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JS Als Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich unterrichtest du angehende Architektinnen und Architekten. Die Grenzen zwischen den Disziplinen zu überschreiten, ­gehört zu deiner Arbeit. Du strapazierst aber auch die Grenzen deines eigenen Fachgebiets: Was du in deiner Lehre und Forschung vermittelst, ist keine Kunstgeschichte im Sinn einer Stilkunde, sondern eine Auseinandersetzung mit Phänomenen, die unsere Wahrnehmung der Welt in Frage stellen, die verunsichern und herausfordern. Dies können - müssen aber nicht - Kunstwerke sein.

PU Grenzen beschäftigen mich schon lange, auch die Grenzen der Kunstgattungen und der Disziplinen. Ich verstehe Grenzzonen als Orte des Austauschs und der Verbindung, nicht nur der Trennung. Mich interessiert weniger die Norm oder die Definition dessen, was festzustehen scheint, sondern vielmehr der Bereich, wo Grenzen verhandelt und neu gezogen werden. Wo beginnt die Skulptur, wo hört die Malerei auf? Wann wird Theater zur Skulptur, Szenographie zu Architektur? Wie verläuft die Linie zwischen Städtebau und Architektur und wie scharf ist sie? Diese Grenzzonen sind veränderlich und eignen sich deshalb besonders gut für einen historischen und theoretischen Zugang. Hier versuche ich gleichsam meine Bohrlöcher zu platzieren, um die Verschiebung von Kräften lokalisieren, darstellen und nachvollziehen zu können - und um historische Narrative zu entwickeln.

JS Du hast dich lange mit der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre beschäftigt, insbesondere mit der Land Art oder dem Happening - Strömungen, bei denen es auch darum ging, den Kunstbegriff zu erweitern, die Kunst aus dem isolierten Raum des White Cube zu holen und in Beziehung zur Welt zu setzen. Gerade bei der Land Art verschwimmt die Grenze zwischen Objekt und Umgebung.

PU Robert Smithson, einer der Protagonisten der Land Art, und Allan Kaprow, der als Erfinder des Happenings gilt, haben mich seit den frühen 1990er-Jahren angezogen. Smithsons Texte - seine Auffassung von Sprache als Material, seine Faszination durch Industrieruinen und Baustellen, seine Auseinandersetzung mit der Spezifik von Orten - haben mir ganz neue Zugänge zur Kunst und Architektur eröffnet. Kaprows Auf­fassung der Kunst als Handlung, die in der Zeit abläuft, seine Thematik des kollektiven Arbeitens und sein Gespür für unerwartete Schauplätze, wie Kellerräume, Bahnhofshallen oder auch eine Hühnerfarm, haben meinen Horizont erweitert. Beide stellten die Bedeutungshierarchie der Kunst in Frage und präsentierten ihre Werke ausserhalb von Museumswänden, in einem Raum also, den sie unabhängig voneinander als «tatsächlichen Raum» bezeichneten. Es war - zumindest in den frühen 1990er-Jahren - unklar, wie sie in den kunsthistorischen Kanon passen sollten, lange Zeit galten sie einfach als Ausnahmeerscheinungen. Ich glaube allerdings, dass Ausnahmen gerne als solche erklärt werden, damit man den Kanon des vermeintlich gesicherten Wissens nicht zu ändern braucht. Meiner Meinung nach gehört es zu unserer Aufgabe als Historiker und Theo­retiker, dafür zu sorgen, dass dieser Kanon transformiert wird und nicht erstarrt. Ich habe eine grosse Affinität zur Ausnahme, weil sie die Norm ins Wanken bringt.

JS Hat die Auseinandersetzung mit Architektur deine Interessen als Kunsthistoriker beeinflusst?

PU Meine Forschungsarbeit an der Land Art ist in den 1990er-Jahren am Departement Architektur der ETH entstanden, anderswo wäre sie so gar nicht möglich gewesen. Im deutschsprachigen und anglo-amerikanischen kunsthistorischen Kontext, in dem ich ausgebildet wurde, lag der Fokus damals vor allem auf kunstimmanenten Themen. Der Vorteil war eine hervorragende Methodik. Der Nachteil war eine defensive Haltung gegenüber der unmittelbar zeitgenössischen Kunst einerseits, aber auch gegenüber Nachbardisziplinen wie Design, Film oder eben Architektur. Mein Gegenstand lag anfangs im Bereich der Konzeptkunst und der Minimal Art, weil hier die, wie ich fand, vitalste Auseinandersetzung stattfand. Als ich aber als Assistent von Kurt W. Forster den Architekturstudierenden in Vorlesungen und Seminaren darüber berichtete, blieb die Re­sonanz aus. Sie langweilten sich, wenn ich ihnen von der modernistischen Malerei berichtete oder davon, wie die Neoavantgarden der 1960er-Jahre sich mit den klassischen Avantgarden auseinandersetzten.

JS Ich kann mich an ein gut besuchtes Seminar zur Pop Art erinnern.

