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Kurz Das Wohnen und der Wohnungsbau sind ein roter Faden in deinem umfangreichen Werk.

Steinmann Dieses Thema hat mich tatsächlich durch mein ganzes Leben begleitet. Vielleicht, weil es beim Wohnen um eine fundamentale Erfahrung geht.

Kurz Es ist der einfache, normale Wohnungsbau, der dich besonders interessiert. Architektur, die sich im Alltag der Menschen bewähren muss, nicht so sehr die Ikonen der Architektur.

Steinmann Das hat mit meinem Temperament zu tun. Ich mag das Laute, Aufgeregte nicht, das vertrage ich schlecht. Die Stadt verträgt es übrigens auch nicht gut. Von daher kommt auch meine Liebe zur Architektur von Roger Diener, die diskret auftritt und mit feinen, genauen Variationen arbeitet: eine «Architektur für die Stadt», wie ich einen Aufsatz über das Werk von Diener & Diener betitelt habe, nicht gegen sie, wie so vieles, was als «Event» auftritt.
Mich interessieren darum auch die Siedlungen der 1920er Jahre in Berlin, die Höfe von Kay Fisker in Kopenhagen aus der gleichen Zeit, aber auch die schlichten Siedlungen der 1950er Jahre in Zürich. Architekturen, die nicht «zeitlos», sondern in den primären Bedürfnissen der Menschen verankert und aus der Konstruktion heraus gedacht sind.

Kurz Was macht diese einfache Architektur spannend?

Steinmann Gustav Flaubert hat einmal gesagt, es genüge, eine Sache lange zu betrachten, um sie interessant zu finden. Die wichtigen Dinge sieht man nicht auf den ersten Blick. Die schnelle Wahrnehmung, die sofort einordnet, ist in der Architektur ein Elend. Sie übersieht genau das, was eine Stadt ausmacht: die Wiederholung ähnlicher Muster, die kleinen Unterschiede innerhalb eines festen Modells, eines Typs. Ich denke dabei etwa an den Baumeister-Klassizismus des 19. Jahrhunderts oder an die Architektur zur selben Zeit in Paris, wo die Baugesetze sehr streng waren, aber eine individuelle Gestaltung durchaus nicht ausschlossen. Interessant ist gerade die individuelle Auslegung und Variation eines allgemeinen Typus. Das ist für mich das Ideale, vor allem im Wohnungsbau, der die Grundmasse der Städte ausmacht.
An den Bauten von Diener & Diener mag ich, dass ihr jeweiliger Ausdruck auf wenigen Mitteln beruht, etwa auf den Dimensionen und Proportionen der Fenster - und auf ihrer Variation. Dieserart sind die Spielräume im Wohnungsbau, finde ich, doch das scheint dem Zeitgeist nicht zu entsprechen.

Kurz Gegenwärtig sieht man oft komplexe Grundrisse, die sich einer Typologie zu entziehen scheinen. Mit grossen Durchblicken, vielen schiefen Winkeln ...

Steinmann Das kann sehr spannend sein, wenn jemand das wirklich im Griff hat, wie EMI oder Miller & Maranta. Solche Grundrisse verlangen von den Bewohnern, sich mit der Wohnung auseinanderzusetzen, weil ihre Benutzung nicht den eigenen Gewohnheiten entspricht. Sie müssen den Grundriss durch die Art, wie sie ihn besetzen, interpretieren und vielleicht mehrmals die Möbel umstellen, bis die Wohnung für sie stimmt. Das finde ich das Interessante an dieser Art von Grundrissen: dass sie die Bewohner dazu bringen können, ihre Gewohnheiten zu überdenken.

Kurz Richtest du dich manchmal anders ein? Ihr habt hier ja viel Raum ...

Steinmann Nein, das war alles schon in der Baueingabe so eingezeichnet, bis hin zum Teppich, zur Verwunderung des Verantwortlichen im Bauamt. Eigentlich dachte ich, wir würden gelegentlich die Bilder austauschen, aber das tun wir selten, sie hängen gut ...

Kurz Heute gibt es gesellschaftlich keine klar definierten Gruppen oder Klassen mehr. Hat der typologische Ansatz noch seine Berechtigung?

