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Historische Einladungskarten und Ausstellungsflyer interessieren mich nicht zuletzt, weil sie Zeitzeugen sind. In einer Einladung bleibt etwas Grundlegendes fassbar. Sie hält einen Augenblick fest und bildet eine Vielzahl von Fakten ab: das Was, Wo und Wie einer Kunstveranstaltung, die für die Vermittlung der Botschaft verwendete Oberfläche und Drucktechnik sowie die Spuren der Hände, durch die diese Botschaft auf ihrem Weg bis zum Empfänger gegangen ist. Dies erinnert mich an eine aus dem Jahr 1974 stammende Einladung zu einem Vortrag von Dan Graham, die ich vor einigen Jahren an meinem Arbeitsort, der Ephemera-Sammlung der MoMA-Bibliothek in New York, entdeckte. Auf der Karte sind alle wesentlichen Angaben vermerkt. Die Empfängerin hat auf der Vorderseite jedoch das Wort TODAY in grossen Buchstaben hinzugefügt. Ein Zusatz, der den zeitlichen Bezug zur angekündigten Veranstaltung mittels Wiederholung herausstreicht. Das von Hand geschriebene und unterstrichene TODAY, vermutlich eine Mitteilung der Empfängerin an sich selbst, bereichert die Einladung um eine weitere Dimension. Diese Betonung der Gegenwart mag alltäglich oder komisch wirken, macht aus der Karte aber auch ein kurioses Objekt. Denn zum einen besteht die Funktion solcher Drucksachen in ihrer Nützlichkeit im Hier und Jetzt. Sobald sie jedoch zu Archivalien werden, können sie uns dabei helfen, historische Kunstausstellungen und Biografien von Kuratorinnen und Kuratoren sowie Kunst- und Designschaffenden zu rekonstruieren.

Kunsthistorisch betrachtet schaffen die in Plakaten und Karten enthaltenen Informationen oft eine Verbindung zwischen den erwähnten Personen und ihren gemeinschaft­lichen Aktivitäten und Begegnungsorten. Die Objekte machen aus flüchtigen Veranstaltungen und Installationen ein les­bares, faktengestütztes Narrativ. Natürlich bilden weitere Quellen wie Veranstaltungsfotos oder Augenzeugenbe­richte einen noch grösseren kunstgeschichtlichen Kontext. Doch diese Papierschnipsel sind Rohmaterial und lassen uns ahnen, welche Netze zwischen Künstlerinnen und Künstlern, Galerien und Institutionen existieren und in welchem Mass bildende Kunst und Grafikdesign, aber auch weitere Kunstformen wie Tanz, Theater, Lyrik und Prosa einander inspirieren. Aus den einzelnen Objekten formt sich in der Gesamtschau eine Landkarte, die bestimmte Praktiken der zeitgenössischen Kunst verzeichnet.