PU Ja, die Pop Art und die Body Art fanden sie schon viel anregender. Und Begeisterung zeigten sie, sobald ich über die Land Art oder Happenings sprach, da wurden sie alert und wollten mehr wissen. Die Studierenden haben durch ihre Neugier mein Interesse für Fragen des urbanen und nicht-urbanen Territoriums, für die Bewegung in der Zeit und durch den Raum geweckt - für Themen also, die in der Kunstgeschichte mit ­wenigen Ausnahmen praktisch nie angesprochen wurden. Die Reaktionen der jungen Leute haben mir gezeigt, wo es sich lohnt, weiterzugraben.
Die Arbeit an der Land Art hat mir die Industrielandschaft erschlossen, die Thematik der Brache, der Science-Fiction, der dystopischen Landschaft und die Skepsis gegenüber jeder Idee einer unberührten Natur. Von den Happenings kam ich über Kolleginnen wie Amelia Jones und Peggy Phelan zum Postfeminismus und dadurch zu meinem Konzept einer performa­tiven Kunstgeschichte.

JS Das sind lauter Territorien, die sich in einem räumlichen oder ­zeitlichen «Dazwischen» oder «Sowohl-als-auch» befinden und sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen.

PU Besonders interessiert mich zurzeit die Zone zwischen dem Menschenwerk und dem, was nicht durch den Menschen geformt ist. In den Seminarwochen, die mich jedes Semester mit Studierenden an neue Orte führen, habe ich die Erfahrung gemacht, dass Orte, die gemeinhin als ­entlegen und peripher gelten - eine Waldlichtung in Polen, eine Sandbank auf dem Mississippi, der Fuss des Vesuvs -, eine fast magnetische An­ziehungskraft besitzen. Was bei mir früher ein italienischer Markt oder eine amerikanische Skyline bewirkte, einen Sog, die Gewissheit, dass sich das Leben dort quasi konzentriert abspielt, finde ich nun in der Zone zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen.

JS Ist das nicht einfach ein neuer Ausdruck der Bewegung «Zurück zur Natur»?

PU Ich denke nicht. Ein fruchtbares Beispiel für das Interesse an der Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen ist Henry Thoreaus Buch Walden (1854), in dem er beschreibt, wie er in einem genau definierten Zeitraum in einer Waldlichtung lebt und wie diese Er­fahrung sich später für das Leben in der Stadt umsetzen lässt. Mein Kollege Gion A. Caminada ist in diesen Bereichen seit Langem tätig. Ich selber habe ­seine Arbeit zuerst, wie übrigens diejenige von Peter Zumthor auch, als romantisierend missverstanden. Seit der Romantik beruht unsere Haltung zur Landschaft auf der Kombination von zwei gegensätzlichen Vorstellungen: auf der einen Seite die Verklärung einer angeblich heilen Natur, auf der anderen unser modernistischer Anspruch, die Landschaft restlos zu erschliessen und die Natur zu beherrschen. Diese Dichotomie hat ­insbesondere die Diskussion der Stadt erstarren lassen. Diese scheint mir heute viel zu stark auf das Thema der Innenstadt und die Metropole im ­europäisch-amerikanischen Sinn fixiert. Die grosse Erzählung der Urba­nisierung hat die grosse Erzählung des Fortschritts ersetzt, die das 20. Jahrhundert dominierte. «Verdichtung» gilt als Lösung, obwohl wir jeden Tag sehen, dass dies gleichbedeutend mit «Verdrängung» ist.
Ich bin gemeinsam mit vielen anderen, namentlich mit Jacques Herzog und Pierre de Meuron, die diese Thematik am ETH Studio Basel untersuchen, überzeugt, dass die Hegemonie der Innenstadt als städtebauliches Leitbild, die Idee einer radikalen Trennung von Stadt und Land sowie die Pathologi­sierung des Vororts den Diskurs nicht weiterbringen. Zudem zielen sie auch an der Realität vorbei: Es ist doch so, dass sich immer weniger Menschen leisten können, in Innenstädten zu leben. In der City von London oder im Zentrum von Paris gibt es jetzt schon fast keine erschwinglichen Wohnungen mehr, in Berlin und Zürich ist es bald auch so weit. Wo soll in Zukunft die Mittelklasse leben beziehungsweise die Intelligenzija? Warum nicht in der Kleinstadt oder in verlassenen Einfamilienhaussiedlungen der Vor­-orte, wo sie neue Gebiete des Kommunen erschliessen kann? Das wird ganz neue konzeptionelle und gestalterische Freiheiten eröffnen, auch für Stadtplaner und Architekten.

JS Wie steht es heute mit diesen Freiheiten?