Steinmann Die hat er, gerade weil die Wohnungen sehr unterschiedliche Bedürfnisse aufnehmen müssen. Bei aller Vielfalt kann man auch die heutige Produktion auf eine überschaubare Anzahl von Typen zurückführen, aber die Bandbreite der Aktualisierungen ist viel grösser geworden ... Das ist ja das Spannende am Wohnungsbau, und darum habe ich ihn so gerne unterrichtet: Hier zeigt sich das Phänomen des Typus und seiner Aktualisierungen in aller Deutlichkeit. Und damit auch, wie das entwerferische Denken funktioniert, nämlich als Anpassung von Mustern an eine bestimmte Situation. Das Wohnen als Situation oder Tätigkeit lässt sich ja nicht neu erfinden.

Kurz Du hast in den 1960er Jahren an der ETH Zürich Architektur studiert. Diese Jahre erscheinen im Rückblick als eine fortschrittsgläubige, aber geschichtsvergessene Zeit: Wie bist du zur Geschichte gekommen?

Steinmann An der ETH wurde die Moderne damals nicht als Geschichte vermittelt, sondern als Mythos. Die Grossen der Architekturgeschichte - Le Corbusier, Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright - Peter Blakes Master Builders - erschienen als überzeitliche Erscheinungen. Bernhard Hoesli sprach von Le Corbusier genauso wie vom «Glarner Bauern» als gewissermassen ausserhalb der Geschichte stehenden Phänomenen.
Eine wichtige Erfahrung war für mich dagegen eine der ersten Seminarwochen, die an der ETH angeboten wurden: 1969 führte uns René Furrer zu den Zeugen des Neuen Bauens in Zürich - die Häuser im Neubühl, die Rotachhäuser, das Volkshaus, das Kongresshaus ... In den Rotachhäusern redeten wir lange mit Max Ernst Haefeli, ich habe davon noch eine Fotografie ... Das war eine Entdeckung für uns. Eine Moderne, von der wir in der Schule nie etwas gehört hatten, so wenig wie von den Siedlungen in Frankfurt oder Berlin. Auf einmal hatten wir eine eigene Vergangenheit, eine eigene Überlieferung, nicht fern und gleichsam ausgeliehen.

Kurz Diese Erfahrung hat dich geprägt?

Steinmann Nicht nur mich. Diese Begegnung war fundamental für vieles, was später, in den 1980er Jahren stattgefunden hat. Wir machten uns an die Entdeckung unserer eigenen jüngeren Geschichte. Später haben dann Stanislaus von Moos und auch ich in der archithese das Werk bedeutender Schweizer Architekten in monografischen Heften vorgestellt: Salvisberg, Haefeli Moser Steiger, Franz Scheibler, Hans Bernoulli usw. Die archithese machte es sich zur Pflicht, das 20. Jahrhundert in der Schweiz aufzuarbeiten, auch nach meiner Entlassung 1986. Die Schweizer Moderne erwies sich als eine Vergangenheit, mit der sich arbeiten lässt. Nicht zuletzt, weil sie sich eng aus dem Bauen heraus entwickelte, aus einem Bewusstsein für das Material und die technischen Mittel. Also eine Architektur, die nicht nur in der Form, sondern auch im Wesen modern war.

Kurz In den 1970er und frühen 1980er Jahren hast du eine beharrliche Polemik gegen Traditionalismus und Regionalismus geführt. Du hast kritisiert, dass die traditionellen Bauweisen als romantisches «Bild» statt als Ausdruck - sich wandelnder - gesellschaftlicher und materieller Tatsachen rezipiert wurden.

Steinmann 1971 veranstaltete die Redaktion von Werk eine ganztägige Debatte, in der es um die Bebauung «Mittenza» von Rolf Keller und Fritz Schwarz im alten Dorf Muttenz ging. Bruno Reichlin, Fabio Reinhart und ich wandten uns damals entschieden gegen die romantische Verwendung «vorgefundener Formen», wie jene Architekten das nannten. Ein solches Verhältnis zur Geschichte war für uns Ideologie, wie sie sich auch in Rolf Kellers Schrift Bauen als Umweltzerstörung entlarvte. Wir versuchten in unserer Auseinandersetzung mit den alten Häusern des Dorfes, in den Formen die Strukturen zu verstehen, die technischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die sie hervorge­bracht hatten.
Ein solches strukturalistisches, auf die Semiologie gestütztes Verhältnis zur Architektur habe ich lange vertreten. Einen längeren Text über den Regionalismus um 1900, der eine grosse Rolle für die Befreiung der Architektur aus den «Stilen» des Historismus spielte, habe ich mit «Arbeit als Wissen und Arbeit als Bild» überschrieben. Es ging mir darum, zu zeigen, wie Tradition fruchtbar sein kann, wenn wir in ihr nicht die Form, sondern den «Grund der Form» suchen, wie Loos gesagt hat. Ich war, auch im Heft der archithese zu diesem Thema, nicht gegen Regionalismus oder Traditionalismus, wenn man von Ismen sprechen will, aber gegen den Regionalismus als Bild.

