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3e Biennale heart@geneva – «In situ» vom Feinsten

Genf – Seit dem 30. Oktober ist die ‹3ème Biennale heART@geneva› vollständig zu sehen, die Stellen von Bedeutung in der Innenstadt von Genf in Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden neu in Szene setzt. Heute abend – wir schreiben den 30. November - wird sie nochmals mit einer Finissage gefeiert. Dazu hat man allen Grund: Die Pandemie und ihre Nachwehen, nämlich geringere Mittel für die Kultur, machten dieses Mal alles bis schier zuletzt zu einer Zitterpartie für die ehemalige Werbefachfrau Mariette Bieri, die Gründungspräsidentin des Vereins heART@genava, die auch als Kuratorin des Parcours fungiert. Die diesjährige Biennale war von Anbeginn um mehr als die Hälfte reduziert gegenüber 2017 und 2019, als sie über 40 Installationen umfasste. Sie musste um ein Jahr verschoben werden und konnte auch so nur sukzessive, teils erst während der Laufzeit zwischen Juni und Oktober, realisiert oder installiert werden, die deshalb um einen Monat verlängert wurde. Und die Ausleihe und der Aufbau des Werks  ‹Tête crinière›, 2015, von Prune Nourry (*1985, Paris; Paris und New York), das für den Innenraum der Kirche Saint-Gervais auf dem Vorplatz des Bahnhofs als Nr. 1 der beiden Auftaktwerke auf der rechten Rhoneseite vorgesehen war, musste schliesslich fallen gelassen werden. Wegen des Sparzwangs konnte jedoch bei jeder Installation auch eine Konzentration auf das Wesentliche erreicht werden. Nicht zu Unrecht behauptet Marietta Bieri selbst, dass die ‹3ème Biennale heART@geneva› die feinste geworden sei.

 

Ein Werk des Urhebers des Begriffs «In situ»!

Eröffnet wird der Parcours nun mit der zuletzt als Nr. 2 dazu gestossenen Bespielung der Fassade der ehemaligen Ecole des arts industriels de Genève aus den Jahren 1876–1877 von Daniel Buren (*1938, Boulogne-Billancourt; Paris) in der Verlängerung des Bahnhofs unter dem Titel ‹2 complémentaires›. Obschon minimalistisch, kommt dem Werk eine Signalwirkung zu – zweifellos auch auf die vielen Passanten und Passantinnen zu Fuss, im Tram oder im Auto an dieser Stelle. So betont es reizvoll sowohl die Länge und die Symmetrie und darüber hinaus die Zweifarbigkeit des historischen Gebäudes aus Ziegelstein und grüngrauem Sandstein. Dieses stellt heute eine Filiale der Haute école d’art et du design de Genève dar, da die Ecole des arts industriels de Genève und die Ecole des Beaux-Arts de Genève 2006 unter diesem meist abgekürzt auf englisch ausgesprochenen Namen «HEAD» fusioniert haben. Im Gegensatz zu letzterer wurde der ehemalige Standort der ersteren, die hinter dem Musée d’art et d’histoire de Genève einquartiert war, nach dem Umzug 2016 in zwei riesige unter Denkmal stehenden Fabriken an der Avenue de Châtelaine nicht aufgegeben. Wie immer erscheint ein horizontales Band, das der Künstler seit 1965 als unpersönliches, aber in der Verknüpfung mit seiner Persönlichkeit sogar geschütztes Markenzeichnen verwendet. Es ist zusammengesetzt aus Vertikalstreifen von 8,7 cm in Weiss und Farbe oder Schwarz und läuft durch die Mitte der grossen Fenster des Erdgeschosses, die mit transluziden Monochromen in Magenta und Petrol, das man aus Cyan und Gold erhält, nach dem Schlüssel  M – P – M  – P ||  P– M – P – M verkleidet sind. Dieses Muster verdichtet und verfeinert sich weiter bei den Fenstern im Obergeschoss und im Dach des Eingangsturms, da hier die Flächen zwischen den Fenstersprossen das Mass vorgeben.

