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Anne Pantillon – Innen/Aussen

Vevey, La Chaux-de-Fonds – Diese Tage ist die Monografie zum Werk 2000–2022 der Malerin, Zeichnerin, Kupferstecherin, Holzschneiderin und Fotografin und Performerin Anne Pantillon (*1964) erschienen, in französischer und englischer Sprache beim renommierten Mailänder Verlag 5 Continents. Diesen Anlass feiern das Musée Jenisch Vevey und das Musée des Beaux-Arts La Chaux-Fonds mit je einer Veranstaltung mit der Künstlerin, die sich seit 2000 faszinierend porös und neugierig in eine Reihe abstrakter Experimente eingeschwungen hat, und zwar wie in immer wieder neuen Schnittmengen der von ihr bislang separat praktizierten Medien. Überraschend – nicht zuletzt für sie selbst – ist sie jedoch während des ersten Lockdowns 2020 zu einer Gegenständlichkeit zurückgelangt, deren Kraft auch von Fachleuten nicht übersehen wurde: Die aktuelle Entwicklung ihres Werk haben ihr 2021 an der 74e Biennale de l'art contemporain in La Chaux-de-Fonds den Prix Huguenin-Dumitan für die von ihr dort gezeigten Werk und 2022 den Prix UBS pour la culture als Anerkennung für ihren Parcours und ihre pluriellen Ansätze beschert.

Die zwei Veranstaltungen wurden dabei von den Leitungen der beiden Museen, die sich zusammen mit der Konservatorin der Fondation L’Hermitage Corinne Currat und dem Schriftsteller Pierre Fankhauser auch für die Texte in der Monografie verantwortlich zeichnen, komplementär ersonnen. So hat Nathalie Chaix bereits am letzten Donnerstag (10.11.) zwischen in die lauschige Bibliothek des Musée Jenisch Vevey geglittenen Werken aus dem neuesten Zyklus seit 2020 ein klassisches Künstlergespräch mit Anne Pantillon geführt. David Lemaire hingegen wird am Dienstagmittag (15.11.) mit Anne Pantillon diejenigen Werken in der Sammlung des Musée des Beaux-Arts La Chaux-de-Fonds aufsuchen, die der dort geborenen und aufgewachsenen Künstlerin schon lange zu Freunden geworden sind.

 

Geige oder bildende Kunst

Schon damals war sie gebannt von bildender Kunst gewesen und zeichnete die Welt um sie herum ohne Unterlass. Da sie sich jedoch musikalisch hoch begabt mit sogar einem absoluten Gehör erwies, stand lange Jahre die Geige nicht nur als künstlerischer Ausdruck, sondern auch als berufliche Aussicht im Vordergrund. Anne Pantillon würde Instrumentalistin werden. Erst vor der Matura befielen sie Zweifel, ob sie nicht eine stärkere Affinität zu Farben, Formen, Texturen in weniger abstrakter, ephemerer Form hat, als dies in der Musik der Fall ist. Sie studierte in Neuenburg deshalb parallel in der Berufsklasse des Konservatoriums, wie sie an der Académie de Meuron graduierte. Trotz des in letzterer Schule kaum weniger rigorosen Unterrichts entdeckte sie in Bildmedien eine Freiheit, von der sie als Geigerin nur träumen konnte, die Freiheit, die Kunst selbst zu definieren.

 

Engagement

Das in der Folge auf zeitgenössische Ansätze auch in neuen Medien konzentriertes Studium Ecole cantonale d’art de Lausanne schloss sie 1989 mit zwei Auszeichnungen ab, der Prix de la photographie de l’ECAL und der Prix visarte pour l’ensemble du travail. Nur wenige Monate zuvor hatten ihr die überwältigenden Raumerfahrungen während einer Reise in den Himalaya noch neue nicht zuletzt auch plastische Dimensionen wie Monumentalität und Komplexität geöffnet, die sich auch flagrant in ihren Arbeiten erlebbar erwiesen. Die nächsten Jahre gehörten jedoch erst einmal der beruflichen Entwicklung zur Zeichenlehrerin (Diplom und Einstieg 1990) sowie den Geburten eines Sohns und einer Tochter 1991 und 1993, was nicht zuletzt zu einer Befragung ihrer Rolle als Künstlerin jenseits dieser festumrissenen Aufgaben führte. Bereits ab 1993 setzten in der Tat zwischen Schulstube und Familienwohnung wieder kleinformatige Malereien, Zeichnungen und Collagen auf Papier zu Themen ein, die sie erschütterten, wie die Bioethik oder der postjugoslawische Krieg wie auch im Zusammenhang mit diesem und anderen Konflikten politische Embleme ein. Das öffentliche Interesse war da, doch ein Unfall 1997 zwang Anne Pantillon sich auf die Familie zu konzentrieren und sich erst wieder aufzubauen, wozu ihr vor allem der Naturkontakt half.

