Nives Widauer — Wirklichkeit weckt Möglichkeiten

Gone, 2011, Video auf Gobelin (1780); Psyche, 2012, Möbel mit menschlichem Haar, Motor

Gone, 2011, Video auf Gobelin (1780); Psyche, 2012, Möbel mit menschlichem Haar, Motor

Past patterns II, 2016, Koffer, Vase, Papier, Stativ, Beamer, Video, 7’15’’, oben und unten: Ausstellungsansichten Kunstmuseum Olten © ProLitteris. Foto: Jolanda Ludwig

Past patterns II, 2016, Koffer, Vase, Papier, Stativ, Beamer, Video, 7’15’’, oben und unten: Ausstellungsansichten Kunstmuseum Olten © ProLitteris. Foto: Jolanda Ludwig

Possibilities, 2017, Puppenkleider und Aquarell auf Papier, 32-teilige Serie © ProLitteris. Foto: Rudi Rapf

Possibilities, 2017, Puppenkleider und Aquarell auf Papier, 32-teilige Serie © ProLitteris. Foto: Rudi Rapf

Stereo, 2014, Stereokamera, Holzfiguren, Ebenholz © ProLitteris. Foto: Rudi Rapf

Stereo, 2014, Stereokamera, Holzfiguren, Ebenholz © ProLitteris. Foto: Rudi Rapf

Monitor Love, 1989/2007, Symbioscreen, Videoprojektion, 4:3, auf gedrucktem Videostill, Video, Farbe, ohne Ton, 4’50’’ © ProLitteris

Monitor Love, 1989/2007, Symbioscreen, Videoprojektion, 4:3, auf gedrucktem Videostill, Video, Farbe, ohne Ton, 4’50’’ © ProLitteris

Fokus

Untersuchung als künstlerische Methode basiert auf Erfahrung und der Bereitschaft, der Intuition Raum zu geben. Was zunächst etwas inkonsistent klingen mag, macht im Zusammenhang der Arbeiten der in Wien lebenden Schweizer Künstlerin Nives ­Widauer sehr viel Sinn. Denn ihr Œuvre schöpft aus der ­Fähigkeit, für innere Bilder und gesellschaftliche Rituale, für subjektive Vorstellungen und kulturhistorische Topoi die entsprechenden Ausdrucksformen zu finden. Wechselseitige mediale Durchdringungen und unerschrockene Materialkombinationen sind hierbei ebenso kennzeichnend wie das Interesse für Sprache und Erinnerung, Ordnungssysteme und Geschichte(n). 