Kurz Du hast von 1968 bis 1978 am neu gegründeten Institut für Geschichte und Architektur der ETH Zürich (Institut gta) das Archiv der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) aufgearbeitet und publiziert ...

Steinmann Ich hatte für mich selbst begonnen, das Neue Bauen und vor allem den Wohnungsbau der 1920er Jahre in Deutschland aufzuarbeiten, sowohl als architektur- wie als gesellschaftsgeschichtliches Thema. Dieser zweite Aspekt interessierte mich sehr, im 19. Jahr­hundert auch die Ideen von Jean Baptiste André Godin, die sich im Familistère in Guise konkretisierten, oder von Henry Roberts, um nur zwei Namen zu nennen. Daher hat man mich beauftragt, am neu gegründeten Institut gta das Archiv der CIAM einzurichten und zu publizieren.
An den CIAM haben mich vor allem die Aspekte des Wohnungs­baus interessiert, also vor allem der zweite und dritte Kongress. Mit der Zeit habe ich jedoch zunehmend unter der Trockenheit der Materie gelitten: «words, words, words», wie Hamlet irgendwo sagt. Die Arbeit wurde mir zur Qual. Darum habe ich angefangen, neben der Archivarbeit aus der Beschäftigung mit der Materie heraus selbst zu schreiben. Zuerst über Mart Stam oder Hans Schmidt, dann auch über andere Vertreter des Neuen Bauens. Und mehr und mehr auch über die Architektur der Gegenwart und auch damals schon: Aldo Rossi. Das war meine seelische Rettung!

Kurz Du hast dann von 1979 bis 1982 ein grosses Forschungsprojekt über den Fabrikwohnungsbau des 19. Jahrhunderts begonnen ...

Steinmann ... ein Nationalfondsprojekt, ja, Das Arbeiterhaus in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Es wartet immer noch darauf, in geeigneter Form publiziert zu werden. Dieses Thema hatte für mich einen besonderen Ausgangspunkt, es geht auf meine Kindheit zurück: Ich bin in Rapperswil aufgewachsen. In der Pfadi haben wir uns am Samstag jeweils in der Nähe eines grossen, in seiner Art fremden Hauses in Jona (SG) versammelt, das mich faszinierte. Ich habe erst viel später erfahren, dass es eines der ersten «Kosthäuser» in der Schweiz war, das um 1828 erbaute Arbeiterhaus einer Spinnerei. Das Geheimnis dieses Gebäudes hat mich begleitet und war der eigentliche Anstoss für diese Forschung: Ich wollte dahinter­kommen, was es damit auf sich hatte. Ich habe für meine Forschung über 30 ähnliche Arbeiterhäuser in der Nord- und Ostschweiz mit Fotos, Plänen und Beschreibungen dokumentiert - viele wurden inzwischen abgebrochen. Aber dann ging das Geld aus und ich musste sehen, wie ich meine Familie ernähren konnte ...

Kurz Eine Kindheitserinnerung hat ein ganzes Forschungsprojekt ausgelöst?

Steinmann Ja, auf solche Weise bin ich immer wieder zu den Themen meiner Arbeit gekommen, nicht unbedingt durch eine Erinnerung, aber durch die Empfindung, welche Dinge in mir hervorrufen und die ich verstehen möchte. Das zieht sich durch mein ganzes Leben: eine starke Empfindung wird zum Ausgangspunkt einer Forschung. Ohne diesen Motor nehme ich die Mühsal des Schreibens nicht auf mich.
Darum hat mich Aldo Rossis Autobiografia scientifica sehr berührt. Es ist für mich das schönste Buch über Architektur, weil es geschichtliche Erscheinungen mit sehr persönlichen Erfahrungen verknüpft, die bis in die Kindheit des Autors zurückreichen. Mir gab das die Gewissheit, dass man selbst im wissenschaftlichen Diskurs auf die eigenen Erfahrungen zurückgreifen darf. Architektur wird immer zunächst durch ein Ich erfahren, und der Anfang jeder Erkenntnis ist das, was ein Bau mit dem Ich macht.