PU Wenn ich mit den Studierenden eine Fabrikruine besichtige, ein obligatorischer Bestandteil jeder Seminarwoche, blüht ihre Phantasie auf. Warum hat das Alte im Entwurfsunterricht keinen Platz? Warum spricht mit Ausnahme meines Kollegen Tom Emerson kaum jemand über Industrie­ruinen? Warum wird dort erst einmal Tabula rasa gemacht, um Platz für das Neue zu schaffen? Auch wenn wir Orte besuchen, wo die Stadt ins Land ausfranst, sind die jungen Leute begeistert. Doch die Schweizer Städte verdrängen die Brachen ebenso wie die ausfransenden Ränder. Es gibt keine Brachen. Die Realität ist die Ummauerung, die Definition, die Ver­siegelung und die Segregation. Es wimmelt in den Entwürfen der Studierenden von Mauern. Natürlich sind sie von ihrer Umgebung geprägt.
In Zürich wird derzeit sehr viel gebaut. Nach den Gründerzeitvillen verschwinden nun die alten Genossenschaftssiedlungen. Die 1930er- bis 1970er-Jahre sind fast spurlos getilgt und den 1980ern wird es bald an den Kragen gehen. In meiner Nachbarschaft ist ein Mehrfamilienhaus aus
den 1950ern abgerissen und durch ein neues ersetzt worden. Es war keine Perle, zugegeben, aber im Neubau wohnen halb so viele Menschen.
Was vom einst grosszügigen Garten übrigblieb, wurde durch eine Serie von Betonmauern ersetzt, als ob es am Fuss des Zürichbergs von Autobomben wimmeln würde. Um jeden Briefkasten, jeden Fahrradständer, sogar um die Mülleimer sind Festungen hochgezogen worden. Warum eigentlich? Dieses fast zwanghafte Wände-Ziehen ist eine Fixierung, die ich aufzubrechen versuche. Angesichts einer zerfallenen Traktorfabrik in St.Petersburg sage ich den Studierenden: Was ihr hier seht, ist nicht ein Kuriosum, sondern es macht ein zentrales Motiv der architektonischen ­Arbeit sichtbar, den Umgang mit der Dimension der Zeit. Nehmt eure ­Be­geisterung in die Praxis mit.

JS Was hat das mit Kunstgeschichte zu tun?

PU Warum muss das Alte verschwinden? Und mit «alt» meine ich gar nicht das, was die Denkmalpflege darunter versteht und unter Schutz stellt und musealisiert. Die Musealisierung kann den Zugang zur historischen Dimension genauso verschliessen wie ein Abriss. «Alt» ist doch auch das, was aus der Zeit der Kindheit meiner Studierenden stammt. Ich ermutige sie, ihre Empathie für die Formen der späten 1980er- und die Farbtöne der 1990er-Jahre ins Spiel zu bringen. Ich will den Studierenden zeigen, dass die historische Dimension ein unendlich reiches Terrain ist, das ihnen zur Verfügung steht. Es ist mehr als ein Fundus an «Vorbildern», mehr als ein Arsenal von Formen. Es ist vor allem ein Ort des Experimentierens, denn sie können daraus lernen, wie eine bestimmte Frage zu anderen Zeiten von anderen angegangen wurde.
Warum reden wir heute noch über Adolf Loos oder über das Saffa-Haus von Lux Guyer? Wie kommt es, dass bestimmte Themen aktuell erscheinen und andere Fälle zu den Akten gelegt werden? Die Kunst kann uns Wege weisen, erstarrte Begriffe wie das binäre Stadt-Land-Modell hinter uns zu lassen. Der Künstler ­Gordon Matta-Clark zum Beispiel, mit dem ich mich im Unterricht viel beschäftige, hat mit seinen Building Cuts gezeigt, welche kreative Kraft im Widerstand gegen ein engstirniges Architekturverständnis stecken kann. Ich versuche, den Studierenden zu vermitteln, dass sie seine Anarchi­tektur nicht zwingend als Abweichung oder Ausnahme betrachten müssen; vielmehr können sie seinen experimentellen Zugang zum Thema «Alt und Neu» in ihr eigenes Repertoire aufnehmen. Die Auseinandersetzung mit Kunst kann die Studierenden lehren, neue Möglichkeiten wahr­zunehmen und zu nutzen.

JS Sich von den Zwängen der Konvention zu befreien, um neue ­Einsichten zu gewinnen, ist unbequem. Man muss das Nicht-
Eindeutige aushalten können.

PU Natürlich ist die Architektur im Gegensatz zur Kunst vielen Zwängen unterworfen. Es gibt gesetzliche Regelungen, ökonomische Einschränkungen und die Bedürfnisse der Bauherrschaft, das will ich weder ausblenden noch die Anarchie propagieren. Trotzdem ist es mein Ziel,
den Spielraum der Einzelnen zu erweitern. Autorität im Sinn von Autorschaft ist wichtig, gerade heute, gerade in einer Zeit, in der Opportunismus ­vorherrscht und so getan wird, als ob Entscheidungen nicht aktiv getroffen würden. Denn Architektur ist eine Folge von Entscheidungen und hat eine Kolonisierung des Raums zur Folge. Das muss man verantworten.
Architektinnen und Architekten sind von ihrer Bauherrschaft abhängig, aber deswegen brauchen sie sich nicht mit ihr zu identifizieren; sie sind deren Auftragnehmer, nicht deren Sprachrohr. Diesbezüglich hat die Schweizer Architektur meiner Meinung nach ein grosses Defizit. Sie hat einen ausgezeichneten Ruf, doch der hängt hauptsächlich mit technischen Fertigkeiten zusammen und nicht mit der Kompetenz, neue Spielräume zu erschliessen. Ich finde bei Weitem nicht alles, was in der Schweiz produziert wird, tatsächlich so gut, wenn ich bedenke, welche ­unglaublichen finanziellen Mittel und gesellschaftlichen Freiheiten ­dahinterstehen. Die Schweizer Architektur wagt viel zu wenig Experimente und Erneuerung.

JS Weshalb?

