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TS Wir haben uns verabredet und führen ein Gespräch über deine künstlerischen Arbeiten in ihrer Entstehung - räumliche Arbeiten, fotografische Arbeiten, gedankliche Arbeiten, Übersetzungs­arbeiten, einzelne Aspekte, auf die wir im Laufe des Gesprächs genauer eingehen. Ich möchte zu Beginn aber den Ort, wo wir ­miteinander reden, in den Blick nehmen. Ein Ort, der dich schon lange begleitet, dein Atelier. Was bedeutet es für dich?

DK Mein Atelier ist hier in Zürich an einem recht urbanen Ort. Die Hohlstrasse ist stark befahren, auf der einen Seite eine Baustelle,
auf der anderen Seite die Bahngleise. Es ist ein guter Arbeitsort für mich, eine Zentrale sozusagen, von der aus ich mit der Welt interagiere.

TS Wie sieht dein Tag im Atelier aus? Gibt es viel zu denken, viel zu tun? Gibt es Phasen?

DK Ja, es gibt schon Phasen, je nach Projekt. Es gibt unterschiedliche Zustände, bei Bildern zum Beispiel. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass man zuweilen in einem Bild ertrinkt. Man kommt einfach nicht mehr aus dem Bild heraus und bleibt darin hängen wie in einem geschlossenen Bildraum. Meine Arbeitsprozesse sind recht zeitaufwendig. Ich brauche diese Zeit, auch um Sicherheit zu gewinnen, was das Bild für mich im Jahr 2017 bedeutet.

TS Wenn du morgens das Atelier betrittst, was ist dein Programm? Hast du eine bestimmte Vorstellung, wie: «Ich möchte bis
am Abend dieses oder jenes Ziel erreichen»? Oder geht es eher darum, es laufen zu lassen, den Moment auf dich zu kommen zu lassen?

DK Das Atelier ist natürlich ein Raum der Auseinandersetzung. Der Prozess beginnt eigentlich automatisch, ohne dass ich mir sage, «ich beginne jetzt». Es gibt dabei weder einen wirklichen Start noch ein Ende. Es ist alles sehr fliessend und durchlässig und manchmal auch
nicht sehr effizient.

TS Wie wichtig ist es, dass du hier lebst?

DK Es hat viele Vorteile, ich muss beispielsweise nicht zwischen Tag und Nacht unterscheiden. Es gibt Phasen, da stehe ich sehr früh auf, und es gibt wieder andere, da gehe ich früher schlafen.

TS Bis heute war ich vier, vielleicht fünf Mal zu Gast bei dir. Und jedes Mal sieht es anders aus. Einerseits nehme ich den Ort als Pro­duktionsraum wahr, ich sehe, dass hier Dinge entstehen und sich Ideen verdichten. Manchmal sehe ich leere Wände, dann gefüllte, dann wieder Testprints. Andrerseits bin ich gerade durch ein grosses Archiv gegangen und habe den Eindruck gewonnen, dass sich darin 20, vielleicht 25 Jahre deiner Arbeit manifestieren. Wie wichtig ist es, dass dich alle diese Zustände umgeben?

DK Ich lebe mit all den Bildern und Projekten wie in einem Kosmos. Diese eigene Welt wird allerdings extrem durchs Umfeld geprägt. Mir ist es wichtig, dass dieser Ort urban ist, also nahe bei den Menschen, bei der Gesellschaft. Das führt dazu, dass alles durchblutet ist, belebt, aktiv.

TS Wie stark spielt dein Inventar hier hinein? Wir sprachen einmal von deinen «Bündeln». Sie führen normalerweise hier ein sehr ­ruhiges archivarisches Leben. Du hast sie wie aus einer Zeitkapsel hervor genommen, man konnte die Aktivierung förmlich ­spüren. Es war sehr interessant zu beobachten, wie du diese Objekte gehalten und wie sorgsam du deine Worte gewählt hast.

DK Dieses Aktivieren ist eben sehr wichtig für mich. Ich vernetze teils unvorstellbare Zustände, die sich begegnen. In der Arbeit an den «Bündeln» manifestiert sich dieser Transfer, der Austausch zwischen der ewigen Leihgabe von mir als Produzentin einerseits und dem Gegenüber andrerseits. Ich habe dieses entbehrliche Kleidungsstück erhalten, transformiert und wieder zurückgegeben. Da ich den Überblick über das Wesen der ­Arbeit habe, ist es wichtig, dass sie mich physisch umgibt. Nach dem Transfer habe ich die Leute für eine Buchpublikation aufgesucht. In dem Buch ging es darum, die «Bündel» nicht einfach als Körper abzubilden. Vielmehr hat mich interessiert, wo und wie die Leute mit diesen Objekten leben.