Kurz Wie bist du auf Aldo Rossi gekommen?

Steinmann Durch meinen Freund Bruno Reichlin, er war und ist ein wichtiger Freund und Kollege. Er hat mit mir über L'architettura della città gesprochen, ein Werk, in dem die Siedlungen der 1920er Jahre eine grosse Rolle spielen. Rossi war ein faszinierender Mensch, eine Ausnahmeerscheinung, nicht nur an der ETH. Durch seine geschichtlichen, gerade auch typologischen Forschungen, die Verbindung von Schreiben und Entwerfen und durch die Bandbreite seiner kulturellen Kenntnisse. «Ho sempre pensato ...», diesen wiederkehrenden Satz höre ich noch immer. Malerei, Literatur, Film - er zeigte in seinen manchmal kurzen Texten, dass das alles zum Stoff für das Entwerfen werden kann! Clara Calamai, wie sie in Viscontis Ossessione über den Platz von Ferrara geht: Aus einem solchen Bild kann Architektur werden.

Kurz Du bist weniger ein zeichnender als ein schreibender Architekt. Wie bist du zum Schreiben gekommen? Was bedeutet es heute für dich?

Steinmann Schreiben bedeutet für mich herauszufinden, was ich über einen Gegenstand denke - «die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden», wie Kleist sagt, oder eben beim Schreiben. Wenn ich mich an den Schreibtisch setze, habe ich meist noch keine klare Vorstellung, worauf die Sache hinausläuft. Ich mache mir keine Konzepte. Ich schreibe einen Satz, dann einen zweiten, der den ersten - notwendigerweise - weiterführt, und so baut sich ein Text nach und nach auf, immer aufgrund dessen, was schon da ist. Das Ordnen und Streichen folgt später. Inzwischen gehe ich noch weiter und sage: «Ich schreibe um zu wissen, was ich empfinde» - angesichts von Bauten. Ich habe eine Empfindung und versuche zuallererst, diese zu verstehen, und gehe erst von da aus weiter zur Frage nach der Bedeutung - geleitet von einem Satz von Mikel Dufrenne, dass es darum geht, zu verstehen, was man als Empfindung schon verstanden hat. Empfinden ist eine Art unmittelbares Verstehen, das ich mir beim Schreiben bewusst machen muss.

Kurz Inwieweit kann Architekturkritik und -theorie den Gang der Dinge beeinflussen?
Mit der Ausstellung «Tendenzen - Neuere Architektur im Tessin» hast du 1975 einen Begriff geprägt, der um die Welt ging. Wie kam das?

Steinmann Der Begriff entstand gegen meinen Willen. Ich hatte die Ausstellung «Neuere Architektur im Tessin» genannt. Aber der Leiter der Ausstellungsorganisation Heinz Ronner fand das zu wenig spektakulär und schlug «Tendenza» als Titel vor. Das war eine Anspielung auf die Architettura Razionale und die von Aldo Rossi 1973 unter dem gleichnamigen Titel kuratierte 15. Triennale von Mailand. Das kam nicht in Frage, denn es handelte sich ja um verschiedene Strömungen, die Architekten standen an verschiedenen Orten. So kam es zu «Tendenzen». Der Erfolg dieser Ausstellung und des begleitenden Katalogs, der 2010 bereits zum vierten oder fünften Mal wieder aufgelegt wurde, war einmalig in meiner Karriere.

Kurz Du warst in den frühen 1980er Jahren Redaktor der archithese: Was waren deine inhaltlichen Anliegen?