PU Ihr fehlt das Insistieren auf einer architektonischen Autonomie im Sinn einer eigenen Gesetzlichkeit der Architektur. Der Opportunismus, der die Autorität der Machtausübung wattiert und abdämpft und Konflikte zu umgehen versucht, schlägt sich auch in der zeitgenössischen Archi­tektur nieder. Sie tut niemandem weh, eröffnet aber auch nichts. Ohne Not lässt sie sich zu einem Instrument der Segregierung machen, statt als Brücke der Verbindung zu fungieren.

JS Dieser grenzüberschreitende Ansatz, Methoden und Erkenntnisse von einer Disziplin auf eine andere zu übertragen, prägt auch
dein aktuelles Projekt «Tourism and Cultural Heritage: A Study on Franz Junghuhn» am Future Cities Laboratory der ETH in Singapur. Welche Erkenntnisse erhoffst du dir davon?

PU Dieses Forschungsprojekt, das ich mit meinem Kollegen Alex ­Lehnerer leite, bietet die Chance, einen neuen Zugang zu Themen des Territoriums zu erarbeiten. Die Methode besteht darin, dem deutschen ­Naturforscher Franz Wilhelm Junghuhn zu folgen, der zwischen 1836 und 1848 im Dienst der holländischen Kolonialmacht mehrere Expeditionen durch Java unternommen und als einer der ersten die vielen Vulkane der Insel bestiegen hat. Nun reisen wir Junghuhn in einer Reihe von Expedi­tionen nach und versuchen, die Welt, die wir dort vorfinden, möglichst unvoreingenommen wahrzunehmen. Die Gruppe ist interdisziplinär zu­sammengesetzt. Sie umfasst die Künstler Armin Linke und Bas Princen sowie Martin Kunz, Stefanie Rubner und Berit Seidel vom Kollektiv U5, aber auch Experten wie den Vulkanologen Clive Oppenheimer sowie Doktorierende, Assistierende und Studierende unseres Departements. Junghuhn ist unser Guide und erlaubt uns, die Vergangenheit mit dem Heute zu verknüpfen. Wir legen die Wege zurück, die er vor uns zurückgelegt hat, und betrachten die Landschaften, die er betrachtet hat. Auf
diese Weise wollen wir neue Begriffe entdecken, um die in Stereotypen gefangene und ins Stocken geratene Diskussion über die Stadt zu reakti­vieren. Das ist nur möglich, wenn die historische Dimension und die Rolle der Landschaft mehr Gewicht erhalten. Der Fokus auf die Vulkane hat
sich bewährt, sie provozieren einen besonders differenzierten Blick auf das Territorium.

JS Woran liegt das?

PU Einerseits trägt jeder und jede das Bild des Vulkans in sich; das Vulkanische fasziniert uns alle von klein auf. Andererseits gehören die ­Vulkane zu den am wenigsten verständlichen Phänomenen, trotz aller jüngeren Forschung. Wir wissen sehr wenig über sie. Vulkane wirken scheinbar vertraut und zugleich mysteriös und komplex. Also muss man vor­gefasste Meinungen hinter sich lassen und wirklich genau hinschauen. Vereinfacht gesagt: Bei dieser Versuchsanordnung übernimmt die Figur des Vulkans ein Stück weit die Rolle der Stadt als ein immens komplexer Gegenstand, dem wir uns annähern wollen, ohne ihn durch fest­stehende Begriffe und Analysen zum Verschwinden zu bringen. Wir üben die Annäherung, das Suchen, Besuchen, Darstellen und Interpretieren ­anhand von 17 Vulkanen, die wir im Lauf des Projekts unter dem Titel «17 Volcanoes» porträtieren. Wir nähern uns diesen Vulkanen, als ob es schwer zu ergründende Persönlichkeiten mit verschiedenen Charakteren wären, die einen spritzig, jugendlich und frech, die anderen melancholisch, unberechenbar und bösartig. Ich hoffe, dass ich damit die Art und Weise, wie wir über Stadt und Architektur diskutieren, etwas auffrischen und verändern kann.

JS Inwiefern?

PU Die 17 Vulkane markieren das Terrain und erlauben uns, Geschichte und Gegenwart Indonesiens zu verschränken. Als politisch, ökonomisch und kulturell geprägte Objekte, die handeln und sich zyklisch verhalten, sind die Vulkane weder städtisch noch ländlich, weder tot noch lebendig, weder vergangen noch gegenwärtig, weder gut noch böse. Ihr ambivalentes Wesen macht sie zu fruchtbaren Gegenständen der Forschung, so wie sie ja auch buchstäblich die Umgebung fruchtbar machen. An ihren Hängen ist die unendlich fein aufgefächerte Landwirtschaft von Java zu be­obachten, mit ihren verschiedenen Ebenen von Pflanzungen - von Kartoffeln über Kaffee, Pfeffer, Bananen, Zwiebeln und Kohl, bis hin zu Tabak in den höchsten Lagen. Sie sind landwirtschaftliches Nutzland, stehen aber auch zentral für die Kultur und die Wirtschaftsgeschichte des Landes. Sie zu ersteigen, ermöglicht einen differenzierteren Blick als jedes Stu­dium von Statistiken oder Beschreibungen.

JS Was hat dich am meisten überrascht?