TS Wie waren die Reaktionen?

DK Es hatte etwas extrem Selbstverständliches. Es ist ja auch eine fröhliche Arbeit, nicht wahr?

TS Du nennst sie ewige Leihgaben?

DK Ja, der Begriff vernetzt diese «Bündel» untereinander. Das war mir wichtig, ein gesellschaftliches und für alle zugängliches Projekt daraus zu machen.

TS Wenn ich mich umschaue, dort ein Foto, dort eine Skizze, hier eine Collage: Inwiefern ist dir dieses Zeigen im Atelier wichtig? Geht es um ein gemeinsames Anschauen und Reflektieren? Wie wichtig ist dir diese spezifische Situation?

DK Also heute, zwischen uns, ist das extrem wichtig. Deshalb ist die Situation im Atelier auch nicht konstruiert. Es gibt aber auch Phasen oder Gäste, wo es anders ist, wo ich es bevorzuge, nur Sachen zu zeigen, die ich schon in Museen und Galerien ausgestellt habe, und den ganz ­offenen Prozess lieber nicht miteinbinde.

TS Dort drüben sehe ich zum Beispiel eine Skizze, eine Idee, aus der möglicherweise einmal ein Werk wird. Sie hat aber jetzt schon den Charakter eines Manifests. Es ist klar, dass da etwas im Entstehen ist.

DK Die Arbeit, von der du sprichst, Nach Marathon, verhält sich sehr eigen, richtig. Sie gehört zur Werkgruppe der Fotoarchitekturen. Sie ist nicht einfach so alleine auf die Welt gekommen, sondern es gibt ein Umfeld von anderen Arbeiten, die ihr nahestehen. Daraus gewinne ich die Sicherheit, dass ich das Projekt bis 2018 fertigstellen kann. Es ist eine grössere Arbeit für einen grösseren Raum.

TS In der Sammlung des Fotomuseums haben wir ein Buchobjekt von Boris Mikhailov mit dem Titel Horizontal Pictures, Vertical ­Calendars. Es sind rund 150 lose, von ihm selbst in der Dunkelkammer vergrösserte Fotografien, die er anschliessend mit ­Blei- und Farbstift textlich ergänzt hat. Nachdem wir die Arbeit ­er­worben und die Abzüge die Schwelle des Museums überschritten hatten, wurden sie von einem Moment auf den anderen mit ­weissen Handschuhen und konservatorischer Sorgfalt betreut. Mikhailov erzählte einmal von früheren Ausstellungssituationen. Die waren meist privat, man hat zusammen gegessen, getrunken und irgendwann die Schachtel unter dem Bett hervorgeholt und die Bilder im Kreis herumgezeigt. An deiner Ateliersituation gefällt mir, dass man hier eigentlich auch alles anfassen kann,
da die Arbeit nicht abgeschlossen aussieht und es (noch) keinen fixen Zustand gibt.

DK Das ist mir sehr wichtig. Das mit den weissen Handschuhen kenne ich natürlich gut, sobald eine Arbeit in die Ausstellungshäuser und an die Öffentlichkeit geht. Aber im Atelier muss ich ganz bewusst darauf verzichten. Sonst würde mein Schaffen ziemlich absurd, nicht? Ich würde mich total von dem Prozess wegbewegen, den ich ja täglich suche.

TS Kannst du diesen Prozess vielleicht kurz beschreiben?

DK Da ist sicher einmal das Eintauchen in diese Welten hier. Also ­Bilder, Konstellationen, Formate, Ablageflächen, Höhen der Ablagen, lie­gende Bilder, Bilder, die an der Wand sind oder schräg an ein Regal angelehnt, Winkel, die entstehen...Nach intensivem Durcharbeiten und ­Verwerfen verschiedener Formate, Techniken und Filter kann ich das fer­tige Resultat am Ende künstlerisch spüren.

TS Du hast gerade die verschiedenen Zustände angesprochen. Im White Cube des Museums findet Kunst gewöhnlich an den Wänden oder auf dem Boden statt. Hier im Atelier kann sie sich viel eher in Ritzen und an Zwischenorten einnisten. Als Skizze, als kleinere oder grössere Behauptung und so weiter. Als Raum generiert das Atelier so eine Menge weiterer Optionen, die am Ende wieder zurückgebrochen werden müssen.

