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Barbara Basting Es erscheint zunächst unmöglich, deine Arbeit mit
einem bevorzugten Medium zu identifi zieren oder deine Absichten auf knappem
Raum zu umschreiben. Was sagst du, wenn du einem Fremden Dein Werk kurz
vorstellen sollst?
Hervé Graumann Kommt ganz darauf an, wer es ist. Wenn ich sage,
dass ich ein Maler bin, kann es passieren, dass man sich sofort eine
Palette und ein Beret dazu denkt....

BB ...ein bisschen wie Raoul Pictor, dein künstlerisches Alter Ego?

HG Wahrscheinlich. ...Raoul verkörpert das Klischee des Malers.
Was die Medien betrifft, hat man Künstler zu oft auf ein Medium festgelegt
- Fotograf, Videokünstler, Bildhauer -, und das finde ich zu einfach, zu
exklusiv. Die Technik und das Material lassen sich nicht von der ästhetischen,
konzeptuellen, sinnlichen Dimension eines Werks ablösen. Wenn man
diese Parameter einsetzt, kann es solche Grenzen nicht geben. Für mich
hat es sich bewährt, die Sache auf diese Weise anzugehen. Der Computer
behandelt alles Mögliche auf die gleiche Weise.

BB So klar es ist, dass sich dein Werk nicht auf bestimmte Medien
reduzieren lässt, stellt sich dennoch die Frage nach dem roten Faden.

HG Überlagerung, Überlappung, Austausch, Ersetzung, Verdoppelung,
Ordnung, Äquivalenz, Wahrnehmung, Übersetzung - vielleicht muss man in
dieser Richtung suchen. Wenn ich etwas herausgefunden habe, öffnet sich
oft eine neue Tür fürs Weitermachen. Ich habe niemals nach Werkperioden
funktioniert; ich kann sehr gut Arbeiten wieder aufgreifen, die ich vor
längere Zeit begonnen habe.

BB Raoul Pictor ist dafür ein gutes Beispiel, er wurde immer
wieder weiterentwickelt. Wie ist er überhaupt entstanden?

HG Damals, als ich meinen PC und meinen Farbdrucker nebeneinander
auf meinem Pult sah, dachte ich, dass man unbedingt eine Arbeit mit diesem
unzertrennlichen Paar, einer Art von kleiner Fabrik, machen sollte. Meiner
Ansicht nach ging es um die Fragen, welche dieses Instrument im künstlerischen
Kontext stellte. Das Sujet des Malers in seinem Atelier ist ein klassischer
Gegenstand der Malerei. Ich sagte mir, dass es interessant wäre, etwas aus
dem nicht-linearen System herauszuholen, das die Programmierung mit diesen
Maschinen erlaubt. Etwas zu machen, das sich dem Organischen annähert,
das System allein arbeiten lässt, um uns Bilder zu offerieren. Vor diesem
Hintergrund ist Raoul Pictor 1993 in den Dienst genommen worden. Er
konsultiert seine Bibliothek, macht ein paar Schritte, malt, trinkt... Man
weiss nie, was er als nächstes machen wird, und so weiss man auch nie,
was er produzieren wird, wenn der Drucker uns sein « Gemälde » ausspuckt.

BB Damals hatte das auch eine subversive Stossrichtung gegen den
Markt: es ging um die Kunst im Zeitalter der vollständigen Reproduzierbarkeit.
Ist dieser Aspekt für dich immer noch wichtig? Besonders auf
dem Gebiet der Bildvermarktung sind die Fragen nach dem Original und der
Autorenrechte seither immer wichtiger geworden.

HG Subversiv schon, jedenfalls hatte es nur schon vom Medium her
eine provokante Seite, weil der Markt mit einer Million Bilder nichts
anfangen kann. Er zieht die singulären Bilder vor, die eine Million kosten.

BB Es war auch eine der ersten Arbeiten, mit der das Werk eines
Künstlers per Internet verbreitet wurde. War das für dich wichtig?

HG Am Anfang wussten die Leute eigentlich gar nicht recht, was
anfangen mit seinen Bildern. Manchmal waren sie gratis, manchmal verlangte
ich fünf Franken, und es gab Sammler, die sagten: « Ich habe zwei Werke
von Ihnen gekauft, zwei Gemälde von Raoul Pictor », für mich waren das
zehn Franken, die ich mit dem Galeristen teilen konnte, ein echtes
Geschäft also. Aber der Witz des Werkes liegt nicht im Ergebnis, sondern
im System. Dreissigtausend Jahre Malerei, eine alte Geschichte, und jetzt
die Bildschirme. Es ergab sich so, Raoul Pictor aufs Netz zu legen, ihn
aufzudatieren, um mit diesem Raum zu experimentieren, der offenbar sein
eigenes Territorium werden sollte.