PU Wir haben die Vulkane auch als Rückzugsorte erlebt, als ruhige Parks, fast als Heterotopien - Orte, wo die Menschen ihrem Alltag ent­fliehen und eine unbeobachtete Zeit erleben können. Man muss ziemlich viel Anstrengung auf sich nehmen, um hinzukommen. In erster Linie das Verkehrschaos: In Java leben 140 Millionen Menschen auf einer Fläche, die nur gerade drei Mal so gross ist wie die Schweiz. Die Volkswirtschaft wächst rasant und es gibt unendlich viele Fahrzeuge, man steckt täglich stundenlang im Stau. Deshalb halten wir unsere Projektsitzungen nicht in einem Büro ab, sondern im Bus, während er im Stau steht; die Pläne und Diskussionen entstehen unterwegs. Auf den Vulkanen ist die Stimmung dann eine ganz andere. Es halten sich vor allem Jugendliche dort auf. Sie wandern ganz langsam und entspannt, sie zelten, hören Musik und geniessen die Pause und die Freundschaft. Es sind auch viele Pärchen dabei, die auf diese Weise ihren Familien und religiösen Zwängen entkommen. Es herrscht eine Atmosphäre der Freiheit und der leichten Verschwörung gegen Autoritäten. Die Vulkane sind Orte mit immensem Zukunftspoten­zial: Rückzugsgebiete der Jugend, wo sich vielleicht auch soziale und ökonomische Veränderungen anbahnen können.

JS Gibt es eine Parallele zur klassischen Rolle des urbanen öffentlichen Raums? Sind Vulkane das natürliche Pendant zu den ge­bauten öffentlichen Räumen, die ebenfalls der Gemeinschaft, der Freiheit und der Bewegung dienen?

PU Ich bin weniger interessiert am Gegenüber von privatem und ­öffentlichem Raum, weil sich gerade in den letzten Dekaden gezeigt hat, dass der öffentliche Raum genauso überwacht und reguliert ist wie der private. Mich reizt vor allem der kommune Raum, der Raum also, der sich sowohl der Kontrolle durch die öffentliche Hand als auch derjenigen durch private Interessen entzieht. Ich behaupte, dass die Vulkane am ehesten kommune Räume sind. Sie sind jedem zugänglich. Ausländische ­Be­sucher müssen zwar einen hohen Eintritt bezahlen, weil es meist Natur­reservate sind, aber für Inhaber eines indonesischen Passes ist der Eintritt gering. Man überschreitet eine Schwelle und ist fast gänzlich frei. Am Eingang gibt es einige Wärter, aber nachher wird man in Ruhe gelassen, es gibt keine Kontrolle. Ab und zu stösst man auf ein Basislager oder auf sogenannte Positionen, eigentlich Unterstände, die den Aufstiegsrouten entlang verteilt sind, so dass man im Fall eines Unwetters unterkommt. Es existieren keinerlei kommerzielle Nutzungen wie Imbissbuden oder Seilbahnen, nichts. Eine chinesische Projektteilnehmerin war begeistert: In China seien alle Berge erschlossen und kommerzialisiert, sie habe noch nie einen besucht, der nicht schon kolonisiert sei. Die Vulkane dagegen sind kommune Berge.

JS Welche Erkenntnisse haben die Vulkane in Bezug auf die Schweiz ermöglicht?

PU Sie zeigen, wie obsolet unser binäres Stadt-Land-Modell ist. Um das zu erkennen, muss ich zwar nicht eigens nach Java reisen, und ich kann die Situation in Java auch nicht direkt auf die Schweizer Verhältnisse übertragen - aber die Beobachtungen zu den Vulkanen als kommunen Räumen könnte man auch in der Schweiz nutzen. Wir versuchen ­hierzulande immer noch, die angeblich unberührte Natur von der besiedelten Landschaft zu trennen. Doch damit kommen wir nicht weiter. ­Unsere Vorstellung von Naturschutz besteht darin, gewisse Landschaften abzugrenzen, um sie als Panorama für teure Wohn- oder Ferienhäuser zu erhalten. Wir produzieren Kulissen. In Java kann man die Alternative beobachten: wie man bestimmte Orte ganz zurückhaltend kultiviert und in Ruhe lässt, so dass sie effektiv als natürliche Freiräume funktionieren.

JS In der interdisziplinären Expeditionstruppe nach Java sind bildende Künstlerinnen und Künstler gut vertreten. Welchen Beitrag leisten sie zu einem Forschungsprojekt, das auf den Spuren eines Naturforschers neue Erkenntnisse zu Architektur und Urbanismus zu gewinnen sucht?

PU Das hat wieder mit der Überschreitung von Grenzen zu tun und mit dem Erforschen jener Grenzzonen, in denen sich die Kräfte noch in ­Bewegung befinden. Ich habe vorhin von Bohrlöchern gesprochen...Künstlerinnen und Künstler registrieren Veränderungen früh, weil sie unvor­eingenommen beobachten. Sie haben eine Freiheit und Experimentiermöglichkeit, die Wissenschaftlern oder Architekten, die viel ziel- und ergebnisorientierter vorgehen, abgeht. Ich will Künstlerinnen und Künstler nicht als allwissend mystifizieren, aber ich gewinne viele Fragestellungen aus dem Gespräch mit ihnen. Wie übrigens auch aus dem Gespräch mit Studierenden - sie sind jung und neugierig und haben ein besonders feines ­Gespür für das, was kommt. Wie Antennen helfen sie mir, zu erkennen, wo sich etwas verändert, wofür es noch keine Worte gibt. Hier kann ich als Theoretiker ansetzen. Gute Fragestellungen sind Gold wert. Ich suche nach den Orten, wo Transformation passiert, und versuche, dafür Begriffe zu finden - zu übernehmen, zu transferieren oder neue zu prägen - und so vielleicht den Fokus des theoretischen Diskurses etwas zu erweitern.