DK Diese Zustände sind in der Tat sehr wichtig für die Bildfindung. Es gibt ja sehr viele schöne Bilder. Aber ich suche eben diese spezifischen Bilder und für diese Findung sind genau diese Zustände extrem wichtig, diese Ritzen, die du erwähnt hast, die Durchlässigkeit oder vielleicht auch die Widersprüchlichkeit in einem Bild.

TS Du stösst in deinem Werk auf Bilder, entweder auf deine eigenen, oder solche, die du dir aneignest. Ich habe beispielsweise deine frühen Diaschauen im Kopf. Jene Bilder waren Teile von Archiven öffentlicher Bibliotheken, wo bestimmte Ordnungen gegeben ­waren und du neue Gruppierungen und Inszenierungen vorgeschlagen hast. Inwieweit musstest oder konntest du behaupten, dass dies deine Bilder waren?

DK Das hat mit der Auswahl und der Präsentation der Bilder zu tun. Du stehst in einem Raum, zum Beispiel in der Kunsthalle Basel. Du stehst im Unionssaal und hast ein Dutzend Bilder auf heruntergelassene Fens­terstoren projiziert und von draussen hört man den Verkehr. Es ist diese Verbindung, die trägt: dass du an einem Ort, in einem Raum auf un­terschiedliche Welten stösst und dies als ein Raumgefühl empfindest.

TS Inwieweit begleitet dich das gefundene Bild in deinem künst­lerischen Werk?

DK Das war eine ganz wichtige Phase. Ich kann ja eigentlich mit jeder Kamera fotografieren, nicht wahr? Als mir dies klar wurde, war das eine grosse Erleichterung. Der nächste Schritt ist, dass ein Bild durch das Einbetten in einen Kontext oder ein Projekt zu einem eigenen Bild werden kann, auch wenn es ursprünglich entliehen ist. Das war ein sehr befreiender Moment. Es ist auch wichtig, mich in dieser Bilderwelt immer wieder frei zu bewegen. Ich möchte immer drum herumschauen, um die Ästhetik, um die Schönheit herum.

TS Damit du die Schönheit überwinden kannst?

DK Die geniesse ich ja ohnehin schon.

TS Aber du möchtest sie hinter dir lassen, durchdringen?

DK Ja, damit wird sie dann schon sehr spannend, die Schönheit. Die Realität ist einfach schön, nicht? Also zum Beispiel heute: das Wetter, der Schnee. Das ist so ein extrem schöner Zustand, da hat es ein schönes Foto neben der Wirklichkeit für mich relativ schwer. Ich gehe zum Beispiel lieber in den Wald, als dass ich den Wald fotografieren ­würde. Fotografie ist so oder so nur scheinbar ein Abbild der Realität.

TS Ich schlage einmal den Bogen zu den Collagen. Überall redet man heute darüber, dass das Ende der Tageszeitungen unmittelbar bevorstehe. Ich fand es sehr interessant, wie die Collagen von Tageszeitungen mit Bildern von Konferenzen bei dir in Boxen verstaut und je einzeln in Pergaminpapier gehüllt sind und wie im Grunde genommen jedes dieser Papiere - die Hülle, die Box und auch das Papier - ein eigenes Geräusch hat.

DK Ja, es ist schon so, dass diese Collagen alle zusammen über Jahre hinweg nicht nur einen visuellen, sondern auch einen akustischen Raum beschreiben. Es kommen alle diese Reden, diese Versprechen von Staatsleuten mit ihren Selbstinszenierungen vor. Und dieser akustische Raum hat mich dazu bewegt, die Sammlung immer weiter fortzusetzen. Damit die Stimmen kräftiger werden.

TS Du sagst diese Reden verfolgen dich, weil es sie immer geben wird. Das hat etwas Unendliches. Gibt es für dich den Moment in einer Ausstellung oder Publikation, in dem du sagst: «Okay, jetzt kann ich etwas abschliessen»?

DK Montag bis Sonntag oder Libi, die Reihe mit der Wiese und den Kriegsbildern, sind beide offene und umfangreiche Serien, die bei mir ­einfach weitergehen. Es gibt keine zeitliche Begrenzung. Es sind auch Zustände, mit denen wir immerfort leben.

TS Das Prinzip der Menge ist ja etwas, mit dem du auch in vielen ­deiner anderen Arbeiten spielst. Wie wichtig ist dir dieses Mehrteilige? Da steckt eine gewisse Nichteindeutigkeit dahinter.