BB Deine Arbeit wurde anfangs gerade deswegen oft als konzeptuell
qualifi ziert, weil Du immer wieder auf bestimmte Kernideen zurückkommst.

HG Ja vielleicht mangels besserer Begriffe, obwohl ich das gar
nicht befriedigend fi nde, weil es zu sehr auf den Gegensatz von Abstraktion
und Figuration verweist. Derlei sagt mir nichts.

BB Der Begriff des Konzeptuellen verweist auch auf eine bestimmte,
inzwischen kunsthistorische Epoche. Welche deiner Arbeiten wird denn am
ehesten damit assoziiert?

HG Als ich monochrome Gemälde erstmals 1992 in der alphabetischen
Ordnung ihrer Farben in verschiedenen Sprachen sortiert habe, konnte man
an eine konzeptuelle Arbeit denken. Aus meiner Sicht allerdings handelt
es sich dabei eher um die Umsetzung einer Beobachtung: die Ordnung der
Farben, wie man sie in einem deutschen Wörterbuch fi ndet, unterscheidet
sich von jener in einem französischen oder spanischen Wörterbuch. Es
handelt sich also mehr um eine vorgefundene Komposition, um etwas, was man
beobachten kann. Ich würde das als eine Form der Figuration bezeichnen.

BB Jedenfalls lässt sich hier ein weiteres Prinzip entdecken,
das mir für deine Arbeit wesentlich erscheint: die Zweckentfremdung von
Technologien. Es gibt Arbeiten von dir, wo du dieses Prinzip auf den
Computer anwendest. Du benutzt eine bestimmte Software und usurpierst sie.
Du verstehst dich zwar nicht als Multimedia-Künstler; aber der Computer,
die Digitalisierung hat dich doch während deiner gesamten künstlerischen
Laufbahn begleitet.

HG Natürlich auch, weil diese Technologie die Welt und unsere
Beziehung zu ihr gründlich umgekrempelt hat, was zwangsläufi g Auswirkungen auf
die Ästhetik hat, aufs Denken, auf die Arbeitsweise. Auf der Beobachtung dieser
Transformationen basiert meine Arbeit. 1993 habe ich eine Serie mit Gemälden
begonnen, die den Titel « Landschaftskomposition » tragen, mit Leuten, deren
Eigenname zugleich ein allgemeine Bezeichnung ist: rossignol|Nachtigall,
buisson|Busch, branche|Zweig. Was ist die Wortfolge B-U-S-C-H? Es ist ein
Wort, eine Buchstabenfolge, die eine Sache bezeichnet. Und wenn es um eine
Person geht, Herrn Busch, denkt man dann an einen Busch? Ich schon.
Ich habe im elektronischen Telefonbuch solche Wörter eingegeben, und
die dazugehörigen Personen haben sich auf dem Bildschirm gezeigt. Ich wollte
eine Landschaft malen, also habe ich diese Personen eingeladen, auf der
Leinwand zu unterzeichnen. Ich habe also den Kontext verschoben und die Arbeitsweisen,
die diese Werkzeuge vorschlagen, für die Anfertigung verwendet.
Die Suchmaschine ist neutral, sie sucht eine geordnete Sequenz,
eine Buchstabenfolge, dabei ist sie nicht intelligent, sondern macht einfach
ihre Arbeit. Es ist also keine hochgezüchtete künstliche Intelligenz, die
mir sagt, « das ist zwar Busch, aber es ist kein Busch ».

BB Im Kern geht es dabei immer um Darstellungssysteme.

HG Ja, genau. Die Informatik, die Behandlung von Information
ist meines Erachtens ein grossartiger Spiegel, um sein Denken neu zu
organisieren, um die Dinge neu und ganz anders zu sehen und wahrzunehmen.
Doch immer, wenn es um Computer geht, scheint man von etwas Kühlem,
Technischen zu sprechen, das mehr mit Wissenschaft als Poesie zu tun hat.
Meine Generation ist weder mit dem Computer noch mit dem Mobiltelefon in
den Händen geboren, wir konnten dieser Revolution zuschauen, die vor gar
nicht allzu langer Zeit begonnen hat, noch längst nicht abgeschlossen ist
und die Welt schon komplett verändert hat. Als ich an der Kunstakademie
studierte, gab es diese Maschinen nicht einmal dort. Ich habe mir eine
gekauft und angefangen, damit zu arbeiten und darüber nachzudenken.