Nives Widauer — Wirklichkeit weckt Möglichkeiten

Nährboden von Nives Widauers Arbeitspraxis ist eine grundlegende Offenheit, ein «Osmotisch-Bleiben» (Widauer) gegenüber den Einflüssen von aussen sowie dem eigenen «Innenleben», aber auch der eigenen Arbeit gegenüber. In einem kürzlich erschienenen Artikel in der NZZ beschreibt sich die Künstlerin als «umgekehrte ­Camera obscura», die mentale Vorgänge, unbewusste geistige Prozesse und emotionale Signale nach aussen, in ihr Werk, projiziert. Diese ungreifbaren Abläufe überführt sie in prononciert taktil erscheinende Arbeiten, die mit ihren zahlreichen kulturhistorischen Referenzen und materialsemantischen Reizen ein vielfältiges Spektrum an Assoziationen und Annäherungsmöglichkeiten eröffnen. Oder wie es Robert Musil in seinem ‹Mann ohne Eigenschaften› formuliert: «Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt.» Die Ausstellung ‹Villa Nix› im Kunstmuseum Olten, die an die Schau ‹Antichambre› im Centre culturel suisse in Paris anschliesst, bietet einen breit angelegten Parcours durch Widauers Bild- und Gedankenkosmos. Die Villa agiert dabei als Metapher, die in «Zimmer» unterteilte Werkgruppen miteinander verschränkt. Zudem eröffnet dieser Titel Vorstellungen einer Räumlichkeit, die sich zwischen Gegliedertem und Verstecktem, abgelagerter emotionaler Vergangenheit und transitorischer Präsenz erstreckt. Es liegt also auf der Hand, dass zahlreiche Arbeiten mit dem Atmosphärischen als ästhetischer und inhaltlicher Komponente agieren: Halb versteckt, unter der Treppe in einem alten Koffer platziert, signalisiert die Videoinstallation ‹Past patterns II›, 2016, etwas Geheimnisvolles. Die zärtliche Geste der Hand, die über eine antikisierende Vase hinweg auf aufgespanntes Papier projiziert ist, koppelt den medialen Sprung zwischen Haptischem und «Lichtbild» mit dem Be-greifen einer Preziose; das lederne Gepäckstück wiederum stimuliert den Geruchssinn, ruft Erinnerungen an staubige Abstellkammern oder eingemottete Kleider auf dem Dachboden wach. Bei ‹Psyche›, 2012, einem sich um seine eigene Achse drehenden, geöffneten Spiegelschrank, evozieren das Quietschen des Motors und das permanente Entgleiten des gespiegelten Bildes eine leibliche Sinneserfahrung. Über den Titel und den Umstand, dass in Österreich bis in die Sechzigerjahre eine Frisierkommode als «Psyche» bezeichnet wurde, liefert Widauer einen der von ihr immer wieder so gekonnt und lustvoll gesetzten Verweise, deren Verständnis nie ein Muss ist, sondern weitere mögliche Lesarten eröffnet.

Arte Combinatoria auf der Höhe der Zeit
Eine Konstante in Nives Widauers Arbeitsprozess ist das Stöbern auf Flohmärkten, das zunächst «wertfreie» Sammeln von alten Drucken und Fotos, Möbeln und aussereuropäischen Kleinstskulpturen sowie Kuriosa wie Geweihen oder veralteten technischen Apparaten. Mit diesem Fundus lebt die Künstlerin oft jahrzehntelang, bevor einzelne Objekte oder Konvolute dann künstlerische Arbeiten anstossen. So besteht ‹Stereo›, 2014, aus der Kombination einer Stereokleinbildkamera mit einer Doppelfigur aus Ebenholz. Ironischer Kommentar zur TV-Kultur oder bildtheoretisches Augenzwinkern im Sinne von George Didi-Hubermans Dictum «Was wir sehen, blickt uns an»? Fotohistorisches Reenactment oder postkoloniale Bildkritik? Das vielfältige Assoziationsspektrum resultiert einerseits aus den kontrastierenden semantischen Qualitäten der Objekte selbst, andererseits aus der scheinbar lapidaren Geste der Gegenüberstellung. Dass damit aber das gewünschte Ergebnis erzielt wird, den kombinierten Artefakten also ihre prägnanteste Erscheinungsform zuteil wird, gründet in Erfahrung und konsequent trainierter Intuition. Denn Widauer kultiviert die über Jahre gewachsenen Objektbeziehungen und ausführlichen Recherchen nicht nur als Methoden der künstlerischen Aneignung, sondern setzt sich auf diese Weise immer wieder neuen Kontexten aus. Mit der Serie ‹Possibilities›, 2017, hat die Künstlerin einen neuen Weg beschritten. Bis anhin dienten bereits vorformulierte visuelle Narrative als Träger und inhaltlicher Ausgangspunkt ihrer Collagen, wie beispielsweise in ‹Subculture›, 2016–18. Nun ist es das leere weisse Blatt, auf das Nives Widauer einzelne alte Puppenkleider aufklebt; daraus wachsen klare Formen und Linien in Aquarell heraus, die den Kleidern körperliche Präsenz und Wesenhaftigkeit verleihen. Der Zeitsprung zwischen abgenutzten Textilien und Farbauftrag, zwischen Vergangenheit und Gegenwart evoziert ambivalente Körpererzählungen. Manche Blätter besitzen eine eher spielerische Leichtigkeit, wirken kindlich und naiv. Bei anderen Collagen wiederum bleibt der Charakter des Fragmentarischen dominant, sie erwecken den Anschein von zerstörten, weggeworfenen «Fetzenpuppen» oder auch sexuell aufgeladenen Fetischen. Als Serie betrachtet, bleibt der Eindruck des Unheimlichen und latent Bedrohlichen bestehen, von einer genuinen leiblichen Fragilität, der auch die auf die Kleidung abgestimmte Farbpalette und die differenzierten Pinselstriche keinen Halt bieten.