DK Auch Donat Lima Ohio ist eine sehr umfangreiche Serie. Das sind unglaublich viele Bilder und es geht mir darum, dass das Bilder­gedächtnis beim Betrachten des gesamten Werks an eine Grenze stösst. Man schaut sich das ganze Werk an, schaut weg und kann sich nicht mehr an alle ­Bilder erinnern, weil es so viele sind. Dieses Gefühl der Überfor­derung ist wichtig.

TS In der Ausstellung «This Infinite World - Set 10» haben wir im Fotomuseum Winterthur deine 123-teilige Serie Nachtkaffee gezeigt. Du hast die Serie 2010 in Kairo aufgenommen. Vielleicht kannst du kurz erklären, wie du zu diesen Bildern gekommen bist? Du hast sie dort fotografiert und auch vor Ort entwickelt.

DK Ich hatte das Glück, für drei Monate dieses Atelier im Zentrum Kairos in der Nähe des Tahrir-Platzes zur Verfügung zu haben. Innerhalb desselben Hauses habe ich dann auch mehrmals die Etage gewechselt, wir konnten zum Glück in eine grössere Wohnung umziehen. Als ich nach Kairo ging, hatte ich eigentlich nichts Konkretes vor. Ich hatte keinerlei Programm, ich konnte keine Wünsche formulieren und es war extrem gut, sich einfach hinzusetzen und Kaffee zu trinken. Das war meine Ausgangslage und mit der Zeit wurde mir klar, dass ich als Frau auf der Strasse ­sicherlich keine Bilder machen konnte. Also begann ich im Haus zu fotografieren, zu jeder Tages- und Nachtzeit, von innen nach aussen. Dabei habe ich mir natürlich Gedanken über meine eigene Situation im Haus gemacht. Die Traditionen spielten hinein, ich habe überall dort fotografiert, wo es mir auch wohl war. Eben: im Atelier nach aussen. Und das gab mir einen gewissen Rhythmus. Alle drei Tage ging ich in einer Art Ritual ins Fotolabor und habe wieder ein paar neue Bilder entwickelt. Mit der Zeit hat auch die Verständigung besser geklappt, weil ich ja immer dasselbe wollte. So sind die verschiedenen Prints der Serien alle zusammen entstanden: Frühstücksgasse, Nachtkaffee und Cinéma Odeon. Erst nach meiner Rückkehr habe ich gemerkt, dass es spannend ist, diese umfangreiche Bildersammlung in drei Bereiche aufzuteilen. Also der Blick auf die Frühstücksgasse, wo die Männer frühstücken; das Nachtkaffee, diese Verwandlung von einer Garage zum Nachtkaffee; und schliesslich über die Dächer auf die Fassade zum Kino Odeon. Ich war selbst überrascht, wie oft ich dies fotografiert hatte. Ich war fasziniert von den Dächern, wie sich das Leben dort verselbständigt, dieses ewige Bauen, überall wohnen Menschen und...

TS ...der Staub.

DK Genau. Das Zurückgehen in die Architektur war für mich ein ­wichtiger Gedanke, auch in diesem Kleinformat. Ich hätte die Bilder ja auch grösser machen können, aber es macht eben keinen Sinn, da ich vielmehr eine architektonische Situation konstruiere. Auch bei der Publika­tion ­empfinde ich diesen Körper als einen konstruierten, schweren Körper. Das Buch steht förmlich und hat Stabilität.

TS Du bearbeitest zwei umfangreiche Genres. Einerseits spielt die Landschaft eine Rolle, dann aber auch die Architektur, wie in Kairo oder bei der Serie Die Stadt.

DK Die Filmkulissen waren ausschlaggebend für Die Stadt. Diese Instabilität und die Illusionsarchitektur haben mich interessiert. Diese ­Häuser, in denen man ja nicht wirklich leben kann. Sie erwecken nur den Anschein, dass da etwas ist. Im Lauf des Arbeitsprozesses wurde die Landschaft immer wichtiger. In der Serie, die gerade im Aargauer Kunsthaus zu sehen ist, sind immer angeschnittene Architekturen und auf
der anderen Seite die Wüste zu sehen - das Ausbluten der Architektur in die Wüste. Durch senkrechtes Licht wird auch die Durchlässigkeit der Oberfläche - die durchlässigen Ritzen oder die durch Verwitterung entstandenen Luken - sehr schön sichtbar. Die Bilder sind alle möglichst schattenlos um 12 Uhr mittags fotografiert. Die Landschaft kam später dazu, als Teil der Kulisse. Bei den Filmkulissen gibt es ja dieses Bild aus Potsdam, Babelsberg, diesen Kartonberg. Das war ein ganz wichtiges Bild, weil es mir ermöglichte, eine Stadt zu bauen, hinter einem Berg, die auf eigene Weise eine Dimension erhält. Ich habe eine Schwäche für Architekturen, die keine Funktion erfüllen. Musterbauten, zum Beispiel bei Bau­stellen. Da muss ich natürlich stehenbleiben, auch weil sie uns etwas vortäuschen und dies für die Kamera ein sehr spannender Moment ist.

