Rimini Protokoll — Kunst als Anleitung zur kritischen Selbstermächtigung
Mit ihren Theaterprojekten und Installationen verlassen sie traditionelle Kulturräume und laden das Publikum ein, ökonomische und politische Netzwerke zu erkunden: Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel alias Rimini Protokoll. Das Kunstmuseum Solothurn macht erstmals mehrere Arbeiten über längere Zeit in einer Ausstellung zugänglich.
Rimini Protokoll — Kunst als Anleitung zur kritischen Selbstermächtigung
Die Inszenierungen und Installationen von Rimini Protokoll führen in verschiedene Bereiche der Gesellschaft, ins dunkle Herz politischer und wirtschaftlicher Entscheidungsprozesse und verborgene Zonen des Alltäglichen. Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Solothurn bringt acht sehr unterschiedliche Arbeiten in die Museumsräume – und mit einer weiteren Arbeit geht sie mit dem Publikum und der Kunst in den Stadtraum: Die App ‹The Walks›, 2021, ist eine kleine Sammlung von Kurzhörspielen und Anregungen, eine beliebige Stadt zu erkunden. Beim Audio-Walk ‹Park› erfährt man, dass Spaziergänge ein traditionell beliebtes Setting für Gespräche und Verhandlungen zwischen politischen Funktionsträger:innen sind. Der Spaziergang ‹Aufbruch› lädt dazu ein, die unmittelbare Nachbarschaft zu erkunden und sich dabei an Wege der Kindheit zu erinnern. Die während des Pandemie-Lockdowns konzipierte App zeigt nicht nur, wie die Köpfe hinter Rimini Protokoll, Helgard Haug (*1969), Stefan Kaegi (*1972) und Daniel Wetzel (*1969), mit kreativer Energie auf das Corona-Virus reagiert haben. ‹The Walks› veranschaulicht auch, wie das Kollektiv Theaterarbeit begreift: Rimini Protokoll gehen mit ihren Inszenierungen, Installationen und Hörstücken raus aus dem abgesteckten Theaterraum und rein in gesellschaftliche und politische Zusammenhänge und sie machen Besucher:innen und Zuschauende zu Agierenden, zu Mitdenkenden und Mitfragenden.
Kein Erzähltheater, kein Erklärtheater
Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben Rimini Protokoll im Jahr 2000 gegründet. Seither haben sie über hundertdreissig Projekte konzipiert, die in unterschiedlichen Konstellationen, mit verschiedenen Mitarbeitenden, Beratenden und sogenannten «Expert:innen des Alltags» umgesetzt werden. In all ihren Projekten spielen gesellschaftliche Fragen, politische und ökonomische Prozesse und Strukturen eine grosse Rolle. Rimini Protokoll machen kein Erzähltheater und kein Erklärtheater. Sie versuchen, Zugänge zu schaffen, ermutigen jeden Einzelnen, jede Einzelne, selbst Fragen zu stellen, sich als aktiven Teil des Projekts und des Weltgeschehens zu erfahren.
Beispielhaft für die Einladung zur Selbstermächtigung sind die Inszenierungen ‹Welt-Klimakonferenz›, 2014/15, und ‹Hauptversammlung›, 2009. Für Letztere luden Rimini Protokoll am 8. April 2009 zur Hauptversammlung der Daimler AG im Kongresszentrum ICC Berlin. Lange im Vorfeld hatte das Kollektiv Aktien der Daimler AG gekauft sowie Aktionär:innen gesucht, die ihr Ticket zur Hauptversammlung an Rimini Protokoll abtraten – damit diese einer möglichst grossen Gruppe von Zuschauer:innen Zugang zur Veranstaltung gewähren konnten. Ein Video dokumentiert diese Aktionärsversammlung, die bereits für sich genommen wie eine theatrale Inszenierung wirkt. Kühl, pompös, mit einer riesigen blauen Leinwand, vor der sechs Vorstandsmitglieder und zwanzig Mitglieder des Aufsichtsrats der Daimler AG in teuren Anzügen sitzen. Das Video gibt die Begrüssung wieder, die Reden, die Ansprachen. Eine Kommentatorenstimme analysiert rhetorische Figuren, etwa die alle Anwesenden einbeziehende Verwendung des Pronomens «wir», wenn vom Unternehmen die Rede ist. «Das sind beeindruckende Gesten der Macht», heisst es im Video. Im Publikum sitzen etwa 8000 Aktionärinnen und Aktionäre sowie jene Personen, die von Rimini Protokoll hineingeschleust wurden. Erst im Verlauf der Versammlung erfahren Vorstand und Aufsichtsrat, dass die Theaterleute ihre Veranstaltung gewissermassen «gekapert» haben. Die Herren der Daimler AG reagieren, wie kaum anders zu erwarten, «not amused».