Steinmann Die Arbeit bei archithese war in ihrer Wirkung vielleicht weniger fulminant als die Tessiner Ausstellung, aber sie hat doch eine Wirkung gehabt, denke ich. Von den Heften über die Protagonisten der Schweizer Moderne war schon die Rede. Wir haben auch einige Entdeckungen gemacht: Die ersten Arbeiten von Herzog & de Meuron wurden bei uns publiziert, ebenso die ersten Projekte von Peter Zumthor. Wir stellten Michael Alder und andere Architekten einfacher Wohnbauten vor. Das Wichtigste scheint mir aber, dass ich viele Architekten dazu bewogen habe, über ihre Arbeit zu reflektieren, zu reden. Wir brachten, und das war damals nicht gebräuchlich, nicht bloss Bauten, sondern eben auch Gespräche mit Architekten - ich habe das planmässig gemacht, damit diese Leute, wenn sie schon nicht schrieben, doch wenigstens redeten und sich mit ihren Positionen auch exponierten, der Debatte stellten. Ich denke, das war damals von Bedeutung für die Entwicklung der Schweizer Architektur.

Kurz Wie siehst du heute die Rolle der Architekturkritik? Bist du ein Architekturkritiker?

Steinmann Ich bin nicht Kritiker im engeren Sinn, ich bin Theoretiker. Architektur­kritiken haben aber durchaus eine Funktion und ich mag sie sehr, wenn sie gut geschrieben sind. Ich meine nur, sie sollten einen Bau weder gut- noch schlechtschreiben. Es geht, wie Bruno Zevi gesagt hat, darum, Architektur sehen zu lernen, «saper vedere l'architettura». Das scheint mir das Zentrale. Architekturkritik soll die Lust wecken, genauer hinzuschauen, und sie soll eine Anleitung geben, wie man das tun kann. Nicht anders, als Buch- oder Filmkritiken; ich lese sie gerne, wenn sie in mir die Lust wecken, den Film zu sehen oder das Buch zu kaufen.
Ein Text ist für mich im Grund ein Angebot, ein Vorschlag, wie man sich einem Bau nähern kann. Ich bringe dabei meine sehr persönlichen Kategorien der Wahrnehmung ein. Die Hoffnung dabei ist die, dass ich den Leser dazu führen kann, seine eigene Sicht zu entwickeln, auch im Widerspruch zur meinigen; dass ich ihm eine Türe öffne - hindurchgehen muss er dann selber.

Kurz Du hast immer wieder mit Architekten und Künstlern zusammen Ausstellungen gemacht, Bücher geschrieben oder auch entworfen.

Steinmann Ich nenne solche gemeinsamen Werke mit Freunden gern «Kollaborationen», sie waren mir immer wichtig. Seien es gemeinsame, aufgrund intensiver Gespräche entwickelte Texte oder auch Kunst- und Architekturentwürfe. Dabei findet mehr statt als im abendlichen Gespräch bei einem Glas Wein, denn es geht darum, die Gedanken auf ein gemeinsames Ziel, auf eine gemeinsame Suche hin zu fokussieren.

Kurz Du hast mit dem Künstler Hugo Suter kollaboriert ...

Steinmann Hugo Suter war bis zu seinem Tod 2013 eine wichtige Person in meinem Leben. Hans Ulrich Obrist nannte ihn im Magazin «einen der bedeutendsten und erfindungsreichsten Schweizer Künstler». Von ihm stammt etwa das geätzte Fenster, das in meinem Arbeitsraum auf den Gang geht.
Gemeinsam haben wir 2005 eine Arbeit für das Schulhaus Weid in Pfäffikon (SZ) von Meletta Strebel Zangger konzipiert. Damit haben wir den Wettbewerb für die Klassenzimmer für uns entschieden. Aber in den Klassenzimmern werden die Wände behängt, da ist kein Platz für Kunst. Also haben wir uns für die Türen entschieden, genauer: für die gut 80 Zentimeter tiefen Laibungen.

Kurz Was war dein Beitrag zu dieser Kollaboration?

Steinmann Ich kenne die Arbeit von Hugo Suter aus den Gesprächen, die wir seit Jahren geführt haben. Ich kenne seine künstlerische Suche, die sich um die Wahrnehmung dreht. Wir haben also die Eigenschaften des Ortes besprochen, die sinnlichen Erfahrungen, die man hier machen kann, die Mittel, um solche hervorzurufen. So sind wir auf die Laibungen gekommen. Tritt man daran vorbei ins Klassenzimmer, scheinen sie im Licht auf. Darum hat Hugo Suter in die Laibungen aus grau gestrichenem MDF Motive sandgestrahlt, die man im Vorbeigehen wahrnimmt, en passant. So nannten wir unseren Beitrag denn auch. Er entspricht ganz den Intentionen von Hugo Suter, der sich in seiner Kunst stets für das Flüchtige interessiert hat.