BB Für dich ist das also ein Werkzeug, dessen Bedingungen und
Auswirkungen auf unser Denken du untersuchst?

HG Mehr als nur ein Werkzeug, sondern ein seltsames Objekt, eine
Benutzeroberfl äche, mit der man inzwischen tagtäglich lebt. Viele Leute heute
schauen länger auf ihren Bildschirm als aus ihrem Fenster heraus. Das System
Microsoft nennt sich sehr treffend « Windows », also Fenster, wenn auch ganz
anderer Art. Durch dieses Fenster handeln wir nun von und mit der Welt.

BB Heute ist es einfach, von einer digitalen Revolution zu sprechen.
War das für dich ebenso offensichtlich, als du mit deiner Arbeit begonnen hast?

HG Man konnte sich schon damals die Frage stellen, was diese
Maschine im Grunde sei? Puristen meinten: « ..die Bilder, die da heraus
kommen, sind Mist. » Aber die Qualität bestand damals nicht im Ergebnis, sondern
in ihrer Art, in ihrem Potential, ihrer Essenz, ihrer materiellen
Beschaffenheit. Angesichts dieser tiefgreifenden Veränderung konnte man
fragen, « wie kann man heute ein Bild machen? » Vielleicht hat diese Frage
meine Arbeit ausgelöst: Wie auf diese Veränderung reagieren, was impliziert
sie? Umso mehr, als das, was man beobachten konnte, immer durch ein Bild
übersetzt wurde, ein elektronisches Bild auf einem Bildschirm.

BB Und einen Apparat, der viele Arten der Bildbearbeitung ermöglicht.

HG Ja, aber ich spreche noch nicht davon, die Bilder zu verändern,
sie zu retouchieren. Ich spreche davon, dass dieses Dispositiv, das mit einem
Bildschirm ausgestattet ist, ein System zur Darstellung enthält. Der
Bildschirm ist ein Bild, man manipuliert die Bildgegenstände wie Icons,
Knöpfe, man schreibt mit der Maschine auf das Bild einer Seite... Es ist
eine Oberfl äche, die man bearbeitet, ganz anders als beim Fernseher. Wenn es
darum geht, die Bilder zu bearbeiten, so geschieht dies über das Interface,
das auch ein Bild ist.

BB Könnte man sagen, dass du deine Arbeiten im Zwischenraum zwischen
der Mathematik des Codes und der Oberfl äche entfaltest? Du bringst uns dazu -
mit Hilfe des schlechten Funktionierens oder der Unvollkommenheit - über das
Funktionieren nachzudenken. Nehmen wir zum Beispiel deine Arbeit mit einem
eingescannten Gemälde von Seurat. Der Computer gibt ein Bild wieder, das dem
berühmten Gemälde von Seurat ähnelt, aber es ist nicht « auf seiner Höhe ».

HG Die Drucke « Sur Seurat » (1994) sind mit einem Tintenstrahldrucker
gemacht worden, der eine Tintenpatrone mit drei Farben - ohne Schwarz
- hatte. Um schwarz zu drucken musste man die Patrone wechseln... Wenn man
in kleiner Grösse und mit der bescheidensten Qualität druckte, konnte man
die Punkte gut erkennen. Das gedruckte Bild konnte deutlich wie ein Seurat
wahrgenommen werden, aber keiner der Punkte entsprach dem Original. So
etwas mag ich sehr...

BB Besteht das Ziel deiner Arbeit darin, unsere Abhängigkeit von
den Maschinen zu demonstrieren, oder geht es dir auch um den spielerischen
Aspekt, der mir ebenfalls wichtig erscheint in deinem Werk?