Weltpolitik als Theater
‹Welt-Klimakonferenz› entstand kurz vor dem Klimagipfel von 2015 in Paris. Rimini Protokoll inszenierte im Hamburger Schauspielhaus eine eigene Version des globalen diplomatischen Austauschs. Besuchende konnten selbst zu Vertreter:innen der 196 Nationen werden, die an der Konferenz teilnahmen. Die Ausstellung zeigt ein Video der Uraufführung sowie 196 Booklets mit Informationen zu den konferierenden Nationen. Die Booklets geben Auskunft über Geografie, Bevölkerung und Wirtschaft der einzelnen Länder und veranschaulichen, mit welch unterschiedlichen Voraussetzungen die Nationen sich an der Konferenz beteiligt haben. Schwach besiedelte Länder, deren Bevölkerung zu grossen Teilen in einer gering technisierten Landwirtschaft tätig sind, haben natürlich einen anderen ökologischen Fussabdruck als bevölkerungsreiche Industrienationen; sie haben aber in der Regel auch weniger politische Durchsetzungskraft. Auch wenn die Ausstellungssituation nicht das Gefühl des unmittelbar Einbezogen-Seins evozieren kann, das die Besucher:innen und Teilnehmer:innen dieser Projekte hatten, so geben die Videodokumente und weitere Informationen zu den Inszenierungen doch einen sehr guten Einblick in Denk- und Arbeitsweisen von Rimini Protokoll.
Der anonymen Statistik ein Gesicht geben
Näher dran ist man in einer Arbeit wie ‹Feast of Food›, 2019, die als Installation konzipiert ist und die Gemälde historischer bäuerlicher Nahrungsmittelproduktion mit Videos aus der modernen Lebensmittelindustrie kontrastiert. Im ursprünglichen Konzept haben Rimini Protokoll Gemälde von Pieter Bruegel dem Älteren vorgesehen. In Solothurn sind es Gemälde aus der Museumssammlung, die die Wände mit idyllischen Darstellungen von Wachstum und Ernte zieren. Ein ‹Pflügender Bauer›, 1911, von Hans Berger zum Beispiel oder Max Gublers in warmen Farben gemalte ‹Sommerlandschaft mit Gaswerk in Schlieren›, 1938, die trotz der Industriebauten am Horizont heimelig wirkt. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch, bemalt mit Tellern und Bestecken. Hier können Besucher:innen Platz nehmen und über VR-Brillen in die hochtechnisierte Welt heutiger Lebensmittelproduktion eintauchen.
Im Zentrum der Ausstellung steht das Projekt ‹100 % Stadt›, das 2008 in Berlin uraufgeführt und seither weltweit in über vierzig Städten realisiert wurde. Das aufwendige Projekt macht Statistik lebendig und unmittelbar erfahrbar. Rimini Protokoll suchen jeweils hundert Einwohner:innen einer Stadt, die in Bezug auf fünf statistische Kriterien mit dem Querschnitt der Stadtbevölkerung übereinstimmen: Geschlecht, Alter, Familienstand, Nationalität, Wohnbezirk. Diese hundert Menschen, die stellvertretend für die gesamte Stadt stehen, werden auf einer Bühne zusammengebracht, wo sie persönliche, aber auch politische Fragen beantworten, die von den Teilnehmenden selbst formuliert wurden: «Wer ist oder war schon mal obdachlos?», «Wer hat oder hatte ein Haustier?», «Wer gehört oder gehörte einer Partei an?», «Wer ist homosexuell?». Die Bühne ist unterteilt in zwei Zonen: «Ich» und «Ich nicht». Die Verteilung der Menschen mischt sich mit jeder Frage neu. Ein Video auf grosser Leinwand zeigt Aufnahmen dieses Statistik-Spiels aus verschiedenen Städten.