 

In medias res

Die nun publizierte Monografie lässt sie mit den Werken, die ihr daraus heraus bereits vorschwebten, als sie 2000 im Lausanner Handels- und Industriequartier Sébeillon wieder ein geräumiges Atelier bezog. Ähnlich wie bereits gegen Ende ihres Studiums 1989 erwies sich nicht zuletzt die Erfahrung einer einzigartigen Landschaft auf einer Reise als Auslöser eines plastischen Schubes. Diesmal waren es die Basaltorgeln an den Kliffen in der Ardèche. Sowohl bei diesen von Flüssen freigelegten und durch Wind und Wetter sowie die eindringende Vegetation erodierenden Steinformationen aus unter Druck erkalteter Lava als auch schon beim hoch aufgefalteten Himalaya kann man sich jedoch die Frage stellen, ob sie in Anne Pantillon nicht wesentlich Erinnerungen an das weitläufige, zerklüftete Juraplateau mit seinem rüden, von Stürmen und weiter Temperaturamplitude geprägten Klima hervorholten. Manchmal muss man weit gehen, um nach Hause zu finden.

Wie auch immer, diese Basaltorgeln regten Anne Pantillon dazu an, sich während gut 15 Jahren nicht nur in subtilster Art und Weise mit Reliefs zwischen illusionistischer konkreter Raumstaffelung zu beschäftigen. Sie eröffneten ihr Werk auch einer Abstraktion, die ähnlich wie in der Musik nach Klängen suchte und diese in Bildern mit einer Sukzession von Harmonien und Spannungen im Panoramaformat teils sogar von einer Zeitachse durchdringen liess. Anne Pantillon malte und zeichnete tatsächlich gar nicht mehr, jedenfalls nicht mit Pinsel oder Stift. Vielmehr collagierte sie essenziell mit in entweder durch Tusche oder durch Wasserfarbe fast wie Textilien eingefärbte Papierfetzen, über die sie nach dem Trocknen teils nochmals Tusche oder Wasserfarbe rinnen liess. Temporär, nämlich von 2008 bis 2014, gesellte sich zu diesen als ‹Basalte› und   ‹Ruissellements› adressierten Zyklen weiter die sogenannten ‹Rivers & Rocks›. An Kiesel auf Sand, soweit das Auge reicht, mahnend, kann man sie als Beschäftigung nun auch noch mit den Flussbetten unter den Basaltorgelns interpretieren, in die Anne Pantillon bei deren Studium oft hineingewatet war. Es handelt sich dabei jedoch auch um eine bewusste Fortsetzung auf riesigen Papierbögen der auf dem Atelierboden unter den zum Trocknen aufgehängten Papierfetzen im Rahmen von ‹Basalte› und ‹Ruissellements› entdeckten Ablagerungsmuster zwischen Tusche und Wasserfarbe, die sich gegenseitig abstossen. Mehr und mehr behandelte die Künstlerin ihren Malgrund jedoch in der Tat wie ein Flussbett. Kübelweise leerte sie Tusche und Wasserfarbe in unterschiedlicher Konzentration darauf und assoziierte die von ihr immer besser verstandenen und erfühlten zwischenmolekularen Kräfte dieser Farbflüssigkeiten in einer bislang rar beobachteten Radikalität als Gestaltungsmittel. 

 

Der Wind, der Wind, das himmlische Kind

Diese immer intensivere Körperarbeit bei ‹Rivers & Rocks› sollte schliesslich im Rahmen einer Auftragsarbeit von Visarte Genève zum Lärm in eine bislang ungekannte Form performativer Malerei kippen – mit auch für das Auge der Betrachtenden stupenden Resultaten. Pierre Fankhauser hat diesem in seinem Text denn auch eine eigene Stimme gegeben. Anne Pantillon begann mit der weichen Unterseite ihrer Vorderarme zu Aufnahmen von Winden und Stürmen in den Bergen auf Blättern einen Ausdruck zu geben. Am Anfang sahen diese, ausgeführt in Deckfarbe, noch etwas wie die Modellabklatsche von Yves Klein mit nach wie vor viel Weiss darum herum aus. Bald entstanden durch die Entwicklung einer Mischtechnik, die lange flüssig blieb und nur beschränkt zur Vermischung von Hell und Dunkel oder der Farben führt, zunehmend ein an Dünen, Wolken, Wasser oder auch Derwischtänze erinnerndes All Over. Nach dem Tod ihrer zuletzt dementen Mutter 2016 exteriorisierte Anne Pantillon in der Serie ‹Oscillography› jedoch auch zu für sie längst mit ihrer eigenen Seele verwobenen Kompositionen für Solovioline von J. S. Bach ihren Schmerz über diesen Verlust. Dies kam zugleich einer Wiederbelebung der seit der Wiege der Menschheit nachgewiesenen Trauerritualen, die durch heftige Gesten die zurückgebliebenen Personen als Ganze heilten, aber in unserer in der Frühen Neuzeit vergeistigten Kultur teils sogar durch obrigkeitliche Anordnungen unterdrückt wurden. 

