Skip to main content

Konrad Tobler Der « Schwarze Raum » ist ein Motiv, eine Vorstellung,
die Ihr Werk durchzieht. Im September 2007 wird auf Burg Hohenklingen
bei Stein am Rhein ein weiterer solcher Raum eröffnet, der eine ständige
Installation sein wird. Wie sieht er aus?

Rudolf Blättler Es gibt Leute, die den Raum bereits als « Angstloch »
bezeichnen. Das ist ganz in meinem Sinn: Man muss in einem ehemaligen
Gefängnisturm durch die Enge einer Luke gehen, in die Finsternis steigen
und in die Tiefe eines Loches, des ehemaligen Verlieses, schauen. Dort
zeigt sich - oder es erscheint - auf dem Boden nach und nach ein grosses
Gesicht. Es ist so beleuchtet, dass es in einer Art Schwebezustand ist. Man
sollte das Gefühl haben, es komme aus der Erde heraus - oder umgekehrt: Es
versinke in der Finsternis des Bodens. Es ist eine Installation, die mit
wenig Licht arbeitet. Der Betrachter muss sich Zeit nehmen, bis er das
Gesicht selbst gesehen, erschaffen, ergründet hat.

KT Es wird so sein wie in der Nacht oder in der Dämmerung, wenn
die Gegenstände erst nach und nach Konturen erhalten.

RB Das ist mein Ziel. Und das Gesicht wird von Osten nach Westen
schauen, wie das bei anderen Gesichtern der Fall ist, die ich in die
Landschaft setzte.

KT Weswegen ist diese Ausrichtung für Sie entscheidend?

RB Für mich ist das Erlebnis von Sonnenauf- und -untergang zentral.
Vermutlich hängt das mit meiner Jugend zusammen: Ich schaute während der
ersten zwanzig Jahre meines Lebens von meinem Zimmer aus über den Vierwaldstättersee
immer gegen Sonnenuntergang. Für mich ist diese Verortung
wichtig. Bereits vor vielen Jahren wusste ich, dass das so sein muss.

KT Das Gesicht schaut von Morgen gegen Abend. Bedeutet das auch:
von der Geburt zum Tod?

RB Diese Idee war in meiner Arbeit immer vorhanden, ohne dass ich
sie benennen würde...

KT ... und sie bildet eine Analogie zum rein optischen Aufscheinen
und Verschwinden.

RB Genau das konnte ich 2004 im Kunstmuseum Luzern mit dem
«Schwarzen Haus II» sehr konkret realisieren. Ich schuf dafür eine riesige
Skulptur und liess sie in die absolute Finsternis, in die absolute Nacht
verschwinden - um sie dann durch einen schwachen Lichtschein wieder
erscheinen zu lassen.

KT Wie wichtig ist für Sie der Begriff der Angst?

RB Das ist ein Gefühl, das für mich seit meiner Kindheit existen-
ziell ist. Ich habe es immer wieder thematisiert - eben weil es wohl für
jeden Menschen zentral ist.

KT Gehen wir von der Angst zur Enge und zum Gefängnis. Wie wichtig
ist Ihnen diese Metapher?

RB Sie ist unmittelbar mit Geburt und Tod verbunden. Der Gefangene
imaginiert nichts mehr als das volle Leben - und ist jeden Tag mit dem
Ende konfrontiert. Wenn ich in das fi nstere Loch hinunterschaue, dann
hat auch das für mich mit Primärerlebnissen zu tun: mit der Tiefe des
Vierwaldstättersees. Es ist eines jener Gefühle, die man oft verdrängt,
die aber für das ganze Leben zentral und prägend sind. Um das zu erklären,
muss ich etwas ausholen: Mein Vater war von Beruf Fischer. Wenn ich mit
ihm auf dem See war, holten wir die Netze aus der Tiefe hervor, zwanzig
bis dreissig Meter waren das. Ich sass im Heck, und der Vater holte sie
heraus - dann schaute ich den Netzen entlang nach untern, bis dorthin, wo
für mich die Unendlichkeit begann. Und wo der Tod ist. Dorther wurden die
Fische hervorgezogen, und sie wurden immer grösser. Damit verband sich
noch etwas anderes: Der Tod der Fische war unser Leben.

KT Das Aufscheinen der schimmernden Fischleiber war sicher ein
starkes visuelles Erlebnis.

