Alice Channer — Tauchgang in tiefsinnige Oberflächen

Alice Channer · Body Shop; Cold Metal Bodies, beide 2023, Straussenfedern, Edelstahl, Masse variabel, ­Courtesy Konrad Fischer Galerie, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Appenzell. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Body Shop; Cold Metal Bodies, beide 2023, Straussenfedern, Edelstahl, Masse variabel, ­Courtesy Konrad Fischer Galerie, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Appenzell. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Megaflora, 2021 (vorne), Aluminium, 330 x 72 x 47 cm, Courtesy Large Glass, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Appenzell. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Megaflora, 2021 (vorne), Aluminium, 330 x 72 x 47 cm, Courtesy Large Glass, Ausstellungsansicht Kunstmuseum Appenzell. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Planetary System (Kolzer DGK63''), 2019, horizontales Vakuum-Metallisierungskarussell-System Kolzer DGK63'', vakuum-metallisierte Seespinnen und Taschenkrebsschalen, Edelstahlvorrichtung, 160 x 150 x 210 cm, Courtesy Konrad Fischer Galerie. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Planetary System (Kolzer DGK63''), 2019, horizontales Vakuum-Metallisierungskarussell-System Kolzer DGK63'', vakuum-metallisierte Seespinnen und Taschenkrebsschalen, Edelstahlvorrichtung, 160 x 150 x 210 cm, Courtesy Konrad Fischer Galerie. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Starship (Super Heavy), 2022 (Detail), Kalkstein, Aluminium, satinierte Kreppseide, Edelstahl, 3-teilig, hier: 120 x 120 x 9 cm, Courtesy Konrad Fischer Galerie. Foto: Roman Merz

Alice Channer · Starship (Super Heavy), 2022 (Detail), Kalkstein, Aluminium, satinierte Kreppseide, Edelstahl, 3-teilig, hier: 120 x 120 x 9 cm, Courtesy Konrad Fischer Galerie. Foto: Roman Merz

Alice Channer. Foto: Thierry Bal

Alice Channer. Foto: Thierry Bal

Fokus

Mit ihrer bislang grössten Soloschau bespielt Alice Channer sowohl das Kunstmuseum als auch die Kunsthalle in Appenzell. Skulpturen der letzten zwölf Jahre sind mit aktuellen Produktionen angereichert: Die Britin lädt ein zum Rückblick und Ausblick auf ihr Schaffen, das sich den Oberflächen, ihren Herstellungsprozessen und ihrer Politik verschrieben hat.

Alice Channer — Tauchgang in tiefsinnige Oberflächen

Hin und wieder bieten die grosszügigen Fenster des Kunstmuseums und der Kunsthalle Aussicht auf Appenzeller Szenerien. Geschwungene Hügel und bewegte Gebirgslinien bestimmen den Horizont dieser voralpinen Gegend, die beim Betreten der zweiteiligen Schau ‹Heavy Metals / Silk Cut› vorerst in weite Ferne rückt: Mit Alice Channer (*1977, Oxford) hat Stefanie Gschwend – seit letztem Jahr Direktorin und Kuratorin beider Ausstellungshäuser – eine künstlerische Position jenseits jeglicher Naturdramatik in die Ostschweiz geholt. Industriell verarbeitete Metalle und Steine, Gewebe und Kunststoffe verströmen eine hochtechnisierte Abgeklärtheit. Doch der minimalistische, serielle und anonymisierte Eindruck täuscht – bei näherer Betrachtung offenbart das skulpturale Werk der britischen Künstlerin, dass sie kühle Ästhetik mit organischen Elementen, Repetition mit irregulären Auswüchsen und intakte Oberflächen mit Spuren ihrer Entstehungsprozesse vermengt. Die Appenzeller Berge, reich an fossilen Schätzen und sichtbarem Faltenbau, liegen doch ganz nah.