Bei eingehender Betrachtung solcher Ephemera wird als Hauptmerkmal sichtbar, wie stark Kunst- und Design­schaffende mit den grafischen Konventionen des Formats spielen. So wie sie früher schon von anderen Druckfor­maten auf eigenwillige und unerwartete Weise Gebrauch machten, eignen sie sich auch Format und Struktur von Einladungskarten oder Ausstellungsplakaten spielerisch an, um ganz unterschiedliche Ziele zu erreichen. Wie sich das Format auf den Kopf stellen lässt, zeigt beispielhaft eine Karte des Zagreber Kollektivs Gorgona, einer losen Ver­einigung von Personen aus den Bereichen Kunst, Grafikdesign und Geschichtswissenschaft. Die Mitglieder verschickten 1962 eine Einladung zu einer Ausstellung, die den Titel «Moderner Stil» trug. In recht strenger Typografie stand auf der Karte lediglich «IZVOLITE PRISUSTVOVATI», was frei übersetzt «PLEASE ATTEND» bedeutet. Statt weiterer Informationen, die Orientierung geboten hätten, fand sich lediglich die Mitteilung, man sei eingeladen. Analog zu den sich damals weltweit entfaltenden Anti-Kunst-Aktivitäten- vom Nouveau Réalisme in Europa bis zur experimentellen Kunst-, Klang- und Performance-Szene in New York- könnte man in der Gorgona-Karte eine Anti-Einladung sehen. Parallel zu anderen Praktiken von Gorgona, wie etwa der gleichnamigen und von der Gruppe buchstäblich als «Anti-Magazin» bezeichneten Zeitschrift, wird hier die konven­tionelle Begegnung mit dem Objekt symbolisch entleert. An deren Stelle tritt eine neue Beziehung mit offenem Ausgang. Die Details fallen weg, was als reine Aporie erscheinen mag, aber auch als Beteuerung, dass man willkommen sei. Gut vorstellbar, dass damals ein Freund oder eine Kollegin die Karte von Gorgona erhalten und auf der Suche nach weiteren Informationen umgedreht hat, um sie schliesslich als unnütze Kuriosität wegzuwerfen. Doch vielleicht brachte die Karte eine andere Person auch zum Lachen, weil sie das Werk eines Freundes zu erkennen glaubte.

Ein allgemeinerer Aspekt der Gorgona-Karte war die Mehrdeutigkeit solcher Künstlereinladungen, die auch als Werkeinführungen, ja als «Werke» schlechthin angesehen werden können. Die Gorgona-Einladung ist nicht nur ein frühes Stück Konzeptkunst, sondern auch eine echte, wenngleich nutzlose Ankündigung weiterer Werke, die 1962 in der Zagreber Galerie G ausgestellt wurden. Ein dyna­mischer Aspekt dieser Materialien ist ihre Fähigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig zu sein, nämlich Einzelwerke und/oder tragende Elemente innerhalb grösserer Werke, umfassende kunst historische Informationen über eine Veranstaltung sowie merkwürdige Interventionen im Rahmen einer Einladung oder Ankündigung.

Die Einladungskarte präsentiert sich zweifellos als Zeit­indikator, als Indikator eines Ereignisses, das bereits stattgefunden hat oder noch stattfinden wird. Die Bedeutung für die zeitgenössische Kunst zeigt sich auch in räumlicher Hinsicht. Umfang und Inhalt einer Karte oder eines Flyers werden oft in Proportion zu jener flüchtigen Haltung gesetzt, die die Konzeptkunst prägt. Für Künstlerinnen und Künstler sowie Gestalterinnen und Gestalter, deren Stil oder Ton auf minimale oder temporäre Interventionen in einer Kunststätte oder einem anderen sozialen Ort abgestimmt ist, sind solche Ephemera ein durchaus geeignetes Medium. Es verwundert nicht, dass ein Konzeptkünstler wie Robert Barry, der Gas oder Atmosphäre als Medium einsetzte, in Einladungen einen passenden Rahmen für seine Kunst sah. Barry schuf zwei «Werke» in Form von Galerieeinladungen. Auf der Einladung zu «Closed Gallery» stand, dass die Galerie für die Dauer der Ausstellung geschlossen bleibe. Die Ankündigung wurde 1969 dreimal mit der Post verschickt, und zwar durch die in Los Angeles ansässige Galerie Eugenia Butler, durch Art & Project und durch die Galleria Sperone. Erwähnung verdient hier auch der kroatische Künstler Goran Trbuljak, dessen erste Galerieausstellungen in den 1970er-Jahren aus nichts anderem als dem Ausstellungsplakat bestanden. Während einer 1971 durchgeführten Ausstellung war in der Galerie des Zagreber Studenten­zentrums ein einziges Plakat aufgehängt, nämlich ein Porträt von Trbuljak mit dem Satz: «I do not wish to present anything new or original..» An dieser Form von konzeptueller Ankündigung-oder hier besser: Erklärung-fällt unter anderem ihre Übermittlung auf, ihre Bewegung im Raum. Sie lässt sich leicht verteilen und steuert eindeutig weg vom Monumentalen, hin zum Alltäglichen und Imaginären. Bleibt der Standort eines Kunstwerks vorsätzlich flüchtig oder ist zunächst eine Handlung nötig, damit sich das Werk überhaupt in einem bestimmten Kontext erleben lässt, kann die Einladung eine unverzichtbare Eingangspforte zum Werk sein. Man denke an Daniel Burens urbane, aus Längs­streifen bestehende Interventionen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Zentraler Teil dieser Werke waren die Einladungen, die eine Telefonnummer enthielten, die man zu wählen hatte, «um weiterzusehen», sowie die Überschrift: YOU ARE INVITED TO READ THIS AS A GUIDE TO WHAT CAN BE SEEN.