RB Dazu kommt ein anderes Bild: Neben der Fischerei betrieben wir
noch etwas Landwirtschaft, nur mit zwei Kühen. Jedes Jahr kamen Kälber
zur Welt. Ich vergesse nie, wie aus der Tiefe der Kuh ein neues Leben
herauskam. Manchmal waren die Kälber auch bereits tot. Der Schrecken,
dass sie da herauskamen - während für uns Kinder die kleinen Kinder aus
einem grossen Stein hoch oben am Berg herauskamen. Der Schrecken, dass
sie vielleicht tot waren: Ein unglaubliches Geschehen, die Geburt eines
Kalbes. Man spürte ja auch die Aufregung der Eltern, die bangten, ob die
Kuh überleben würde. All das ist für mich mit der Tiefe verbunden. Auch
die Gefahr des Sees. Er war das Element, das die Kinder holte. Zudem hatte
er am Ufer entlang Untiefen, Felsen und Steinbrocken. Das war eine grosse
Gefahr für das Fischerboot. Wenn man nahe heranfuhr, sah man sie liegen,
und der Vater befahl, wegzufahren, weil sonst der Propeller gebrochen
wäre. Das waren jedoch mehr als reelle Gefahren, es waren Bilder, die
mich in den Träumen verfolgten: diese Steine, die immer wieder im Wasser
ertranken. Das alles bedeutet für mich Tiefe.

KT Es ist eine doppeldeutige Tiefe. Es ist eine Tiefe, die nicht
zuerst einmal von Bedeutung getragen wird, sondern vor allem räumlich ist.
RB Das Ambivalente daran ist mir wichtig. Wir wussten um die Gefahr
der Wassertiefe. Mit dem Wasser ist nicht zu spassen. Das prägte meinen
Vater, der als richtiger Fischer nicht einmal schwimmen konnte. Es gab
damals noch keine Schwimmwesten. Also hatten die Fischer nur die Angst.

KT Gehen wir von der inhaltlichen Ebene - der « Schwarze Raum », das
Loch, der Angstraum - zur formalen: Ist der « Schwarze Raum » eine Skulptur?

RB Er ist primär Architektur. Aber im Moment, da man in den
Raum hineingeht, ist man in einer Urnacht. Man weiss nicht mehr, wo man
ist. Es könnte in der Mutter sein, es könnte im Weltraum sein. Es ist
ein faszinierender Ort, an dem sich Angst und Utopie, Rätsel und Orientierungslosigkeit
vereinen.

KT Man könnte diese Räume als Kunstform sehen, die durch die
« individuellen Mythologien » defi nierbar wäre, jenen Begriff, den Harald
Szeemann 1972 für die Documenta V prägte.
RB Jede individuelle Mythologie wird auch zu einer allgemeinen. Ja,
es stimmt: Ich arbeite aus dieser Zeit hinaus. 1972 machte ich das erste
Mal ein Gesicht, das aus der Erde hinauswächst, das von einer gewaltigen
Kraft durch die Erdhaut hinausgedrückt wird. Es ist eine Arbeit, die für
mich bis heute wichtig ist - wie ein Baum, der aus der Erde wächst. Oder
wie ein Vulkan, der aufbricht. 1974 entwarf ich Projekte, bei denen ich
Räume bis zu 20 Meter in den Boden hinein bauen wollte. Unten am Boden
waren menschliche Gestalten. Ich liess den Menschen einfach in den Boden,
in die Tiefe hinein fallen. 1975 dann waren meine Frau, die Malerin und
Zeichnerin Marie-Therese Amici, und ich in Amerika. Ich bestieg den Vulkan
Ubinas in Peru, ich schaute in den Krater hinein.

KT Hiess das, mit den Augen hinunterstürzen?

RB Bereits beim Aufstieg durchstieg man eine Gefahrenzone. Dann
stand man am Rand des Kraters. Und sah in ein Loch, das 400 Meter tief ist.
Man sah, wie es unten brodelte. Man roch es. Plötzlich wurde mir bewusst,
dass ich auf einer Schneewächte stand, um überhaupt hinunterschauen
zu können. Wenn sie rutscht, ist man weg und verschwunden. So war auf
diesem Vulkan vieles verbunden: der Zwang, überhaupt hinaufzugehen und
hinunterzuschauen, die Angst, die Faszination, der Schwindel, der Sog...

KT ... ein verschlingender Schlund...

RB ... eine absolute Gefahr. Zumal meine Frau, die zurückgeblieben
war, damals schwanger war. So waren Leben und Tod, Freude und schwindelnder
Schrecken ganz nahe verbunden.

KT In jener Zeit entstanden die « utopischen Projekte ». Welche
Dimensionen hatten diese Räume - auch wenn diese Projekte bisher nur im
Modell existieren?

RB Eines jener Projekte heisst « Monument an die Erde ». Es war eine
Verneigung an die Erde. Das ist ein Kubus, der 99 Meter hoch ist. Wenn ich
ihn verwirklichen könnte, müsste er mitten in der Wüste stehen, so dass
man ein paar Tage zu Fuss hätte, um dorthin zu gelangen.

KT Er hätte die Ausmasse einer Pyramide?

