‹Die gequälte Figur›

Germaine Richier · La Fourmi, 1953, Bronze, 99x88x66 cm, Musée de Grenoble ©ProLitteris. Foto: Musée de Grenoble

Germaine Richier · La Fourmi, 1953, Bronze, 99x88x66 cm, Musée de Grenoble ©ProLitteris. Foto: Musée de Grenoble

Marino Marini · Il Grido, 1962, Bronze, 76,8x125x66,5 cm, Fondazione Marino Marini, Pistoia ©ProLitteris. Foto: Mauro Magliani

Marino Marini · Il Grido, 1962, Bronze, 76,8x125x66,5 cm, Fondazione Marino Marini, Pistoia ©ProLitteris. Foto: Mauro Magliani

Hinweis

‹Die gequälte Figur›

Neben die gedrängte und weit ausgreifende Retrospektive von Germaine ­Richier (1902-1959) im Kunstmuseum Bern (KB 3/2014, S. 68) ist derweil auch noch eine luftige Tripelschau im Musée cantonal des Beaux-Arts getreten, die das Schaffen der Plastikerin indes nicht weniger nachdrücklich ins Bewusstsein zurückruft. Vom neuen Konservator für alte und moderne Kunst des MCBA, Camille Lévêque-Claudet, bei seiner Ankunft im März 2012 aufgegleist, bekräftigt sie nicht nur, wie ungerecht das posthume Ausrangieren Richiers gewesen ist angesichts der mühelosen Behauptung ihrer Skulpturen zwischen einigen der bekanntesten Werke von Marino Marini (1901-1980) und Alberto Giacometti (1901-1966), also von zwei unter die Meister des 20. Jahrhundert eingereihten Männern. Vor allem aber zeichnet die Ausstellung grossartig nach, wie beharrlich gerade diese drei Kunstschaffenden daran arbeiteten, ihrem zentralen Gegenstand, der menschlichen Figur, eine zeitgenössische Dimension zu verleihen.
Noch akademisch geschult, fanden sich die Südfranzösin, der Bündner und der Toskaner im Paris der Zwanziger-, Dreissigerjahre als Nachgeborene der Kubisten, Futuristen und Surrealisten wieder, die scheinbar schon alles Erdenkliche mit Köpfen und Körpern durchgespielt hatten. Sowohl das Epigonentum als auch ein retour à l'ordre oder eine Flucht nach vorn in die reine Konstruktion lehnten die drei im Gegensatz zum Gros ihrer Generation jedoch rasch als zu banal ab. Stattdessen fanden sie im betont taktilen und intuitiven Eingreifen in eine relativ anthropometrische Materie einen Neuansatz.
Selbst nach den unvorstellbaren Verbrechen im Rahmen des Zweiten Welt-, des Indochina- und des Algerienkriegs erlaubt ihnen ihr flexibles, nicht zuletzt im Schweizer Exil erstmals auch in direktem Austausch weiterentwickeltes Vokabular, dass sie der Menschheit Spiegelbilder dieser neuen Lebensrealitäten vor Augen führen können: Verstümmelte, isolierte, ausgeweidete, fragmentierte, aus dem Gleichgewicht geratene und reduzierte Wesen. Marini thematisiert dabei mit seinen zusammenstürzenden Reitern und Pferden erstmals auch die neue Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Natur während Richier mit ihren zu Tieren mutierenden und mit Prothesen versetzten Gestalten auf gespenstische Weise unsere posthumane Zeit ankündet. Angesichts unseres zwischen Körperkult und Körperverlust aufgeriebenen Selbst ist indes das genuin plastische Ringen aller drei Kunstschaffenden auf alle Fälle wieder von brennender Aktualität.

Until 
26.04.2014

mit Katalog

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