quarter›, 2020, zeigt, löst eine Endzeitstimmung in mir aus. Die Wabar-Krater, die einst durch Meteoriteneinschläge entstanden sind und in dem Video als Erzähler fungieren, sind ein Symbol der extraterrestrischen Gefahren für das verletzliche Leben auf der Erde. Gleichzeitig steht die arabische Region auch für die massive Förderung des klimazerstörenden Rohstoffs Öl.
Wahrscheinlich hat dieser Schmerz auch sehr viel mit mir selbst zu tun, denn in mir schwingt der neueste Synthese-Bericht des Weltklimarats IPCC nach, der soeben erschienen ist.1 Darin heisst es, dass wir gerade gar nicht auf dem Weg in die Zukunft sind, die ich mir erträume: «Der Klimawandel ist eine Bedrohung für das menschliche Wohlergehen und die Gesundheit des Planeten. Das Zeitfenster, in dem wir eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle sichern können, schliesst sich rasch. (…) Die Entscheidungen und Massnahmen in diesem Jahrzehnt werden sich jetzt und für die nächsten Jahrtausende auswirken. (…) Rasche und weitreichende Veränderungen in allen Sektoren und Systemen sind notwendig, um tiefgreifende und nachhaltige Emissionssenkungen zu erreichen und eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern.» Oder wie es The Guardian ausdrückte: «Scientists deliver ‹final warning› on climate crisis: act now or it’s too late.»2
Eine «letzte Warnung», weil der nächste IPCC-Bericht erst gegen 2030 erscheinen wird. Bis dahin wird sich entschieden haben, ob wir den «Highway zur Klimahölle» (António Guterres)3 verlassen haben oder nicht. Ob tatsächlich «alle Bilder verschwinden» werden. Denn es handelt sich hier beispielsweise auch um eine letzte Warnung für das Überleben von Korallen: Die Wissenschaft ist sich einig, dass ab einer globalen Erwärmung von 1,5 bis 2 °C Warmwasserkorallen von diesem Planeten praktisch verschwinden werden. Über der 1,5 °C-Schwelle steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Grönland und die Westantarktis Kipppunkte erreichen und abschmelzen werden, was mehrere Meter Meeresspiegelanstieg über die nächsten Jahrhunderte und Jahrtausende zur Folge hätte. Die Konsequenzen für unser Zusammenleben auf diesem Planeten möchte ich mir lieber nicht ausmalen.

Aktiv werden für eine lebenswerte Zukunft
So kam es, dass ich, als ich diesen Artikel schrieb, mich wieder einmal fragte: Sollte ich nicht alles stehen und liegen lassen, mich in den Hungerstreik vors Bundeshaus begeben und endlich mutige Klimaschutzmassnahmen einfordern? Ein guter Moment, um mich wieder auf die ‹Singenden Steine› zu setzen und diesem Schmerz, dieser Wut, erst einmal Raum zu geben. Denn dahinter, und da bin ich überzeugt, steckt eine unglaubliche Kraft in uns. Die Kraft, die mir half, diesen Artikel fertig zu schreiben und nicht zu resignieren.
Lasst uns mehr über diesen Schmerz reden. Lasst uns selbst und einander eingestehen, dass wir so empfinden. Und dann lasst uns darüber reden, welche Zukunft wir uns wünschen und was unser Beitrag sein kann. Dazu gehört es auch, zu definieren, was unsere Forderungen an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sind. Denn nur, wenn wir als Gesellschaft gemeinsam auf einem Wandel beharren, wird er auch geschehen. Der nächste Schritt in diese Richtung ist ein klares Ja zum Klimaschutzgesetz am 18. Juni 2023.

Raphael Portmann, Klimawissenschaftler an der Agroscope Reckenholz und Mitglied von Degrowth Schweiz. raphael.portmann@agroscope.admin.ch

1 IPCC, 2023, AR6 Synthesis Report ↗ ipcc.ch/report/ar6/syr
2 Fiona Harvey in The Guardian ↗ theguardian.com (Suche: final warning)
3 António Guterres, Eröffnungsfeier der COP27, Ägypten, Nov. 2022 ↗ youtube.com/watch?v=K7CiMiiC2f8

 

Until 
09.07.2023

→ ‹Kunst und Klima›: Ein Klimaforscher kommentiert ein Kunstwerk oder eine Ausstellung seiner Wahl.
→ ‹Nature. Sound. Memory›, Kunsthaus Baselland, Basel / Muttenz, bis 9.7. ↗ kunsthausbaselland.ch

Institutionen Country City
Kunsthaus Baselland Switzerland Basel/Muttenz
Exhibitions/Newsticker Date Type City Country
Nature — Sound — Memory 10.03.2023 to 09.07.2023 Exhibition Basel/Muttenz
Schweiz
CH

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