 

Das Innenleben wird zum Historienbild

Als wir uns 2019 zur Eindämmung der Pandemie für lange Wochen zu Hause wiederfanden, hoffte Anne Pantillon diese schulfreie Zeit eigentlich in ihrem zu Fuss erreichbaren Atelier zu ausgiebiger Weiterarbeit nutzen zu können. Schon bald fühlte sie sich in dem normalerweise von anderen Kreativen hörbar belebten Industriegebäude jedoch deplatziert und akzeptierte den Lockdown auch aus Solidarität mit ihrer eben von einer Fortbildung im Ausland zurückgekehrten Tochter. Anne Pantillon begann das in die Wohnung einfallende Licht am Tag und die erleuchteten Fenster in der Nacht mit der Idee zu aquarellieren, diese für sie immer auch Hoffnungsschimmer darstellenden Gelbe, Orange und Rote zwischen den Grau-Blau-Grün-Tönen der Stadt, des Sees und der Berge in entsprechend verinnerlichter Form zu Werken gerinnen zu lassen. Aber sie realisierte, dass genau das, was sie in ihrer Wohnung sowie von deren Balkon und den Fenstern erspähte, von einer das Private und das Publike plötzlich flagrant verbindenden Bedeutung war, die eher eine Monumentalisierung denn Abstraktion und Sublimation erfoderte. Die riesigen noch von ihrer Mutter aufbewahrten Leintücher, die diese als noch als Ledige mit dem Monogramm aus den Initialen ihres Vornamens und ihres Mädchennamens bestickt hatte, boten sich sogleich als ein dieses Spannungsfeld bereits in sich tragender Malgrund an. 

Diese plötzliche Wende in ihrer Arbeit blieb nicht allein. Vielmehr fielen diese neuartigen Bilder zunehmend surrealistisch und symbolisch aus. Der Blick aus dem Fenster wurde zu einer Sehnsucht, um die Ecke und über das Dach der umstehenden Häuser zu sehen, ja besonders in der Nacht sogar die Schwerkraft und alle offenen ihr wie auch ihrer Tochter den Schlaf raubenden Fragen hinter sich zu lassen.

 

Figuration ist nur die Haut der Malerei

Der Zyklus ‹Interieur(s)› ist mittlerweile in oft davon losgelöste Ausblicke über ganz an den unteren Rand gerückte Gebäude und Berge übergegangen, die Anne Pantillon nun auf konventionelle Leinwände malt oder als Monotypien auf Papier realisiert. Sie stehen für unser Bedürfnis nach einer Relativierung unserer Existenz in Form einer meditativen Vereinigung mit universalen Kräften. Das letzte Bild in der Monografie von Anne Pantillon ist ein nach einer bereits 2021 fabrizierten Monotypie unter dem Titel ‹Stairway to Heaven› ausgeführtes Gemälde, auf dem man über ein unendlich hart und schwer wirkendes Betondach auf einen weiten, mit leichter Hand gemalten Himmel sieht, der an die atmosphärischen Bilder der venezianischen Maler erinnert, allen voran Paolo Caliari, genannt Veronese. Die immer performativeren Abenteuer mit Farbflüssigkeiten von 2000 bis 2020 haben Anne Pantillon gelehrt, sich selbst bei realistischer respektive surrealistscher Arbeit nie von einer physisch-emotionalen Verbindung mit der Malerei zu separieren. Mit ihrer Aussage «Figuration ist nur ein Aspekt, es ist die Haut darüber, alles andere wird durch innere Bewegungen bestimmt» führt sie uns zweifellos mitten in das Geheimnis ihres neuesten Zyklus.

 

Musée Jenisch Vevey, 10.11, 18.30 Uhr, Une soirée avec Anne Pantillon

Musée des Beaux-Arts La Chaux-Fonds, 15.11., le 12.15 Uhr, Viens manger chez moi! – Avec Anne Pantillon

 

 

Institutions

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Musée Jenisch Vevey
Switzerland
Vevey
Vevey
Musée des beaux-arts La Chaux-de-Fonds
Switzerland
La Chaux-de-Fonds
La Chaux-de-Fonds

Artist(s)

Details Name Portrait
Anne Pantillon