HG Für mich ist das wichtigste, in einem dialektischen Verhältnis
mit der Welt, in der wir leben, zu sein. Unsere westliche Welt entwickelt
sich mit diesen Instrumenten. Man hat das Gefühl, dass sie alles an sich
reissen wollen. Es ist ein Totalitarismus, der von einem bestimmten Gesichtspunkt
aus nicht ganz ohne Charme ist. Die Maschinen verändern unser
Handeln, also auch unser Denken, was neue Wege auftut. Früher hatte man
für jede Aufgabe einen bestimmten Gegenstand. Heute hat man Maschinen,
die alles erledigen. Das ist ziemlich amüsant, denn daraus resultiert so
etwas wie « informel ». Wenn man einen Laptop sieht, gibt es einen Eingang
für die Finger und einen für die Augen. Das ist eine Abstraktion, eine
erstaunliche Abkürzung.

BB Neben den Übersetzungs- und Übertragungsprozessen sind auch
die Störungen, die dabei vorkommen können, ein konstitutiver Teil deines
Werks. Ein weiteres Beispiel dafür ist ein Bild, das du 1994 nach einem
Print gemalt hast.

HG Es handelt sich um ein Gemälde von Raoul Pictor, das ich in
Acryl nachgemalt habe. Es ging so schnell, ein Bild, das aus dem Computer
stammte, in einem Katalog wieder zu fi nden, dass ich es interessant fand, es
nochmals abzumalen. Es ist ein reproduziertes Original, die Reproduktion
ist gemalt, langsam, von Hand und nachträglich.

BB In den « Rendu-peinture » genannten Arbeiten (1991) hast du
Tintenstrahldrucke mit dem Wasserpinsel nachbearbeitet, um sie wie
Handarbeit wirken zu lassen.

HG Damals warnte man uns davor, die Drucke mit Wasser in
Kontakt zu bringen, weil die Tinte noch löslich war. Natürlich habe
ich das ausprobiert, und sogleich hatte ich ein Bild, das sich zwischen
verschiedenen Techniken ansiedelte, zwischen einer Radierung, einem Druck,
einem Aquarell - und das weder das eine noch das andere war, aber von allem
etwas hatte, obwohl es aus einem elektronischen System hervorgegangen war.

BB Du hast ab 1988 auch Gegenstände, ja ganze Schränke auseinander
geschnitten und wieder zusammengesetzt. Ist das ebenfalls eine Rückübersetzung,
in diesem Fall des Copy-Paste-Verfahrens oder gar der
virtuellen Schnittverfahren, die Photoshop bietet?

HG Bei diesen Gegenständen handelte sich um Möbel oder Dinge,
die für etwas Wirkliches standen. Ich habe sie auf kleine nummerierte
Würfel reduziert. Der Haufen Würfel, der aus einem Schrank entstanden
ist, ähnelt den Würfelhaufen eines Regals. Der Code, der es erlaubte,
das ursprüngliche Objekt wieder herzustellen, war in der Reihenfolge der
Zahlen enthalten. Die Nummerierung war die Bezugsgrösse. Das Verfahren
habe ich auch auf Gemälde angewendet, auf Seestücke vom Flohmarkt, die so
viel besser aussehen, sozusagen upgegradet werden.

BB Du wolltest also den Prozess der Bildentstehung im Computer
nachvollziehbar machen, indem du ihn auf reale Gegenstände übertrugst.

HG Ja, es waren Gegenstände, die etwas anderes enthalten sollten,
einen Bezug auf unsere physische Welt. Die Manipulation durch das Virtuelle
erhöht das Gewicht des Realen. Das Dasein in der virtuellen Welt scheint
manchmal angenehmer.

BB In der Serie der « Vidéosculptures » (ab 2000) versuchst du
einmal mehr, die Arbeit des Codes sichtbar zu machen, die man normalerweise
versteckt. Es sind Bilder, die durch einen 3D-Effekt manipuliert sind und
dadurch etwas Alptraumhaftes bekommen.

HG An diesen Bildern gefällt mir besonders, dass sie etwas
Instabiles evozieren. Sie oszillieren zwischen real und irreal. Es gibt
eine 3D-Konstruktion, auf die das in der Realität gewonnene Foto montiert
wird, nicht sehr perfekt, dafür ziemlich expressiv und bildhaft. Genau
diese Mischung ruft den verstörenden Effekt hervor. Es gibt verwischte
Zonen, wo die Datenmengen zu gering sind. Diese Bilder sind eine Kombination
zwischen Fotografi e und synthetischer 3D-Konstruktion, farbige Gebilde, die
in Richtung Abstraktion gehen. Diese Kreuzung gefällt mir.

BB Lass uns von deinen überraschenden neueren Arbeiten sprechen,
den « Pattern » (Muster), die du seit einigen Jahren entwickelst. Kannst du
beschreiben, wie du dabei vorgehst?