Multiple Materialität
Den Auftakt in diese doppelbödige Ausstellung macht eine Skulptur aus drei ausgelegten Kalksteinscheiben. Ihre geschliffene Oberfläche ist von kleinen Fossil­abdrücken übersät und stellenweise von gebohrten Versenkungen durchsetzt. Die urzeitlichen Spuren im Gestein hat Channer punktuell zu metallgegossenen Kleinstplastiken abgeformt, die zurück in die filigranen Hohlräume gelegt wurden: Nur deren flache Unterseiten bleiben für uns sichtbar – sie zieren die steinige Oberfläche wie schmucke Glanzapplikationen. In den grossen Bohrlöchern erblickt man unterdessen sowohl in Aluminium gegossene Ammoniten als auch maschinell plissierten Kreppsatin, der durch seine gewickelte Faltenlegung mit der Rippenstruktur und Spiralform der prähistorischen Tiere korreliert. ‹Starship (Super Heavy)› – so der überraschend astronautische Titel dieser 2022 geschaffenen Bodenskulptur – führt in Widersprüchlichkeiten ein, die sich in Channers Œuvre vereinen.
Die Verschränkung von natürlichen und synthetischen Stoffen, von biogenen und maschinellen Strukturen sowie von geologischen, handwerklichen und industriellen Prozessen zieht sich als Konstante durch die Exponate. In ‹Heavy Metals / Silk Cut› erwägen wir eine Verwandtschaft zwischen Oberschenkelknochen, Kabelschutzrohren und Ammonitversteinerungen (‹Ammonite›, 2019). Wir verwechseln maschinelle Frässpuren mit Gesteinsschichten (‹Burial›, 2016) oder blicken an einer Stoffbahn hoch, die sowohl Meterware der Textilindustrie als auch zum Trocknen aufgehängte Reptilienhaut bedeuten könnte (‹Soft Sediment Deformation [Iron Bodies]›, 2023). Und wenn wir durch ein knöchelhohes Bad aus Plastikpellets zu einer Insel aus gefalteten Snake-Print-Leggings waten (‹Birthing Pool›, 2019), hinterlassen wir Abdrücke, mit denen wir uns in die vielgliedrige Produktionskette von Channers Schaffen einreihen. Urtiere und Erdkruste, Maschinenarme und Industriearbeitende, Künstlerin und Publikum bilden einen produktiven Verbund, aus dem nicht nur multimateriale, sondern auch vielstimmige Werke hervorgehen. «Meine Arbeiten werden von verschiedenen Wesen hergestellt», sagt Channer. «Nur eines davon bin ich.»

Tiefe Oberflächen
Mit dem Titel ‹Starship (Super Heavy)› der Bodenskulptur im ersten Raum des Kunstmuseums spielt Channer auf das Grossraketenprojekt SpaceX von Elon Musk an, dessen Raumschiffe sie als «wunderschöne, furchterregende, phallische Monolithen aus glattem, undurchdringlichem, gleichgültigem Metall» beschreibt. Während man rätselt, ob die durchgehend länglichen Metallapplikationen im Kalksteinwerk als kleine, glänzende Raketen durchgehen, wird einem bewusst, dass die Steinscheiben mit ihren flimmernden Mustern biogener Abdrücke wohl als Channers Gegenentwurf zu Musks Umgang mit dem Himmelsgewölbe zu lesen sind: Wo der Tesla-Gründer davon träumt, in den Weltraum vorzudringen, gilt ihre Faszination den irdischen Dingen, deren Material, Struktur und Zusammenhänge ihre künstlerische Praxis zu begreifen sucht. Statt abzuheben, will sie «in die tiefen Oberflächen eintauchen, die Prozesse auf und in Objekten hinterlassen».
‹Crustacean Satellites›, 2018, im Kunstmuseum und ‹Planetary System (Kolzer DGK63’’)›, 2019, in der Kunsthalle sind weitere Arbeiten, deren Titel trotz mariner Elemente Assoziationen zum Weltall wecken. In beiden Skulpturen sind vakuum-metallisierte Krebspanzer auf zylinderförmigen Stahlvorrichtungen angebracht, die Beschichtungswerken entstammen. Als Gerüste in luftleeren Kammern – so das Konzept der Vakuum-Metallisierung – lassen die Vorrichtungen Gegenstände ganz im Sinne von Himmelskörpern durch Aluminiumdampf kreisen, um sie mit einem gleichmässigen Glanz zu umhüllen. Was bei der Veredlung von glatten Automobilkomponenten aus Kunststoff funktionieren mag, will bei der Metallisierung von Krebspanzern nicht gelingen. Löcher und Höcker, Stacheln und Härchen werden durch das lichtreflektierende Material betont. Zwischen Glamour und Gewalt schillernd, verweisen diese funkelnden Tierkrusten auf das, was sie sind: körperliche Elemente, die in industriellen Verfahren zu vereinheitlichen versucht werden.
Eher Momente eines dynamischen Prozesses als fertige Produkte, stehen diese zwei Skulpturen exemplarisch für Channers «Prozesskunst des 21. Jahrhunderts», mit der sie ihr eigenes Schaffen meint, «das in kapitalistischer Zeit absichtlich verdeckte Produktionsprozesse sichtbar macht». Ihre Arbeiten sollen «Löcher und Brüche in glatte, harte, zusammenhängende, vollständige und totalisierende Oberflächen stanzen». Die Arbeit ‹Mechanoreceptor, Icicles (red, red), (double spring, single strip)›, 2018, mutet wie eine Verbildlichung dieser künstlerischen Strategie an: In insgesamt 210-facher Ausführung wurde der digital gestreckte, in Aluminium gegossene Zeigefinger der Künstlerin in rotes Thermoplast getaucht. Immer noch an der dafür verwendeten Industrievorrichtung angebracht, ziehen die umhüllten Fingerspitzen als Truppenformation durch die Appenzeller Kunsthalle und verkünden, dass sie zur Punktierung bereit sind.

