Zeitbilder — ‹BLAU, 21.1.2017› von Miriam Cahn

Unter dem Titel ‹Zeitbilder› präsentieren wir Werkbetrachtungen von Kuratorinnen und Kuratoren, die ein Kunstwerk ihrer Wahl vor dem Hintergrund der Corona-Krise neu lesen.

Curator’s Choice — Das eindrückliche Gemälde ‹BLAU, 21.1.2017›, 2017, von Miriam Cahn geht mir in diesen Tagen nicht aus dem Sinn. In fein aufeinander abgestimmten Blautönen zeigt es uns das Drama, das sich täglich im Mittelmeer abspielt, wenn verzweifelte Menschen auf brüchige Kähne drängen, um der Misere ihres Schicksal zu entfliehen. Allzu oft endet diese Reise auf dem Meeresgrund. Aus diesem Bereich gibt es keine Bilder, welche es auf die Titelseite von Zeitungen schaffen. Miriam Cahn hat sie in sich selbst gefunden und konfrontiert uns mit der traurigen Wahrheit von ertrinkenden Männern, Frauen und Kindern. Diesen Menschen sollte unsere besondere Aufmerksamkeit gelten, leben sie doch in den prekärsten Zuständen, die wir uns kaum vorstellen können. Zugleich spricht das Bild zu mir, weil sich viele hier ebenfalls in einem schwebenden Zustand befinden – sei es wegen existentieller Sorgen, physischer oder psychischer Verletzlichkeit. Vormals gesicherte Bedingungen haben sich verflüssigt und bieten keinen Halt mehr. Wir wissen nicht, ob wir in den kommenden Monaten eher sinken und untergehen oder an die Oberfläche zurück steigen. ‹BLAU› ist für mich das Sinnbild einer universell bedrohlichen Situation: Mensch und bezwingende Naturmacht. Doch haben – sei es im Mittelmeer oder in der Pandemie – immer menschgemachte Zustände zur Konfrontation mit der Naturgewalt geführt.