HG Unser Alltag ist bestimmt von der Wiederholung und dem Duplikat.
Wir leben nicht mehr in der Welt des Handwerks, in der jedes Stück ein
Einzelstück ist, sondern in jener der Massenproduktion, des Made in China.
Die « Pattern » beruhen auf der Verwendung von industriell hergestellten
Objekten. Wenn man eine Packung mit 50 Plastiktrinkbechern kauft, unterscheidet
sich keiner vom anderen, sie sind alle gleich. Ganz anders als
eine Grafi kedition, bei der die ersten Abzüge besser sind als die letzten.
Ich konzipiere also mit einer bestimmten Anzahl von Objekten
Konstruktionen, in denen die verschiedenen Objekt-Elemente miteinander
verkoppelt und nach verschiedenen Kriterien wie Gleichgewicht, Farbe, Form
arrangiert ist. Dieses Konstrukt, dieses Modul wird so oft wiederholt,
bis eine Art « Teppich » daraus entsteht. Die Gegenstände, meist billig,
sind sehr schön. Auf einer CD entstehen herrliche Regenbogenrefl exe, ein
durchsichtiger Becher mit Rautenmuster wartet mit Transparenz und schönen
Details auf. Diese Qualität der Objekte verwende ich - ihre Farbe, ihre
Form und nicht ihre Funktion.

BB Ein wenig erinnert das an die Assemblagen der Surrealisten.

HG Schon. Aber mit der Wiederholung stellt sich eben auch die
Frage nach dem Original und der Kopie, dem Klon. Ich habe diese Arbeit als
Installation, Skulptur und Fotografi e entwickelt.

BB Du erzielst diesen Effekt der Wiederholung also nicht durch
Multiplikation eines einzelnen Fotos, wie man irrtümlich glauben könnte.

HG Tatsächlich könnte man auf den ersten Blick meinen, es handele
sich um eine mit dem Copy|Paste-Effekt duplizierte Fotografie. Doch die
Fotografi en spielen vielmehr mit der Ambiguität der elektronischen Bilder.
Wenn man nämlich genauer hinschaut, verändert sich das Verhältnis der
Gegenstände innerhalb des Rapports. Das liegt an der Perspektive, die
unsere Wahrnehmung im Blick auf die Stellung der Gegenstände zueinander
fortwährend zu verändern scheint. Diese Bilder sind auch randabfallend, was
den Eindruck einer unendlichen Fortsetzung erweckt und damit wiederum die
elektronische Entstehung suggeriert. Aber selbst wenn man diese Strukturen
so regelmässig wie nur möglich baut, entziehen sie sich der Erfassbarkeit
durch das Spiel der Perspektive. Die Gegenstände verdecken sich, schieben
sich vor- und hintereinander, spielen miteinander eine Art Verstecken.
Wenn Du um die Installation herumläufst, ergibt sich ein kaleidoskopischer
Effekt. Verglichen mit anderen meiner Arbeiten ist diese Serie sicher
weniger konzeptuell, eher körperlich-visuell. Es gibt nichts zu erklären,
sondern nur zu schauen.

BB Damit kommen wir auf den Aspekt der Assoziationen, die diese
Gegenstände hervorrufen. Wir sehen kleine Totenschädel, Spritzen, die an
Krankheit und Tod denken lassen, die etwas Unheimliches haben. Manchmal
wiederum sieht man sich vor Kleinkram, der an einen Kindergeburtstag erinnert.
Doch immer gibt es eine untergründig bedrohliche Note. Interessieren dich
wirklich nur die Farben und Formen?

HG Die Serie mit den Schädeln habe ich für ein Kunstprojekt in
einem Spital realisiert. Auch wenn ich Themen an sich nicht mag, liegen
sie bei dieser Arbeit nahe, und ein bisschen macht das auch Spass, sie
thematisch anzugehen. Die Gegenstände können aus den verschiedensten
Gründen verwendet werden: Zwischen ihnen entstehen sozusagen Geschichten,
manche sind abstrakter als andere, weniger offensichtlich und bedienen
also andere Register. Das Bild, von dem du sprichst, ist eine Art Vanitas-
Stillleben, es kommen dort noch eine Rose, ein Ei, ein Nagel vor...

BB Ich würde sogar soweit gehen, eine sadistische Seite zu sehen:
Du verwendest eine Bürste, einen Wegwerfrasierer, Klammern. Lauter Objekte,
die am Körper zum Einsatz kommen, die dazu dienen, eine Oberfl äche zu
bearbeiten.