TS Nochmals zurück zu den Kairo-Arbeiten. Beide Situationen, das Ausstellen 2014 wie die Publikation 2016, finden streng genommen nach dem arabischen Frühling statt. Du selbst warst ein Jahr zuvor dort. Hat die Revolution irgendetwas mit den Bildern gemacht oder mit den Voraussetzungen, unter denen sie gelesen werden?

DK Es ist natürlich unser Wissen darum, um diese Stadt, um den Frühling. 2009 hatte ich ein anderes Wissen als heute und wenn ich Bilder anschaue oder andere Menschen Bilder anschauen, verwenden wir un­sere Kompetenz und projizieren unser Wissen in diese Bilder. Oder wir tragen unsere Emotionen mit hinein, wenn wir sie anschauen. Beim Buch ­kamen ja Gespräche über die jeweiligen Orte mit Leuten hinzu, die dort in den Strassen leben. Die Stimmen sprechen über die Bilder, erzählen sie berührt und was sich verändert hat. Das war ganz stark ein Bedürfnis aus dem Jahr 2015, also nach der Ausstellung im Fotomuseum. Aber diese Audiogeschichte gehörte 2009 noch nicht zu meinem konzeptuellen Repertoire. Erst durch die Distanz haben sich diese Strassengeräusche herauskristallisiert, bis hin zu Einzelgesprächen.

TS Die gab es ja in anderer Form bereits 2010 in der Publikation Die Kairo-Übersetzung. Darin gab es zwölf unterschiedliche Erzählungen, die auf deine fotografische Stimme reagiert haben. Das ­Ganze wurde von dir zu einer gemeinsamen Aussage amalgamiert.

DK Ja, das ist so. Es gab einen Treffpunkt bei einem Blumenhändler, da sind immer ein paar Leute zusammengekommen. Diese Arbeit ist eigentlich auf der Strasse entstanden. Die Leute haben sich ein Foto ausgewählt und einen handschriftlichen Text geschrieben. Man sieht den Texten an, wie verschieden sie sind oder wie unterschiedlich erzählerisch sie sind. Zum Beispiel ist ganz stark zu spüren, dass die Traumwelt beim Betrachten von Fotografien eine grosse Rolle spielt.

TS War dir damals schon bewusst, dass darin das Potenzial für eine Publikation steckt?

DK Ja, schon. Kurz vor meiner Abreise wusste ich, dass diese handschriftlichen Texte und die zwölf Fotografien gemeinsam eine Arbeit ­bilden. Nur dank einem guten Freund, Mahmoud Hanafy, konnte diese ­Arbeit in Kairo und der ganze Transfer der Fotografien bis in die Schweiz ­abgeschlossen werden. Das war alles hoch kompliziert, bis die Publikation schliesslich ankam.

TS Die Kairo-Übersetzung beinhaltet zwölf Fotografien und handschriftliche arabische Notizen, es gibt deutsche und englische Übersetzungen dazu. Auf diese Weise entsteht ein Dreieck zwischen den Sprachen. Es geht wie in vielen deiner Projekte um ­Differenz und Bedeutung im Bereich der Sprache.

DK Richtig, ich hatte den Wunsch, an einen Ort zu gehen, wo ich fremd bin. Das war die Ausgangslage. Ich wollte an einen Ort gehen, wo ich die Sprache nicht lesen kann. Also die Zahlen schon, und «Guten Morgen» und «Guten Abend» konnte ich auch sagen. Ich wollte mich auf eine andere Ebene begeben, fern der Gewohnheit, in der ich sonst lebe.

TS Könnte dies erklären, warum sich der dreimonatige Aufenthalt
als derart produktiv erwies?