Material-mediales Doppel
Nives Widauers Umgang mit Video ist vom Interesse gekennzeichnet, «klassische» Präsentationsformen und mediale Parameter zu hinterfragen. Deutlich wird dies etwa in den seit 2005 entwickelten «Symbioscreens», einer oft vorwärts und rückwärts laufenden, geloopten Projektion auf einen gedruckten Videostill. Projek­tion und Standbild sind nie ganz deckungsgleich, aus dem Verhältnis von stillgestelltem und bewegtem Bild resultiert die Erfahrung von inkongruenten Bildräumen und asynchroner Zeitlichkeit. Bei ‹Monitor Love›, 1989/2007, zeigt der Still eine von Monitoren flankierte schmale Fläche. Ein einzelner Arm schiebt sich von oben dazwischen, dann folgt der ganze Körper: eine halbnackte Frau, die sich rücklings zwischen den Monitoren «aufbahrt», beleuchtet vom Glimmen der hellen Bildröhren. Während die Monitore doppelt vorhanden sind und dadurch das Bild stabilisieren, taucht der weibliche Körper «nur» als ephemere Erscheinung auf. Seine Präsenz wird von den Monitoren konstituiert, ohne deren Belichtung er visuell nicht anwesend wäre. Dieses Spannungsfeld von Bildträger, «Lichtbild» und weiblichem Körper bestimmt auch die Arbeit ‹El sueño de Blanca I›, 2018, die im Kunstmuseum Olten quasi als Gegenstück installiert ist. In der Videoprojektion auf einen grossen alten Knüpfteppich ist – von oben gefilmt – eine Frau zu sehen, die in Bauchlage auf demselben Teppich liegt. Sobald sie sich erhebt, werden die gelben Umrisslinien sichtbar, die ihre Körpersilhouette nachzeichnen. Dass die Figur mit einem Staubsauger bewaffnet ins Bild zurückkehrt und die Markierungen entfernt, nimmt der Arbeit den kriminologischen Ernst. Vielmehr setzt sich die Lesart von weiblicher Selbstermächtigung durch, die Anwesenheit im Bild wird mit einer ebenso selbstbewussten Geste getilgt.

Irene Müller, Kunstwissenschaftlerin, Kuratorin und Autorin, lebt und arbeitet in Zürich. muellersbuero@gmx.ch

Nives Widauer (*1965, Basel), lebt in Wien

Einzelausstellungen (Auswahl)
2019 ‹Antichambre›, Centre culturel suisse, Paris; ‹Séparée›, Palazzo dei Diamanti, Ferrara; ‹Archeology of Undefined Future›, W & K Wienerroither Kohlbacher, Palais Schönborn-Batthyány, Wien
2018 ‹Blanche›, das weisse haus, Wien
2015 ‹cosmos, que sais-je?›, semina rerum – Galerie Irène Preiswerk, Zürich
2014 ‹Special Cases – Cosmic Rockets›, Oberes Belvedere, Wien
2013 ‹Unknown Room›, SPSI Museum, Shanghai
2011 ‹Do I dream or am I alive›, Kunsthaus Baselland, Muttenz

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2019 ‹Fly Me to the Moon›, Kunsthaus Zürich/Museum der Moderne, Salzburg
2015 ‹Fäden der Macht›, Kunsthistorisches Museum Wien
2014 ‹Gastspiel›, Museum Rietberg, Zürich

expositions/newsticker Date Type Ville Pays
Nives Widauer. VILLA NIX. Finissage 17.11.2019 conversation / conférence Olten
Schweiz
CH
Auteur(s)
Irene Müller
Artiste(s)
Nives Widauer

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