HG Man lernt immer neue Dinge über sich... Wenn du den Lockenwickler
anschaust, ist er doch wunderschön mit den schwarzen Borsten, die durch
eine Art Netz hindurchgehen. Ich sehe das Ensemble musikalisch, als elektronisches
Stillleben. Was ist eine Bürste? Das sind Linien aus synthetischen
Borsten, die man als Strahlen wahrnehmen kann, es ist eine Art dynamische
visuelle Frequenz im Bild. Neben dem, was das Objekt darstellt, geht es
darum, wie es gemacht ist.

BB Die Wiederholung verändert also die Wahrnehmung der Gegenstände.
Sie lässt uns sogar die absurde Seite alltäglicher Dinge entdecken.

HG Klar, fünfzig Kämme haben etwas Absurdes... Das genau spielt sich
auch vor der Kassiererin ab, wenn ich meine fünfzig Kämme bezahlen will.
Sie fi ndet das seltsam oder fragt sich, was ich mit ihnen wohl anstelle.

BB Gibt es für dich hier Bezüge zur Pop-Art, die Alltagsobjekte
als kunsttauglich erklärte, oder sogar zu den Dadaisten und Surrealisten?

HG Schwer zu sagen, in welchem Masse, aber sicher gibt es sie.
Diese Kunstbewegungen haben Wege eröffnet, die heute unumgänglich sind.
Die Kunst kommt an ihrer Geschichte nicht vorbei.

BB Und was sagt dir das Credo der Surrealisten, wonach die
Begegnung unvereinbarer Gegenstände, das berühmte Bügeleisen auf einem
Operationstisch, schön sei?

HG Eine Begegnung spielt sich oft zwischen zwei Dingen ab,
bei meinen Arbeiten sind aber viel mehr Objekte zueinander in Relation
gebracht, und damit wird der starke Collage-Effekt, der den Surrealismus
auszeichnet, aufgehoben. Meine Konstruktionen gehören eher der Kategorie
Russischer Salat, Sushi oder geordnetes Birchermüesli an, und ausserdem
verändert die Wiederholung dieser komplexen Ensembles und auch ihre viel
grössere Zahl das Register.

BB Sind diese Installationen für dich Skulpturen? Oder ist die
Fotografi e, die du davon machst, das Werk?

HG Manche Ensembles habe ich nur geschaffen, damit sie fotografi ert
werden können. In diesen Fällen kann ich brennende Kerzen oder Lebensmittel
verwenden. Die Verfl achung zur Zweidimensionalität ist eine Veränderung,
die eine Seherfahrung erlaubt, welche sich von den Skulptur-Installationen
ziemlich unterscheidet. Sie beginnt einer Art Schrift zu gleichen, man kann
sie sich als Tapete an der Wand vorstellen. Die Fotografi e zersetzt das Motiv,
man meint eher die Verschiebung der Objekte zueinander wahrzunehmen, wegen
der Perspektive, und es erscheint eine Bewegung wie in den Einzelbildern
eines Films. Die Installation ist vielleicht mechanischer, insofern sich
alles bewegt, solange man um sie herumläuft. Ich sehe sie gerne als Maschinen.
Das Ensemble ist mobil, kinetisch, und reagiert synchron. Ein vierzigfach
multipliziertes Modul ist wie ein einziges Modul, das aus vierzig
verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird, es gibt also eine Erfahrung,
dass man gleichzeitig an verschiedenen Orten ist. Deswegen kann das Objekt
eine Art Schwindel hervorrufen.

BB Du machst ein wenig dasselbe wie manche Maler heute, die das,
was es in der virtuellen Welt an Formen gibt, in die handwerkliche Realität
der Malerei übersetzen?

HG Die Maler malen, sie übersetzen in ein Medium zurück. Meine
Installationen aber sind real, sie stehen vor deinen Augen, eins zu eins.

BB Damit berührst du einmal mehr das Thema der Wirklichkeit, die
andere Qualitäten bietet als die Virtualität.

HG Solche Fragen stellt man sich heute, weil das Virtuelle Teil
unserer täglichen Umgebung ist. Mir gefällt das Zerbrechliche mancher
dieser Konstruktionen, das Gleichgewicht, das sich gerade noch hält. Aber
man weiss nicht, für wie lange...

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Hervé Graumann