DK Ja, durch das Arbeiten entstehen bei mir automatisch - so wie die Gespräche zum Buch zustandekamen - wieder neue Beziehungen: etwa zur Sprachwissenschaftlerin und Autorin Nevine Fayek, mit der ich unterdessen auch einen Bildwechsel unterhalte. Das ist das eine. Das andere sind die Tagesaktualitäten, die uns ja alle extrem beschäftigen. In der neusten Arbeit, Hotel Pyramid, kommt zum Beispiel eine Schminkszene an ­einem Kindergeburtstag in einem Hotel in einer Satellitenstadt Kairos vor. Diese Kinderschminkszene hat für mich an Bedeutung gewonnen.
Vor ­allem durch diese medial öffentlich zugänglichen Bilder von Kindern in Syrien. Diese aussichtslosen Situationen. Was sich in letzter Zeit auf der Welt ereignet, hat gewiss auch meine Arbeit beeinflusst. Ich mag zum Beispiel diesen inneren Blick des Kindes auf sich selbst. Es hat die Augen ­konzentriert geschlossen. Es gibt sich dem Stift hin, der über die weiss geschminkte Haut fährt. Da geht es auch um den Kontrast zu einer ande-ren fotografischen Medienwelt, mit der wir permanent konfrontiert sind. Ein Geburtstagsfest dauert in Ägypten normalerweise nicht nur eine ­Stunde, sondern man verbringt einen ganzen Tag in diesem Hotel. Diese gemeinsame Zeit ist in dem Bild spürbar. Es ist vielleicht ein ergänzendes Bild zu den gängigen Medienbildern und es kann nur bestehen, weil es arhythmisch ist oder gegen den Rhythmus der Medien tickt. Erst durch diese Ruhe kann es sich einen Platz als Kontrapunkt zu den Medien erobern, die ja viel zügiger sind.

TS Jetzt steht dieses Bild demnächst im Zentrum einer Tagung, die du mit vorbereitest?

DK Richtig, ich habe schon in ganz verschiedenen Konstellationen Übersetzungsarbeiten gemacht und habe auch schon in Basel und
vor zwei Jahren in Zürich ein kleineres Symposium organisiert. Das war unglaublich spannend und alle waren sehr interessiert, denn Überset-
zer und Übersetzerinnen arbeiten oft alleine und geniessen es, wenn sie sich über ihre Erfahrungen austauschen können. Die Beschreibung
ihrer Sicht ist jeweils sehr spannend. Es gibt ja nun schon einige Übersetzungsarbeiten von mir, da trifft es sich eigentlich gut, in diesem Jahr ­dieses Übersetzertreffen zu machen.

TS Welche Rolle kommt den Übersetzerinnen und Übersetzern bei «In and Out of Translation» zu? Sind sie Gäste deines Sympo­siums, treten sie als Teilnehmende, als Mitstreitende oder vielleicht als Mitautorinnen und Mitautoren auf?

DK Sie sind ganz klar Teil dieser Übersetzungsarbeiten und damit ­Autoren und Autorinnen. Wenn sie beispielsweise in einem Projekt eingebunden sind, wie bei den rätoromanischen Übersetzungen, wird es na­türlich sehr spezifisch. Sie haben einen Text, der sie verbindet. Bei diesem Symposium gibt es auch die Transkription, da geht es wirklich um Begriffe, darum, wie etwas gemeint ist, um den drohenden Verlust des Rätoromanischen, um die Übernahme der Wörter in die Gegenwart usw.
Das nächste Mal wird es sicher anders werden, viel breiter angelegt, weil es Gespräche über alle Übersetzungsprojekte geben wird, die ich bis ­heute gemacht habe.

TS Warum interessierst du dich so sehr für das Wort?
DK Die Frage beginnt ja schon bei den Titeln der Bilder. Die werden ja oft nicht übersetzt, weil sie nicht übersetzbar sind. Das sind spannende Momente, wenn eine Übersetzerin sagt, «Das kann ich nicht übersetzen».

TS Oder es nicht übersetzen möchte.
DK In solchen Momenten kommt die Sprache an eine Grenze und das Bild auch. Wenn beispielsweise davon die Rede ist, wie etwas gemeint ist. Es wird übersetzt und auch noch beschrieben, wie es gemeint ist. Bei juristischen Prozessen spürt man deutlich, wenn es um etwas Existenzielles geht. «Darfst du im Land bleiben oder nicht?» Häufig arbeiten ­Übersetzerinnen und Übersetzer in Gruppen, weil sie auf das Echo von anderen angewiesen sind.