Kurz Für das Stadtmuseum Aarau wirst du zusammen mit Diener & Diener als Architekt genannt. Was war dabei deine Rolle?

Steinmann Das Stadtmuseum, genauer seine Erweiterung, ist mein erster, vermutlich auch letzter grösserer Bau ... Er entstand in intensiver Zusammenarbeit mit Diener & Diener, die alle Phasen umfasste. Ich bin in den frühen Phasen ein, zwei Mal jede Woche nach Basel gefahren, später seltener, und habe mit Roger Diener und den Mitarbeitern die anstehenden Fragen besprochen, auch während der Bauzeit. Ausserdem war ich an allen Sitzungen hier in Aarau mit am Tisch.

Kurz Du warst 20 Jahre lang Entwurfsprofessor an der EPF in Lausanne. Was hast Du den Studierenden mitgegeben?

Steinmann Im Unterrichten komme ich von der Typo-Morpho-Schule her, jener französischen Erweiterung des Typologie-Diskurses in Italien. Sie hat sich sehr für die «gelebten Räume» interessiert, welche die städtebau­lichen Formen schaffen: Sie arbeitet mit Unterscheidungen wie «vorne - hinten», «zeigen - verbergen», «Form - Formlosigkeit».
Ich habe in der Einführung zu meinem Atelier stets die Botschaft vertreten, dass es zwei Arten von Funktionen gibt, einerseits die praktischen, im Sinn von Tätigkeiten, Räumen und Raumzusammen­­hängen, und andererseits die Bedeutungs- und Stimmungs­funktionen: Wie nehme ich einen Raum wahr? Wie ist seine Stimmung? Welche Elemente bewirken sie? Welche Stimmung ist welchen Tätigkeiten angemessen?
Dabei geht es um Fragen der Wahrnehmung. Ich bin überzeugt, dass ein Architekt wissen muss, wie wir die Dinge wahrnehmen, und dass die Wahrnehmung ebenso eine emotionale wie eine rationale Komponente hat. Beide haben gleiches Gewicht, so dass die eine die andere stützen und bestätigen kann. Solche Fragen haben wir in der Vorlesung und bei der Besprechung der Projekte intensiv diskutiert.

Kurz Als angehende Architekten können die Studierenden nicht ohne Gewinn an dieser Wahrnehmungsschule teilnehmen.

Steinmann Ich denke tatsächlich, für Architekten gehört es zum beruflichen Rüstzeug, zu verstehen, wie der Raum auf Menschen wirkt - auf der Ebene der Empfindung wie auf jener der Reflexion. Das gehört zu einem bewussten Verhältnis zum Metier. So wie ein Psychiater eine Lehranalyse machen muss, bevor er andere analysieren darf.

Kurz Du hast dich seit Langem mit der Wahrnehmung des Raumes beschäftigt, in einer Weise, die von der Phänomenologie ausgeht, vom «gelebten Raum», von der physischen und psychischen Erfahrung.

Steinmann Mit der Wahrnehmung im Allgemeinen, nicht nur mit der Wahrnehmung des Raumes. Es geht mir dabei um die Wahrnehmung «diesseits der Zeichen». Ich will das erklären: Bevor ich Dinge als Zeichen lese und ihnen eine Bedeutung zuschreibe, üben sie als Form schon eine Wirkung auf mich aus. Das interessiert mich, diese ganz unmittelbare Wirkung der Dinge, bevor sie von der Semiose erfasst werden, dem Prozess, in dem sie mit Bedeutungen verbunden werden. Ein wichtiger Autor ist für mich der Phänomenologe Mikel Dufrenne, der viel über Ästhetik nachgedacht hat. Er sagt, dass die Empfindung, welche die Dinge hervorrufen, schon eine Form des Verstehens ist. Das beschreibt ziemlich genau, was ich mit dem Schreiben versuche: zu verstehen, was man als Empfindung schon verstanden hat. Ich habe schon davon gesprochen.

Kurz Du sprichst dabei von «Einfühlung». Ein Hühnerhaut-Wort für viele Architekten. Empathie würde sich bequemer lesen ...