RB Er ist einfach masslos gross, vielleicht sogar vermessen. Der
Aufstieg erfolgt über eine Treppe, die nur 2,5 Meter breit ist und deren
Stufen 70 Zentimeter hoch sind. Ein Geländer hat es nicht. Von der oberen
Fläche geht eine Treppe in einen inneren Kubus, der seinerseits 25 Meter
in die Tiefe reicht. Auf seinem Grund liegt ein Gesicht, das 40 auf 40
Meter misst. Es hat Augenhöhlen und einen Mundschlund, die zehn Meter in
die Tiefe gehen. Die eine Gefahr folgt so auf die andere.

KT Weswegen heissen diese Räume « utopisch? Der Begriff der Utopie
meint ja meistens etwas, was- verbunden mit einer positiven Vorstellung
- in die Zukunft gerichtet ist. Sie brauchen den Begriff eher im engen
Wortsinn als ?Nicht- oder Un-Ort ».

RB Beides ist gemeint. Es könnte realisiert werden. Man müsste
jemanden fi nden, der das fi nanziert. Wichtiger ist mir aber die Vorstellung,
dass das ein Sehnsuchtsort ist.

KT Eine Art Kaaba, ein sakraler Ort?

RB Das ist allein durch die Hinreise, durch die Lage mitten in der
Wüste gegeben. Aber mit Religion hat das nichts zu tun. Es sind Erfahrungsund
Erlebnisräume. Wer sie betritt, nimmt etwas mit, gewinnt etwas für
sein Leben - wie ein Bergsteiger, der auf den Mont Blanc klettert.

KT Das Sakrale, « Monument an die Erde », Mutter Erde, das « Weib »:
In Ihrem Werk spielt die Weiblichkeit eine zentrale Rolle. Wie stark ist
das mit Ihrer katholischen Herkunft verbunden?
RB Das ist ein heikles Thema, ja. Ich bin katholisch erzogen worden,
habe mich aber davon gelöst - auch wenn man diese Prägung bis zu
seinem Tod weiter trägt. Das ist wie mit allen Urerfahrungen, die man als
Kind machte. Für mich ist es klar, dass mythologische Bilder, eben weil sie
archetypische Zeichen sind, einen grossen Wahrheitsgehalt in sich tragen.
Und dass wir ihnen nicht entrinnen können. Auch der See, von dem ich
erzählt habe, war für mich die grosse Mutter, die mich wieder holen wollte
oder hätte holen können. Wir leben viel mehr mit archetypischen Bildern,
als wir denken. Wir kommen nicht um sie herum - vor allem dann, wenn sie
auch noch einen Realgrund haben: Als ich fünfjährig war, holte mich der See
wirklich einmal. Ich fi el vom Bootssteg ins Wasser. Erst im letzten Moment
konnte mich mein Vater herausfi schen. Das ist ein starkes Bild geblieben.

KT In Ihrem Werk ist es auffällig, wie intensiv Sie immer wieder
bei Ähnlichem ansetzen. Ihr Antrieb und Anspruch, sagten Sie einmal, sei
es, dass die Figuren « stark » sein müssten. Haben Sie das Gefühl, das
noch nicht erreicht zu haben? Sind Sie also, weil Sie den Anspruch des
Archetypischen so ernst nehmen, ein Wiederholungstäter?

RB Jeder Künstler ist ein Wiederholungstäter - weil er letztlich
aus dem Zweifel heraus weiter arbeitet, aus der Idee, eine andere Seite
herauszuarbeiten, einen neuen Kick geben zu können. Das ist auch das
Schöpferische des Künstlers: nicht zufrieden zu sein mit dem, was da ist.
Es ist zugleich ein Zeugungsakt. Oder anders gesagt: Weswegen gehen wir
immer wieder zur Frau, obwohl wir auch kürzlich bei ihr waren? Das ist
eigentlich dasselbe - und endet ja nie. Es ist das Gesetz der Natur. Und
so ist es auch das Gesetz der Bildhauerei oder der Malerei. Es muss sich
ständig repetieren. Sonst gäbe es schon lange keine Kunst mehr, keine
neuen Werke. Es ist ein Trieb, der einen beherrscht. Und von tief innen
kommt wohl auch die Angst, noch nicht genügt zu haben, der Wille, eine noch
stärkere Skulptur zu machen. Eine, die noch mehr an und in sich hat.

KT Wie gross ist der Anteil der Lust an der Arbeit?

RB Letztlich ist wenig Lust dabei. Es ist ein ewiges Anrennen,
eine Sisyphusarbeit. Man muss ständig entscheiden, zugleich alles in Frage
stellen und den nächsten Schritt machen und wagen. Nein, Lust ist nicht
dabei. Ich muss da einfach hindurch. Aber wenn das Werk fertig ist, ist
die Erleichterung gross. Und auch die Ruhe - für kurze Zeit.