In Genf lassen die Streifen von Daniel Buren, auf den der Begriff «in situ» für solche Installationen  zurückgeht, auch Erinnerungen an legendäre Momente der jüngeren Genfer Kunstgeschichte aufleben. Die Regatta auf dem Genfersee ‹Voile/Tolie› 1979 und die Installation ‹Un eneloppe peut cacher une autre› 1989, die das Musée Rath «indoors» und «outdoors» bespielt, wurden unter der Ägide des Musée d’art et d’histoire de Genève respektive des Centre d’art de Genève organisiert. Sie markieren die Ankunft der Gegenwartskunst in Genf, (die sich nicht mehr medial kategorisieren lässt und vor allem deren Grenzen gegenüber dem architektonischen oder natürlichen Raum durchbricht.

 

Eine inzwischen omnipräsente Praxis

Unübersichtlich ist in den letzten Jahrzehnten jedoch geworden, wer alles wo und warum mit «in situ»-Arbeiten in und um Genf interveniert. So gibt es längst an Prinzipien der Gegenwartskunst orientierte Kunst am Bau-Programme bei öffentlichen Projekten unter der Ägide des Fond municipal d’art contemporain de Genève und ähnlicher Organe weiterer Gemeinden sowie des Fond cantonal d’art contemporain de Genève. Darüber hinaus intervenieren auch bedeutende Kuratierende wie die Gründungsdirektorin des Centre d’art contemporain de Genève, Adelina von Fürstenberg, und ihr ehemaliger Mitarbeiter, Simon Lamunière, später u. a. Direktor der Art Unlimited, mit originellen, teils permanenten, teils ephemeren Projekten im öffentlichen Raum, sie im Rahmen ihrer NGO Art fort the World, er in jeweils ad hoc geschaffenen Konstellationen. Und während die Kunstmesse artgenève während ihrer Ausrichtung im Winter auf den Quais in einer Skulpturenverkaufsschau eine Erweiterung finden, spannt sie im Sommer mit jeweils einer erfahrenen Persönlichkeit im Kuratieren im Parc des Eaux-Vives für «In situ»-Projekte zusammen. Wie weit allerdings Graffitiaktionen, Mappings von Fotos und Videos sowie zwischen Kunst und Schwank oszillierende Strassentheater wie etwa der Auftritt der Truppe Royal de Luxe (gegr. 1979 in Aix) mit Riesenmarionetten auch noch in diese Kategorie gehören, ist nicht klar. Dazu kommen noch die mehr oder weniger wilden Manifestationen eher politischer Natur, die Spritzer, die eines Morgens auf den nicht sehr reformatorischen Statuen der Reformatoren zu entdecken waren und, regenbogenfarbig, offenbar einem Protest gegen die lange auch religiös unterfütterte Homophobie gleichkamen, auch die Tags, die der Bürgermeister Sami Kanaan, auf das Bâtiment de l’art contemporain (Mamco Genève, Centre d’art contemporain Genève, Centre de la photographie Genève) spritzen liess, nicht ohne Diskussion in einer Nacht- und Nebelaktion, wie wegen des glücklicherweise glimpflich ausgegangen Unfalls dabei ein Gerücht besagte, aber gegen die ausdrückliche Empfehlung der Fachleute von M. CHAT alias Thomas Vuille (*1977, Neuenburg; Paris). Sie zeigten den Jet d’eau von Genf zwischen den Wahrzeichen von Städten wie San Francisco und Hongkong und weiteren ähnlicher Grössenordnung.

 

Der Jet d’eau als «ready made»