TS Wir haben bei Frühstücksgasse damals relativ viel Zeit damit verbracht, über das Volumen an der Wand nachzudenken, über ­Lichtführung, Blickrichtung, darüber, wie der Raum beschritten wird, und so weiter. Das waren wichtige Fragen rund um die ­Wandinstallation, die wir damals besprochen haben. Für die Publikation, beim Bücher machen gibt es sicherlich andere Gesetzmässigkeiten.

DK Das sind ja zwei sehr unterschiedliche Formate. Im Raum ist man auf der Augenhöhe eines Menschen und damit einfach nahe dran. Bei ­eurer Installation war es jedoch so, dass die obersten Bilder auf fast vier Meter Höhe hingen. Das heisst, dass man sie in diesem kleinen Format ­anders sieht, aus einem anderen Winkel und weiter weg. Es ist im Raum extrem spannend, ein gezoomtes Bild in einer höheren Situation zu zeigen und damit eine neue räumliche Vermessung in die Inszenierung hin­einzubringen. Im Buch verhält es sich anders. Dort ist man eigentlich ­immer gleich nahe dran, ob man das Buch nun auf den Tisch legt oder in der Hand hält.

TS Das sind aber bereits zwei Zustände. Das Buch liegt auf dem Tisch: passiv. Ich habe es in der Hand: aktiv.

DK Ich könnte noch ergänzen: Wo schlage ich es auf? Welche Position nehme ich ein? Ein Buch hat eine bestimmte Seitenfolge. Und die Mitte ­eines Buchs hat Auswirkungen auf die Bildfolge. Im Künstlerheft Die Kairo-Übersetzung wird dies sichtbar.

TS Die drei Bücher (Frühstücksgasse, Nachtkaffee, Cinéma Odeon) im Schuber kommen ja fast ohne Texte aus. Die Tonspur, die man im Internet abrufen kann, interessiert mich bei diesem Projekt. Welche Rolle spielt sie? Ich finde den Versuch interessant, den Appendix, der in solchen Publikationen norma­lerweise vorne oder hinten steht, zu umgehen. Es ist schön, dass es eine andere erzählerische Form als die Schriftsprache gibt, mit welcher Menschen auf Bilder reagieren.

DK Es gibt ja unterschiedliche Gespräche. Deines und auch meines kommen aus einer ähnlichen Perspektive, nämlich aus der Situation eines mit Fotografie arbeitenden Menschen. Es gibt aber auch Gesprächspartner, die es nicht gewohnt sind, Fotografien und Bilder anzuschauen. Das ist für mich auch sehr wichtig: die Bilder loszulösen von Kunst und Fotografie. Daraus sind jetzt zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Betrachtungen geworden. Die Webseite war immer dreisprachig angedacht. Die englische und die arabische Version sind gerade in Pro­duktion. Das braucht Zeit und wird jetzt gerade vor Ort in Kairo gemacht. Die Idee eines Bildbandes war für den Verleger Georg Rutishauser und mich sehr wichtig. Nicht zuletzt dank ihm konnte die Serie Cinéma Odeon im Bildband Kairo dazugenommen werden. Uns verbindet schon seit ­Längerem eine enge Zusammenarbeit, deshalb konnten wir dieses Buchprojekt auch so realisieren.

TS Deine Übersetzungsprojekte der letzten 15 Jahre werden bei ­diesem Symposium auch wieder zusammengefasst. Das Buch
mit der Tonspur wird dann auch in Kairo vorgestellt, richtig? Das heisst, es gibt weitere Gespräche?

DK So ist es.

TS Wie ist es zu deiner Zusammenarbeit mit Nadine Olonetzky gekommen? Bei der Publikation bergen, die bei The Green Box ­veröffentlicht wurde, verbinden sich zwei parallele Stränge - ihre ­autobiografische Geschichte und deine Arbeit, nicht?