Das Individuum sprechen lassen
Auch in Solothurn haben Rimini Protokoll ihr Demografie-Projekt durchgeführt. Hier haben sie allerdings darauf verzichtet, die Teilnehmer:innen auf einer Bühne zusammenzubringen und die Befragung per Video zu dokumentieren. Die Daten und Befragungsergebnisse der hundert Solothurner:innen sind in einer Publikation festgehalten. Und: In einem Saal des Kunstmuseums ist ein langer Tisch aufgestellt, auf dem alle, die am Projekt ‹100 % Solothurn› beteiligt sind, einen persönlichen Gegenstand zeigen. Ein Geigenbogen, ein Fussball-Trikot, eine Kaffeemühle: Anhand alltäglicher Objekte wird erfahrbar, dass hinter statistischen Zahlen Menschen mit individuellen Wünschen und Bedürfnissen stecken. In der Publikation zu ‹100 % Solothurn› werden die Gegenstände den einzelnen Teilnehmer:innen zugeordnet – und in Form kleiner Piktogramme um Aussagen wie «Ich mag keinen Käse» oder «Ich finde, die Schweiz sollte Mitglied der EU sein» ergänzt. Die Botschaft dahinter ist eigentlich ganz einfach und dennoch gewichtig: Wenn wir über Politik und Gesellschaft sprechen, sprechen wir immer auch über uns persönlich.
Alice Henkes, Redaktorin bei Radio SRF2 Kultur, lebt in Biel. alice.henkes@bluewin.ch
Rimini Protokoll
Helgard Haug (*1969, Sindelfingen) lebt in Berlin
Stefan Kaegi (*1972, Solothurn) lebt in Saint Martin (VS) und Berlin
Daniel Wetzel (*1969, Konstanz) lebt in Berlin
In den 1990er-Jahren studierten Haug, Kaegi und Wetzel am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Giessen
Seit 2000 Inszenierungen, Hörstücke, Installationen
Auszeichnungen (Auswahl)
2015 Schweizer Grand Prix Theater / Hans-Reinhart-Ring an Stefan Kaegi für seine «innovative Kollektivarbeit mit Rimini Protokoll»
2014 Publikumspreis Mülheimer Dramatikerpreis / Stücke für ‹Qualitätskontrolle›
2011 Silberner Löwe der 41. Theater-Biennale, Venedig
Installationen (Auswahl)
2022 ‹Urban Nature›, Kunsthalle Mannheim
2021 ‹Who else if not You?› (Wetzel solo), 21_21 Design Sight Gallery 1 & 2, Tokio
2020 ‹Feast of Food›, Schloss von Gaasbeek, Brüssel
2017 ‹City As Stage›, Museum of Contemporary Art, Santa Barbara
2016 ‹Top Secret International›, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, u. a.; ‹Nachlass – Pièces sans Personnes› (Kaegi/Huber), Théâtre de Vidy-Lausanne und Martin-Gropius-Bau, Berlin
2015 ‹Kapitel eines Buches›, Praxes Center for Contemporary Art, Berlin
2010 ‹Drei Fliegen mit einer Klappe – Eine Ausstellung›, Heidelberger Kunstverein
Theater (Auswahl)
2021 ‹The Walks›, App; ‹Temple du présent – Solo für einen Oktopus› (Kaegi), Théâtre Vidy-Lausanne
2019 ‹Chinchilla Arschloch, waswas› (Haug), Künstlerhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt; ‹Uncanny Valley› (Kaegi), Kammerspiele München
2018 ‹Weltzustand Davos (Staat 4)› (Haug / Kaegi), Schauspielhaus Zürich
2017 ‹Evros Walk Water 1&2› (Wetzel), Onassis Cultural Centre, Athen
2014 ‹Weltklimakonferenz›, Schauspielhaus Hamburg
2013 ‹Situation Rooms – Multi-Player-Videowalk›, Ruhrtriennale
Institutionen | Pays | Ville |
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Kunstmuseum Solothurn | Suisse | Solothurn |
expositions/newsticker | Date | Type | Ville | Pays | |
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Rimini Protokoll | 22.01.2023 - 30.04.2023 | exposition | Solothurn |
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