Untergründige Metaphorik
Ebenso gut ausgerüstet ist ‹Megaflora›, 2021: eine mit Dornen besetzte, stelenartige Skulptur. Anhand der unbeseitigten Scanspuren und Fräsgrate lässt sich der kleine Brombeerzweig erahnen, der, digital erfasst, stark vergrössert und zum Modell ihrer monumentalen Gussform geworden, dieser Säule als Ausgangspunkt diente. Beim Umschreiten der sich inmitten des Raums aufbäumenden Skulptur entdeckt man einen klaffenden Spalt in ihrer Oberfläche, der die Hohlfigur offenlegt und damit auch ihr metaphorisches Spiel: Aufgrund des leeren Innern eines Edward-Colston-Denkmals war es Aktivist:innen 2020 möglich, die Repräsentation des Sklavenhändlers vom Sockel zu reissen und in das Hafenbecken von Bristol zu schleudern – eine symbolische Geste gegen gesellschaftliche Machtverhältnisse, die man lange für unmöglich hielt. Über Jahrhunderte hatte die intakte Hülle der seit jeher umstrittenen Bronzestatue Solidität und Schwere vermittelt. ‹Megaflora› ist von diesem umstürzlerischen Akt inspiriert: Die durchlässigen Oberflächen in Channers Werk erzählen von innerer Beschaffenheit und Herstellungsprozessen und sprechen auch von Offenlegung und Umwandlung gesellschaftlicher Systeme.
Wenn Channer über die aktuellen Werke ‹Body Shop›, 2023, und ‹Cold Metal Bodies›, 2023, spricht, wird spürbar, dass soziale Metaphern für ihr Schaffen weiterhin von Bedeutung sein werden. Für die beiden installativen Skulpturen hat sie über einen Automobilhersteller mit Straussenfedern bestückte Metallscheiben bestellt, die sie an Ketten zwischen Boden und Decke zu floral anmutenden Reihen gehängt hat. In der Industrie dienen diese tierischen Produkte – vorzugsweise weiblicher ­Sträusse – zur Reinigung der Blechkarosserien: Metallene Körper schieben sich durch emsig drehende, anschmiegsame Gefiederwalzen. Man kann hier über arbeitspolitische und geschlechtsspezifische Metaphern nachdenken. Den Bogen zum Zusammenspiel zwischen Biogenem und Maschinellem, zum Schillern zwischen Glamour und Gewalt und zu Elon Musks phallischen Raketen schlagen. Oder den Blick in die Höhe schweifen lassen und sich vorstellen, wie sich ein Tauchgang durch diese seltsamen Seeanemonen aus Metall und Federn wohl auf der eigenen Haut anfühlen würde.

Die Zitate sind übersetzt aus dem englischen Gespräch mit der Künstlerin in Appenzell am 1.7.2023 sowie aus ihrem Text ‹Sand in Vaseline›, 2022.

Julia Schmidt, Kunsthistorikerin und Filmwissenschaftlerin, arbeitet als freie Autorin, Texterin und ­Projektleiterin in Zürich. julia.schmidt@gmx.ch

→ ‹Alice Channer – Heavy Metals / Silk Cut›, Kunstmuseum und Kunsthalle Appenzell, bis 8.10.; mit umfassender Monografie, Berlin: Distanz-Verlag ↗ kunstmuseum-kunsthalle.ch

Jusqu'à 
08.10.2023

Alice Channer (1977, Oxford) lebt in London
2006 Bachelor in Fine Arts, Goldsmiths College, London
2008 Master in Sculpture, Royal College of Art, London

Einzelausstellungen (Auswahl)
2021 ‹Worms›, Quartz Studio, Turin
2019 ‹Man-made›, Konrad Fischer Galerie, Düsseldorf
2018 ‹Carapaces›, Large Glass, London
2015 ‹Rockfall›, Aspen Art Museum
2014 ‹Pool›, Kestner Gesellschaft, Hannover
2013 ‹Invertebrates›, The Hepworth Wakefield, Yorkshire

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2023 ‹Atmen›, Kunsthalle Hamburg
2022 ‹Look – Enthüllungen zu Kunst und Fashion›, Marta Herford
2021 ‹The Stomach and The Port›, Liverpool Biennial
2020 ‹60 Years›, Tate Britain, London
2018 ‹Creating Ourselves – Art, the body and subjectivity›, White Chapel Gallery, London
2017 ‹Rest in the Furrows of My Skin›, Kunsthaus Hamburg
2014 ‹nature after nature›, Fridericianum, Kassel
2013 ‹The Encyclopedic Palace›, 55. Biennale von Venedig

expositions/newsticker Date Type Ville Pays
ALICE CHANNER 02.07.2023 - 08.10.2023 exposition Appenzell
Schweiz
CH
Artiste(s)
Alice Channer
Auteur(s)
Julia Schmidt

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