Auf den Jet d’eau nimmt auch das zum Parcours auf dem linken Rhoneufer führende Werk des vor einem Jahr überraschend verstorbenen Stefan Banz (1961, Willisau–2021, Cully) Bezug, indem es das Wahrzeichen von Genf mit dem ersten «ready made» von Marcel Duchamp verbindet: ‹Fountain›, 2021. Der Jet d’eau wird so selbst zu einem «ready made» und drückt die Missbilligung des Künstlers für die sogenannte Institutionstheorie aus, gleichsam ein Vermächtnis. Die «ready mades» werden ja von Kunstgeschichts- und Museumsfachleuten noch immer abgewertet: Sie seien willkürlich zu Kunst erklärte Banalitäten, die man in einer Ausstellung auf einem Sockel oder in einem Rahmen zeige. Dies greift natürlich zu kurz. Und Stefan Banz als Autor und Editor wie auch als Gründer und Kurator der Zwergkunsthalle in Cully, die dem alle «ready mades» en miniature umfassenden Werk ‹La boite en valise›, 1936, von Marcel Duchamp nachempfundenen ist,  hat bewirkt, dass man «ready mades» jetzt allgemein als Sinnfiguren begreift. Sie können mitunter durch einfache Geste wie Umbenennungen, Umkehrungen, Aufhängungen und Zusammenfügungen von mit Bedacht ausgesuchtem Banalem entstehen. Der Jet d'eau greift verschmitzt die Eingebung von Stefan Banz auf, dass das umgekehrte Pissoir als Frauenleib gelesen werden kann, in den der Mann die andere Ausscheidung seines Geschlechts eher nach oben als nach unten spritzt. Und man ahnt vor der Riesenejakulation in Genf nun, dass manche Spezialisten und Spezialistinnen lieber auf die Institutionstheorie gesetzt haben.

 

Auseinandersetzungen mit der Geschichte

Das Konzept der Biennale ist grundsätzlich, als «un tramplin pour les jeunes artistes» zu fungieren, wie es im Untertitel heisst. Entsprechend findet man in und um die Altstadt auf dem Hügel mit Hôtel de Ville, Cathédrale Saint-Pierre und der Palais de Justice vor allem junge und ganz junge Positionen.

Das aus der Renaissance stammende Gemeindehaus bespielt Vicente Lesser Gutièrrez (1992, Chile; Genf) mit einer Schlangenlinie von aus der Banlieue ins Herz Genfs versetzten Betonelementen unter dem Titel ‹Déambulations (Meyrin)›, 2021. Er erinnert damit an das auch ästethische Auseinanderdriften von ‹La ville des riches et la ville des pauvres», um eines der zentralen Bücher zu den Problemen des Urbanismus im Zeitaler des postfordschen, finanzgetriebenen Kapitalismus von Bernardo Secchi zu nennen. In der mittelalterlichen, jedoch während der Reformation ausgeräumten Kathedrale ist im Chorbereich das dank viel Recherche zu dieser Epoche wie auch dank aktueller Technik enstandene Werk von Jonathan Delachaux (1976, Môtier; Genf) zu entdecken – und zwar nur zu zweit mit der Taschenlampe. So muss eine Person den Bildschirm vom Chor aus beleuchten, damit die andere auf der schwarzen Fläche ein Gesicht aufscheinen sehen kann. Unter dem Titel ‹La pêche miraculeuse›, 2022, zeigen sich allmählich die insgesamt 153 Gesichter, die nicht wie die meisten auf dem gleichnamigen Altar von Konrad Witz mutwillig und für immer zerstört worden sind. Dieser stand ursprünglich an dieser Stelle und ist wegen der ersten realistischen Landschaft der westlichen Kunstgeschichte im Hintergrund seines ‹Wunderbaren Fischzugs› weltberühmt. Die Portraits aber befinden sich nach wie vor im ehemaligen Kunstschatz der Kathedrale in situ oder in Museen, Archiven oder Bibliotheken. Der sich selbst als Agnostiker bezeichnende Künstler respektiert den Gang der Geschichte durch die Wahl neutraler Farben, die von der Reformation in den Kirchen eingeführt worden sind und ihre Bedeutung und ihren Sinn haben. Wie das Werk von Jonathan Delachaux zeigt, stimuliert dies auch die eigene Imagination in einer gewissen Freiheit.

Ähnlich intelligent setzt sich auch Anaïs Wenger (1992, Genf) mit der Geschichte auseinander, diesmal der gesamtschweizerischen. Sie tut das  mit zwei riesigen Fahnen unter dem Titel ‹Parade›, 2022, zu Seiten der Reiterstatue von Genéral Dufour, auf denen je ein von der Ecurie des Allues kunstvoll coiffierter Pferdeschwanz zu sehen ist. Damit erinnert sie daran, dass der wirklich grossartige Mann, der unserem Land einen Bürgerkrieg erspart hat, kein so eitles Denkmal für sich wollte, mit dem Argument, dass er in seinem Leben nur wenig zu Pferde gesessen sei. Er hat es nicht verdient, bildlich unter die sich rücksichtslos der Armee bedienenden Diktatoren und absolutistischen Herrscher eingereiht zu werden, die sich gerne schon zu Lebzeiten hoch zu Ross darstellen liessen. Ihm müsste ein Denkmal errichtet werden, das ihn als General mit Bodenhaftung, als Menschenfreund zeigt.