JS Es ist nicht das erste Mal, dass du die Perspektive eines Naturforschers wählst und die Kunst beiziehst, um dich mit der Gestaltung des Raums auseinanderzusetzen. Die Ausstellung über das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron, die du 2000-2002 im Auftrag des Canadian Centre for Architecture in Montreal kuratiert hast, beschäftigte sich auch mit der unscharfen - und gerade deshalb so inspirierenden - Grenze zwischen Kunst und Architektur. Und das Buch zur Ausstellung trug den Titel «Naturgeschichte»...

PU Das stimmt, dieses Motiv zieht mich immer aufs Neue an. Die ­naturhistorischen Museen aus dem 19. Jahrhundert faszinieren mich seit meiner Jugend, weil sie unmittelbar Zeugnis ablegen vom menschlichen Wunsch, Phänomene zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, und zugleich auch belegen, dass das Ergebnis zeitgebunden und teilweise schlicht falsch ist. Heutzutage sind die meisten dieser Museen kuratorisch aktualisiert, aber etwa bis zum Millennium waren einige noch im Urzustand vorzufinden. Diese vergessenen und verstaubten naturhistorischen Museen erlaubten eine fast magische Zeitreise. Man konnte ­Anteil haben an diesem ersten Moment, in welchem die frisch entdeckten Dinosaurierknochen in der Sammlung eintrafen und der Grösse nach ­geordnet wurden. Man konnte dem Ordnungsgeist der Menschen über die Schulter blicken und beobachten, wie - beispielsweise im Museum für ­Naturkunde in Berlin - die Wissenschaftler die Dinosaurier rekonstruierten und in der stolzen Haltung der damaligen deutschen Fürsten darstellten. Der Brachiosaurus, der jahrzehntelang auf seinen Schwanz gestützt in der Haupthalle thronte, wird inzwischen den aktuellen Forschungsergeb­nissen gemäss neu präsentiert: als ängstliches Wesen, das den Schwanz dazu benützt, die Balance in der Waagerechten zu halten. Er wird in pre­kären Lebensbedingungen, in stetiger Flucht geschildert, wie ein Akademiker auf der Suche nach Fördermitteln oder ein Beamter, der sich in den Räumen der Bürokratie durchschlägt.

JS Trifft das nicht auch auf Kunstausstellungen zu?

PU Naturkundemuseen sind für diese Beobachtung ergiebiger als Kunstmuseen, weil letztere häufiger aktualisiert werden. Vor allem
aber werden in Kunstmuseen die einzelnen Objekte voneinander isoliert gezeigt. Das einzelne Werk steht im Zentrum, allenfalls im Zusammenhang mit früheren Werken desselben Autors. Im Naturkundemuseum geht es hingegen darum, einen Kosmos auszubreiten, eine Kosmologie zu ­entwerfen. Das gibt es in der Kunst praktisch nicht, vielleicht am ehesten noch in einigen Kunstgewerbemuseen.

JS Das naturhistorische Museum ist eine Möglichkeit, sich in eine Frühzeit der Wissenschaft zu katapultieren, als die Disziplinen noch nicht so säuberlich getrennt und die Grenzen noch nicht so scharf gezogen waren wie heute.

PU Ja, und das Werk von Herzog & de Meuron hat auch immer dieses synthetische, verbindende Element. Die Faszination für das Naturkundemuseum teile ich übrigens mit Jacques Herzog und wir haben oft darüber diskutiert. Er wollte nicht, dass wir die Ausstellung «Naturgeschichte» nennen, weil dies seiner Ansicht nach dem vorwärts gerichteten Impuls des Büros widersprochen hätte. Aber er hat den Begriff als Titel des ­Katalogs begrüsst, weil er die erzählerische Struktur einer naturgeschichtlichen Enzyklopädie des 19. Jahrhunderts aufgreift. Es ist wirklich eine ­Geschichte, eine Art Kosmologie, eine Erklärung von allem, wohl wissend, dass das utopisch ist. Es ging darum, so zu tun, als ob man mit dem Begriff Naturgeschichte alles in Zusammenhang bringen könnte. Das Buch konfrontiert das Werk von Herzog & de Meuron mit Kunstwerken und ­Themen, die sie beschäftigt haben; und es zeigt den Blick von zeitgenössischen Künstlern auf dieses Werk. Das schien mir eine gute Möglichkeit, um dieses dynamische, komplexe Schaffen zwar nicht zu fassen, aber in ein Buch zu übersetzen.