DK Es war so, dass wir uns schon vorher oft gesprochen haben, etwa an Vernissagen. Ich habe sie dann einmal ins Atelier eingeladen. Es war Sommer, so hatten wir etwas Zeit. Ich hatte gerade mit bergen begonnen und sie reagierte sehr emotional auf meine Arbeit. Sie selbst hatte zuvor schon einen Text über ihren Vater geschrieben. Ich fand das aussergewöhnlich, ein Ateliergast, der so persönlich auf meine Fotografie rea­gierte. Dann ist fast ein Jahr vergangen und ich habe die bergen-Arbeit fertig vergrössert. Als Marco Walser ins Atelier kam und die Bilder sah, meinte er: «Das gäbe auch noch ein schönes Buch.» Ich habe ihm dann erzählt, dass es vielleicht eine Möglichkeit wäre, Nadines Atelierbesuch von vor einem Jahr noch einmal aufzugreifen. Ich wusste eigentlich bereits bevor ich sie anfragte, dass ich unbedingt wollte, dass sie zusagt. Ich war total nervös, weil ich keine Alternative hatte. Ich wünschte mir das plötzlich ­extrem, obwohl ein Jahr dazwischen lag. Und dann hat sie zugesagt und so wurden dieser Text und diese Bildwelten ineinander verwoben. Ich fand es spannend, dass ein Atelierbesuch eine so starke Auswirkung haben kann. Es hat mir wirklich keine Ruhe gelassen, diese Trümmerberge einer Autobiografie zum Sprechen zu bringen. Es war ein Projekt, das einfach so geflossen ist.

TS Und wie gehst du mit Widerständen um, wenn mal etwas nicht fliesst?

DK Ach, gute Frage. Ich bin konfliktunfähig und versuche sicher, sie mit Genauigkeit anzugehen.

TS Mit harter Arbeit?

DK Mit Genauigkeit, mit genauen Fragen oder Rückfragen oder Präzision. Das Vergessen liegt mir nicht so.

TS Es gibt bei Publikationen normalerweise einen Rahmen mit klaren technischen Vorgaben: Format, Bindung, Technik und so weiter. Bei vielen deiner Publikationen verwendest du Inserts, kleinere Einschübe, andere Bindungsversionen. Immer leicht neben der Norm. Ich habe den Eindruck, dass dadurch deine ­Druckobjekte erst richtig zum Leben erwachen?

DK Du kannst natürlich mit einem Insert auch das Umfeld stärken, ­indem du genau diesen Raum zwischen Seite 6 und 7 markierst.
Es gibt dort zwar keine Seitenzahl aber es gibt diesen Raum. Ich kann das Vorhandene so stärker sichtbar und deutlich spürbar machen.

TS Auch bei Ar & Or gibt es Inserts - ein Bild, ein Motiv - das von fünf verschiedenen Druckereien unterschiedlich produziert und von dir anschliessend eingeschoben wurde. Auch hier wieder die Situa­tion, dass es bei fünf Bildern kein erkennbares Urbild gibt. Fünf ­Zustände und die Betrachter können bei keinem sagen, dass dies oder jenes die richtige Übersetzung ist. Inwieweit sind diese ­kleinen Differenzen für dich wichtig?

DK Dass es sich so verhält, ist das Spannende an der Fotografie. Mit der Zeit macht sie farblich einen extremen Altersschub durch. Alle fürchten sich davor, aber ich empfinde das als Chance für dieses Medium. Alles ist lebendig, das Papier ist lebendig, die Farben sind lebendig und verändern sich. Das ist für mich ein Zeichen von Vitalität.

TS Auf das Insert müssen wir vielleicht nochmals kurz zu sprechen kommen. Was wäre deine Idee, beispielsweise beim Bild
dieses Kindes, das sich mit weisser Farbe geschminkt in diese Publi­kation hineinschneidet? Schmiegt es sich an, bildet es
einen Kontrapunkt? Was macht das gefaltete Bild?

DK Die Faltung ist ein extrem spannendes Moment. Es gibt eine Leserichtung von hinten nach vorne und umgekehrt: Von vorne gesehen ist es das Kind und von hinten der Jugendliche. Das ist spannend, wie sich das Bild durch diese zwei Falze gliedert. Ebenso wie die Möglichkeit, dass ein Bild losgelöst sein kann von einem Körper. Eine schöne Freiheit für ein Bild, nicht? Du kannst es zum Beispiel in ein anderes Buch schieben, einen ­neuen Kontext finden. Vielleicht liest du ein Buch und benutzt es als Lesezeichen. Das Bild nimmt sich sehr viele künstlerische Freiheiten.

TS Man könnte auch sagen: die Freiheit der Prozesse. Die Zusammenarbeit, die du anstrebst, das Übersetzen von Texten, von denen du nicht weisst, was sie bedeuten...Das alles hat mit Vertrauen und mit Zutrauen zu tun. Es scheint mir eine Grundhaltung zu sein, dass bestimmte Dinge einfach auch sein oder werden dürfen; dass nicht alles unter deiner finalen Kontrolle stattfindet; dass du auch diese Momente mit kreierst und diese Möglichkeiten eröffnest.

DK Ja, aus dieser Haltung heraus entsteht meine Arbeit.

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Daniela Keiser