Steinmann Das Wort mag schwierig sein, die Theorie der Einfühlung selbst, welche die deutsche Ästhetik in den Jahrzehnten um 1900 stark beeinflusst hat, ist spannend. Empathie meint ein Verhalten zu Menschen, hier aber geht es um das Verhalten zu Dingen in einer zunächst sinnlichen Einstellung - aisthesis bedeutet ja sinnliche Wahrnehmung. Es geht darum, zu verstehen, wie wir durch das, was wir sehen und hören, zu den Dingen, zur Welt in Beziehung treten, und zwar unmittelbar, also nicht mittels Begriffen.

Kurz Mit einem kleinen Kind erlebt man diese Unmittelbarkeit ...

Steinmann Das Kind sieht die Dinge - und nicht ihre Bedeutung. Während wir sofort zu den Begriffen und Konzepten springen. Statt einfach zu schauen und auf das, was da ist, zu reagieren, sei es ein Stuhl oder was immer. Das Kind sieht auf die Dinge hin, nicht von den Dingen weg. Diese unmittelbare Wahrnehmung hat etwas von einem Wunder - und ich denke nicht, dass die Hirnforschung dieses vollständig auflösen wird ...
Mein Weg von der Semiologie zur Phänomenologie ist der Versuch, immer näher an ein solch unmittelbares Verhältnis zur Welt heranzukommen, ein «unschuldiges», paradiesisches Verhältnis, könnte man sagen, im Sinn von Kleists Aufsatz «Über das Marionetten­theater» mit dem wunderbaren Schluss: «Mithin [sc. da uns das Paradies verschlossen ist] müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?» Das ist für mich die entscheidende Frage: Ist der Preis für die Erkenntnis, dass wir dieses unmittelbare Verhältnis zu den Dingen verlieren? Oder können wir es wiedergewinnen, indem wir es immer besser verstehen lernen?

Kurz Die Semiotik stellt ein ganzes Deutungs- und Erklärungssystem zur Verfügung. Ist das mit deinem Ansatz auch möglich?

Steinmann Natürlich ist die Semiologie, die Lehre der Zeichen, mit meinem Ansatz nicht obsolet geworden. Aber mich interessiert vor allem, was vor den Zeichen kommt. Ich sehe diesen Sessel hier - und die primäre Wahrnehmung ist nicht: LC2, auch nicht: schwarz, vornehm, Bankhalle usw. Das stimmt zwar alles, aber vor dieser ganzen Assoziations- und Konnotationskette ist da eine Form. Zunächst einmal nehme ich Leder wahr, Chromstahl, einen Glanz, ein Material, das Härte suggeriert. Ich möchte vermeiden, sofort auf die Bedeutungsebene zu springen. Ich möchte mir Zeit lassen für die unmittelbar sinnliche Erfahrung: die Wirkung dieses kompakten Volumens, den Kontrast zwischen der Weichheit des Leders und der Härte des Chromstahls ...
Bei dieser Wahrnehmung und den Empfindungen, die sie in mir auslöst, möchte ich verweilen, bevor ich zur Ebene der Zeichen springe. Das eine hebt das andere nicht auf, die kognitiven Zeichen setzen die affektiven Eigenschaften nicht ausser Kraft. Im Gegenteil, ein gutes Zeichen ist eines, das auf der sinnlichen Ebene plausibel gestützt wird, so dass sinnliche Erfahrung und begriffliche Deutung im Einklang stehen. Mein Beispiel dazu ist die Verkehrsampel mit ihren drei Farben: Rot ist eine aufregende Farbe, Grün eine abregende. Es wäre nicht möglich, die Bedeutung von Rot und Grün zu vertauschen, Grün für Warten und Rot für Gehen. Es wäre wegen der physiologischen Wirkung der Farben schlicht nicht möglich.

Kurz Sehen wir im Alltag nicht fast automatisch zuerst die Zeichensprache der Dinge? Eben zum Beispiel das Le-Corbusier-Modell LC2? Ist es uns überhaupt möglich, gewissermassen an dieser vorbei die primären Formen und ihre Wirkung wahrzunehmen?

Steinmann Nein, dazu müssen wir uns zwingen, wir müssen uns zu Flauberts geduldigem Blick zwingen. Im Alltag sind wir ja darauf angewiesen, sofort zu erkennen, was die Dinge bedeuten, um rasch reagieren zu können.