JS Der naturhistorische Ansatz ist so etwas wie eine Zeitreise, bei der du Denkmodelle und Untersuchungsmethoden einer vergangenen Epoche auf einen heutigen Untersuchungsgegenstand richtest. Mit Franz Wilhelm Junghuhn kommt die Reise durch den Raum hinzu.

PU Ja, und das ist eine einzigartige Erfahrung. Bei diesem Projekt kommt eine neue Methode ins Spiel: die Bewegung, das Wandern, die Forschungsreise. Vor vier Jahren, an der Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, zeigte Natasha Ginwala einige Bücher von Junghuhn in einer Vitrine. Seither haben mich diese Porträts von Vulkanen nicht mehr losgelassen und ich wusste: Diese Naturforschungsreise will ich wiederholen. Ich führte viele Gespräche darüber mit meinem Kollegen, dem Städteplaner und Architekten Kees Christiaanse, der Junghuhn bewundert und in seinem Werk die Präfiguration seiner eigenen Interessen entdeckt hat. Schliesslich habe ich gemeinsam mit Alex Lehnerer beschlossen, ein ganzes Projekt um Junghuhn herum anzulegen. Damit rückte auch die Forschungs­reise als Motiv ins Zentrum. Klar war auch, dass wir diese Reisen immer in Gruppen machen würden. Junghuhn selbst ist nie allein gereist, er hatte immer mindestens einen Gefährten und etliche Diener bei sich. Er erforschte die Grenzen des damals Bekannten, er besuchte die geheimnisvolle Welt der Vulkane, aber jemand war immer vor ihm da: Bauern, Sultane, Beamte, Missionare, Regenten, frühere Forscher...

JS Wieder eine unscharfe Grenze?

PU Alles ist erschlossen, das war schon bei Junghuhn so, aber ja: die Grenzfrage interessiert mich auch. Wo ist die Grenze zwischen dem, was erschlossen ist, und dem, was wirklich niemand kennt? Diese zweideutige Situation ist nicht nur für die Forschungsreise typisch, sondern auch für den Tourismus: Immer wartet bereits ein Guide auf mich. Ich will das Forschen gar nicht radikal vom Tourismus trennen; ich glaube, die beiden Praktiken sind verbunden. Jemand empfängt und führt uns, und wir führen wiederum jemand anderen. Das hat mich interessiert. Und dann die Frage, wie ich die Grenze des Bekannten erreichen kann, ohne in eine ­koloniale Mythologie zu verfallen und mir so das Terrain zu unterwerfen. Für die Auslotung dieser Grenze ist Java besonders geeignet. Es handelt sich um eine extrem dicht besiedelte und bis ins letzte kultivierte Gegend, wo fast alles seit Hunderten von Jahren durch Menschen trans­formiert ist, wo immer schon jemand war und ist und sich viele Geschichten überlagern. Und trotzdem gibt es eine Grenze: der Krater des Vulkans.
Er ist die Trennung zwischen aussen und innen, eine Grenz­linie, ein Eingangspunkt, ein «entry point», wie die Kunsthistorikerin Irit Rogoff ­sagen würde. Den kann ich lokalisieren, zumindest temporär. Die Grenze ist für eine bestimmte Zeit eindeutig, dann verändert sie sich. Der Vulkan stellt sie immer wieder neu her, in dem er ausbricht und seinen Kegel trans­formiert. Deshalb eignen sich Vulkane besser für meine Untersuchung als etwa die Alpen; Vulkane befinden sich in ständiger Transformation, sie sind performative Landschaften - im Prinzip sind sie auch gar ­keine Landschaften, wir nennen sie Figuren in der Landschaft, weil nicht klar ist, ob sie statisch oder dynamisch sind, von heute oder aus der Vergangenheit, und weil sie kein Hintergrund sind. Vulkane sind alles andere als ­passiv.

JS ...und sie zu besteigen, ist alles andere als ungefährlich. Wenn du Junghuhn folgst, begibst du dich auf unsicheres Terrain, phy-
sisch wie auch begrifflich. Du verlässt die allgemein anerkannten Wege der Kunstgeschichte und überschreitest die Grenze ­dessen, was als streng wissenschaftlich gilt. Damit machst du dich angreifbar.

PU Gefährlich sind die Vulkane für die Anwohner, nicht für uns, denn wir würden uns bei Anzeichen von Gefahr nicht hinbegeben. Die Faszi­nationskraft des Vulkans ist fast so alt wie jene der Kunst, ganz allein stehe ich also nicht da. Aber die Methode ist schon ungewöhnlich. Natürlich ­verlasse ich die ausgetretenen Pfade, aber das will ich auch. Ich sehe meine Aufgabe darin, neue Wege zu erschliessen und Zusammenhänge zu zeigen, die bisher nicht beachtet wurden. Aber das Projekt steht nicht ganz isoliert da. Es ist nur dank eines sehr grosszügigen Forschungsstipen­diums möglich, ich geniesse institutionellen Rückhalt und grosses Vertrauen. Klar gab es auch Kritik, wir würden im Trüben fischen und die ­Mög­lichkeit des Reisens missbrauchen. Das nennt man in der Forschung eben «risk» - in der Naturwissenschaft ist das durchaus positiv konnotiert...Ich würde nicht behaupten, dass wir es mit einem «high risk»-Projekt zu tun haben, aber es besteht die Möglichkeit, dass nichts brennend Interes­santes dabei herauskommt. Ich bin aber zuversichtlich, weil wir ein ausgezeichnetes, extrem kreatives Team haben. Die Reaktionen fallen ­unterschiedlich aus. Es gibt hochgezogene Augenbrauen, gerümpfte Nasen, viele Kollegen sind skeptisch. Andere verfolgen das Projekt mit ­grösstem Interesse und finden, dass sich diese Methode auch auf andere Gebiete übertragen liesse.