 

Innen und Aussen

Leichter zugänglich sind Werke unter freiem Himmel, die Passanten und Passantinnen auf das Innenleben von Gebäuden verweisen, die nicht von jedermann gekannt und besucht werden. Marine Gilles und Alex Howling (*1994, Lausanne; Genf) leisten das im Rahmen von Partnerschaften mit der HEAD und der Fondation de l’Abri. So hat erstere  auf die Platten vor dem Grand Théatre ein Mosaik in phantomatischem Kobaltblau mit Ausschnitten von Fotografien aus dem Archiv dieser Institution geklebt, während Howling auf das verborgene Leben in den Ateliers der Fondation de l’Abri in den Mauern der Place Sainte Madeleine mit abstrakten Motiven hinweist. Sie erinnern in ihrer grafischen Stilisierung und psychodelischen Farbigkeit an Comics, Manga und Plattencover der 1960er, 1970er Jahre und damit an Jugend- und Alternativkultur. Eher Leben von aussen ins Gebäude hinein holen die Fotografien von Geishas von Anoush Abrar (*1976, Teheran; Lausanne) aus den Jahren 2016–2018 in der Fondation Baur (und andererseits weiterer Bauten von        ?   Saugey im von Emilie Ding (*1981, Fribourg; Berlin).) Mysteriöse Erfahrungen im Kino wie auch in Privathäusern oder ehemaligen solchen vermitteln Hugo Langlade (*1998, Paris; Genf) im Kurzfilm ‹Below›, 2022, und Denis Savary (*Granges-Près-Marmand; Genf und London) mit dem Miniaturhaus ‹Villa II›, 2021. Der Kurzfilm von Hugo Langlade wird im Ciné 17 vor jeder Vorstellung abgespielt, während die Bricolage von Denis Savary im ältesten Wohnhaus von Genf, (etc.)

 

Spiel und Spass

Spielerisch erfahren lässt sich die Arbeit von Samuel Pajand (*1977, Paris; Genf) im Pausenhof des seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Collège Calvin. Sie besteht aus einer geometrischen Anordnung von Platten in Acryl auf Holz mit 49 Kreisen und 8 Motiven in verschiedenen Farben, von denen jedes Paar ein Motiv in der gleichen Farbe zeigt, die auch auf einer diese verbindenden Schnur auftaucht. Vom Parcours 2019 sind an diesem Ort auch nach wie vor die Keramikplatten mit darin eingeritzten Anleitungen zu einfachen Spielen von Anaïs Balmon (*1992, Genf; Genf) aus der ‹ 2ème Biennale heART@geneva› zu sehen, die auch in diese Ausgabe integriert wurden. 

Neu zu erkunden ist für Jugendliche wie für Erwachsene die farblich differenzierte Stahlröhrenskulptur unter dem Titel ‹Anima›, 2022, von Abigail Janic (*1989, Stockholm; Genf). Sie lädt vor dem Pavillon de la Danse dazu ein, sich mit Phantasie und körperlicher Beweglichkeit durch sie hindurch und überhaupt im Raum zu bewegen. Und das, die Wirkung auf Leib und Seele, ist doch die Essenz dieses und ähnlicher Parcours. Der nächste ist schon angesagt. Am 7. Dezember wird die Stadt eine Bespielung von zwanzig leeren Vitrinen und Ladenräumen zur besseren Sichtbarkeit und zur Unterstützung der lokalen Szene einweihen. Man kann sie auch als Wiederbelebung der früher im Musée Rath gezeigten Weihnachtsausstellung unter dem Vorzeichen «in situ» interpretieren. ‹Art au Centre› ist der Name dieses Parcours, er beginnt am 7. Dezember und wird bis am 5. März 2023 laufen. More soon...

 

 

 

 

Artist(s)

Details Name Portrait
Daniel Buren