Kurz Wenn ich den Taj Mahal besuche, dauert es vielleicht länger als einen Tag, bis ich das Bauwerk wirklich sehe, gerade weil ich so viele Bilder dieses eingängigen Bauwerks kenne.

Steinmann Ja, wir sehen zunächst oft gar nicht die Sache, sondern das Bild von ihr, das wir bereits im Kopf mitbringen. Wir sehen an der Sache das, was wir von ihr wissen.

Kurz Wie nehmen wir den architektonischen Raum wahr?

Steinmann Der metrische Raum ist nur eine Form der Wahrnehmung, die abstrakte. Eine andere ist der erlebte Raum. Die Elemente des Raums - Wände, Decken, Türen, Fenster, Licht, Farben - wirken wie Kräfte auf uns. Eine Wand kann «auf uns zukommen» oder «vor uns zurückweichen». Das sind nicht nur sprachliche Metaphern, diese Ausdrücke geben recht genau unser Raumerleben wieder.
Einen kleinen Raum kann ich als eng empfinden oder als intim. Der Begriff «eng» ist relativ: Ein Korridor von 70 Zentimeter Breite ist schmal. Aber wie empfinde ich diesen Raum? Ist er nur eng? Oder beengt er mich? Habe ich das Gefühl, die Wände dringen auf mich ein?

Kurz ... wie man es manchmal träumt.

Steinmann Ja. Oder wie in jenem Film von Polanski, ich glaube Cul-de-sac, wo die Wand des Korridors nach Teresa greift.

Kurz Was ist eng, was ist beengend?

Steinmann Da gibt es keine Regeln. Enge ist eine Frage der Empfindung, nicht der Zentimeter, und die Menschen empfinden verschieden. Es ist auch eine Frage der konkreten Situation. Le Corbusiers Arbeitsraum an der Rue de Sèvres war nur gerade 224 × 224 × 224 Zentimeter gross, eine Klause. Im Modulor beschreibt er ihn als «retraite», als Raum, in den er sich zurückziehen konnte, um konzentriert zu arbeiten. Andere Menschen können das nur in einem weiten Raum, wo die Ideen Raum zum Fliegen haben. - Wie gesagt, einen Raum wahrnehmen, heisst als Erstes, ihn in der Einheit seiner Eigenschaften empfinden.

Kurz Wie meinst du das?

Steinmann Was ich an einem Gegenstand die wahrgenommene Einheit seiner Eigenschaften nenne, ist sein Ausdruck. Das gilt auch für einen Raum. Genau besehen hat nicht der Gegenstand einen Ausdruck, sondern ich habe einen Eindruck von ihm. Hans Heinz Holz sagt: Was wir Ausdruck eines Gegenstandes nennen, ist der Eindruck, den er auf uns macht und den wir auf ihn zurückprojizieren. «Ich erfahre mich, in dem, was ich bin, nicht an mir selbst, sondern an etwas anderem, dem Werk.»

Kurz Diese Art der Analyse hat etwas Subjektives. Was kann ich als Leser daraus gewinnen?

Steinmann Es geht mir darum, an den Anfang der Wahrnehmung zurückzu-kehren, und der ist notwendig subjektiv, ist meine Empfindung. In ihr verschmilzt meine Subjektivität mit der Objektivität des Gegenstands. Indem ich sie beschreibe, kann ich dieselbe Empfindung in anderen wecken, oder doch die Aufmerksamkeit für ihre je eigene Wahrnehmung. Um auf den Raum zurückzukommen: Mein Ziel ist erreicht, wenn mein Text den Raum als psychophysisches Phänomen bewusster macht und der Leser oder die Leserin sich fragt, wie ein Raum auf ihn oder sie wirkt. Die Position eines Fensters, einer Tür, eines Schranks - sie schaffen eine Struktur visueller Kräfte, die bestimmt, wie der Raum wirkt. Darum ging es mir auch im Unterricht: die Studierenden in die Lage zu versetzen, solche Wirkungen bewusst zu erkennen und auch zu steuern. Es ist Teil ihrer Aufgabe als Architekten, zu wissen, wie die Dinge räumliche Spannungen erzeugen.

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Martin Steinmann