JS Das kollektive Reisen zur Aneignung neuen Wissens ist an sich ja nicht neu.

PU Nein, es gehört zu den bewährten Mitteln der Lehre und Forschung. Der Zusammenhang von Gehen und Denken ist seit der Antike ein Thema. Die Aufmerksamkeit ist während einer Reise viel grösser als in den Hör- oder Zeichensälen, eingespannt in die Routine des Curriculums. An der ETH sind die Seminarwochen seit den 1970er-Jahren obligatorischer Teil der Lehre. Ich selber führe sie seit Mitte der 1990er-Jahre durch, anfangs als Assistent mit Kurt W. Forster. Sie sind, wenn man so will, das Rückgrat der Lehre, der Moment, wo Forschung und Lehre miteinander verwoben sind. Es ist ein ständiges Reflektieren über die Methoden des Herausfindens, des Reisens, Forschens, Erzählens. Junghuhn ist ein Alter Ego des Forschers: ein imaginärer Begleiter, aber auch ein Korrektiv für unser Tun. Er war als Wissenschaftler unendlich produktiv und hat die Botanik, die Geologie, die Kartografie und die Vulkanologie weiter­gebracht. Er ist sowohl eine Projektionsfigur für unsere Vorstellungen von abenteuerlicher Forschung als auch ein Vorbild für wissenschaftliche ­Genauigkeit und methodische Originalität.

JS Viele Architektinnen und Architekten sind gern bereit, Begriffe aus anderen Disziplinen zu übernehmen, deren wissenschaftliche ­Definition sie gar nicht wirklich zu verstehen versuchen, die sie aber als Inspiration nutzen, um ihre Wahrnehmung zu erweitern. Wie reagieren die Architekturstudierenden, die an den Reisen teilnehmen, auf das Forschungsprojekt?

PU Sehr gut. Anfangs wollte ich ein reines Forschungsprojekt durchführen, aber Alex Lehnerer und die Studierenden haben mich überzeugt, es auch für die Lehre zu öffnen. Wir haben entschieden, mit 30 Studierenden auf den Merapi zu steigen, den gefährlichsten und zugleich am besten überwachten Vulkan Indonesiens. Die Begeisterung der Studierenden hat für mich das Projekt erst richtig in der Architektur verankert. Den ­jungen Menschen war völlig klar, dass das Besteigen dieses Vulkans ihnen zentrale Erkenntnisse zu Architektur und Raumgestaltung ermöglichte. Sie haben mir bewusst gemacht, dass der Merapi auch eine Art Gebäude ist. Sie haben beschrieben, welche Geräusche sie hören, welche Raum­empfindung sie haben, wie sich die unterschiedlichen Gesteine anfühlen, was sie riechen, von welchem Punkt an der Vulkan sich in ihren Augen von einem Berg in einen Vulkan verwandelt. Während der letzten halben Stunde des Aufstiegs wurde der Krater als Hohlraum spürbar, wir be­wegten uns wie auf der Kuppel eines Gebäudes. Ich hätte das alleine so nicht wahrnehmen können, erst in der Diskussion der an der Reise Teil­nehmenden hat sich dieser Aspekt der Räumlichkeit für mich erschlossen.

JS Du siehst es als deine Aufgabe als Kunsthistoriker, angehende ­Architektinnen und Architekten dazu zu bringen, ihre Wahrnehmung des Raums zu erweitern und zu differenzieren?

PU Ja, denn sie werden diesen Raum gestalten, konzipieren, beschreiben und verändern. Ich denke nicht, dass Architekten hauptsächlich Aufgaben lösen sollen, die andere ihnen vorgeben. Für mich sind sie Intellektuelle, die eine zentrale Rolle in der Gesellschaft spielen sollten, nämlich dort, wo räumliche, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Themen zusammenkommen. Sie sind exemplarische Figuren, sie überblicken grössere Zusammenhänge, auch zeitlich. Im Entwurf üben sie die Fähigkeit, eine interdisziplinäre Synthese zu schaffen. Die Ausbildung sollte sie dazu befähigen und ermutigen, eine grenzüberschreitende Rolle zu übernehmen, so unbequem diese auch sein mag. Die Arbeitswelt befindet sich seit den 1970er-Jahren in ständigem Wandel. Nach den handwerklichen Berufen sind auch viele Verwaltungstätigkeiten von ­Maschinen verdrängt worden. Als nächstes wird es die Juristen und Ökonomen treffen, also Funktionen, von denen man bis vor Kurzem dachte, dass sie unersetzlich wären. Architektinnen und Architekten wird es geben, solange Architektur gebaut oder geträumt wird. Es liegt auch in ihren ­Händen, ob die Gesellschaften den Unterschied zwischen Architektur und bloss Gebautem in Zukunft zu schätzen wissen werden.

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