Doch Plakate, Flyers und Karten fungieren nicht nur als subtile Partner in der Geschichte der Konzeptkunst - bekanntlich können sie auch Lärm machen. Die jüngere Geschichte dieser Materialien veranschaulicht, wie sie den Raum sprengen oder laut und frech, respektlos und lustig sein können. Viele dieser Drucksachen lassen sich als Punk betrachten - der Zugang zu billiger Drucktechnik erlaubt es, die ganze Stadt mit subversiven, surrealen oder schlicht albernen Botschaften vollzukrakeln. Oft gründet das Produktionsethos auf der leichten Verfügbarkeit der für Gestaltung, Druck und Vertrieb benötigten Materialien. Dies gehört zur Do-it-yourself-Kultur des Druckens, die direkt mit der weltweiten Geschichte künstlergeführter Galerien in den letzten vierzig Jahren zusammenhängt, aber auch mit weiteren Ausstellungs-, Musik- und Performanceräumen des Undergrounds. Die Direktheit solcher Flyergestaltung und die billige Produktionsweise sind oft aus der Not geboren, stehen jedoch im Einklang mit den angekündigten Werken. Sie verschaffen uns Einblick in die für mittellose junge Kunst- und Designschaffende verfügbaren Druckverfahren und in den Geist der in experimentellen Kunsträumen stattfindenden Veranstaltungen. Ungeachtet des völlig neuen digitalen Kon-texts, in dem die Kommunikation und der Versand von Bildern stehen, hat sich dieser Ansatz keineswegs verflüchtigt.
Vielmehr beobachte ich einen erstaunlichen Aufschwung: Solche Ephemera werden - vielleicht gerade als eigensin­nige Reaktion auf unsere digitalisierte Welt - auch weiterhin gestaltet und gedruckt. Die altmodisch wirkende Druck­technik eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, obschon sich noch nicht genau sagen lässt, worin diese bestehen oder was sie bedeuten. Gleichwohl weist aus meiner Sicht vieles in diese Richtung. Drucksachen florieren heute in der Welt des Designs und der Kunst. Sie sind äusserst relevant und schaffen Raum für grafische Experimente und den Austausch von Ideen.

David Senior ist Bibliograf an der Bibliothek des Museum of Modern Art. Er ist verantwortlich für die Sammlungsentwicklung und die Auswahl der Künstlerbücher-Sammlung. Er organisiert auch regelmässig Ausstellungen mit Exponaten aus der MoMA Bibliothek. Jüngste Ausstellungen umfassen Scenes from Zagreb: Artists' Publications of the New Art Practice (2011), Millennium Magazines (2012)-eine Ausstellung zeitgenössischer Kunstmagazine-und Please Come to the Show (2013), eine zweiteilige Ausstellung besonderer Einladungskarten und Veranstaltungsflyern aus der Ephemera-Sammlung der Bibliothek. Seine Artikel erschienen kürzlich in Frieze, Bulletins of the Serving Library, A Prior und C Magazine.

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