KT Am deutlichsten, scheint mir, wird dieser Zwang zur Entscheidung
in Ihren Tuschebildern, wo die Arbeit rein aus technischen Gründen rasch
erfolgen muss.

RB Da gibt es nichts anderes. Das ist das Schöne. Ein solches Blatt
entsteht in einer, zwei Stunden. Dann kann man es weglegen und das nächste
zur Hand nehmen. Man beginnt immer wieder frisch. Bei einer Skulptur, an
der ich ein Jahr arbeite, stehe ich jeden Morgen vor dem Unfertigen. Aber
eben deshalb geht es weiter. Am Schlimmsten ist es, wenn man sich sagt,
die Skulptur sei gut - ohne dass sie aber fertig wäre.

KT Das ist widersprüchlich ...
RB Es bedeutet, dass man eigentlich noch nicht zufrieden sein
kann. Eine Skulptur muss während der Arbeit immer offen bleiben. Man muss
am Abend wissen, dass es weiter geht - und wo und wie es weiter geht.

KT Ihre Tuschezeichnungen sind von einer skulpturalen Haltung
geprägt. Sie arbeiten die Figur aus dem Blatt hinaus und wieder hinein.
RB Ich bin da einfach neugierig: Wenn eine männliche oder weibliche
Figur auf dem Blatt entsteht, bin ich gespannt, was jetzt, heute kommt. Es
ist richtig, dass vor allem die letzten Blätter sehr plastisch geworden
sind. Das schreibe ich simpel mir als Bildhauer zu: Er hat das nicht
gewollt, und er hat das nicht anders gekonnt. Das Körperhafte kommt, ohne
dass ich ein Modell vor mir hätte, einfach immer wieder hervor.

KT Sie sagen: ohne Modell. Während Ihres Aufenthaltes in Krakau
1974 zeichneten Sie intensiv Akte nach Modellen.
RB Das gehörte als Einstieg dazu. Nachher schloss ich die Arbeit
mit dem Modell bewusst ab, damit ich ganz frei wurde: Damit jene Bilder
entstehen können, die ich in mir trage und die ich aus mir heraus produzieren
will. Ich verlange von mir eigentlich immer, nahe bei mir selbst zu
bleiben. Es ist dieses Wollen, dieses Aus-mir-heraus-Produzieren, das
mir das Schaffen ermöglicht. Ich weiss, dass ich damit in der heutigen
Kunstwelt etwas abseits stehe...

KT ... und Sie haben diese Einsamkeit in Kauf nehmen wollen?

RB Ich hätte sonst mit der Arbeit aufhören müssen. Ich kann nicht
vom einen zum anderen switchen. Ich kann mich nicht ständig an neuen
Moden oder Theorien orientieren. Denn die Bildhauerei ist ein unendlich
langsamer Prozess, ein langsames Medium. Kommt noch meine Person dazu: Ich
kann keine Tendenzen mitmachen.

KT Aber Sie haben sie beobachtet?

RB Selbstverständlich. Ich bin immer in Ausstellungen und Museen
gegangen. Was in der Kunst und in der Welt geschieht, beschäftigt mich
stark. Dass ich bei der Figur geblieben bin, hängt ganz einfach damit
zusammen, dass ich nichts anderes machen kann.

KT Wie positionieren Sie sich in der Tradition der Skulptur?

RB Ich bin einer jener, die wieder skulptural an der Figur gearbeitet
haben, und arbeite immer noch so. Wenn ich bei den Ägyptern schaue, gab es
bereits da herausragende Bildhauer. Und so stehe ich in einer langen Reihe
- ohne mich mit jenen genialen Vorgängern vergleichen zu wollen. Wenn ich
in der jüngern Geschichte schaue: Da gab es - zeitgleich mit der allgemeinen
Tendenz zur Abstraktion - nur einen einzigen: Alberto Giacometti. Er setzte
für mich ein Zeichen. Aber ich konnte ihn doch nicht weiterführen, selbst
wenn ich das gewollt hätte. Meine Skulptur kommt aus der Erde heraus, seine
Werke kommen aus seiner ganz eigenen, anderen Befi ndlichkeit, die wohl viel
weniger mit dem Existenzialismus zu tun hat, als man gemeinhin behauptet.
Ich selbst habe in den letzten vierzig Jahren an der fi gürlichen Skulptur
weitergearbeitet, obwohl sie in den Sechzigerjahren eigentlich gestorben
ist. Es gab keine Persönlichkeiten, an denen man hätte andocken können,
weder Marino Marini noch Henry Moore. Das hat mich nicht interessiert.
Im Rückblick sehe ich jedoch einen Künstler, der aber lange relativ
unbeachtet geblieben ist: Lucien Freud. Er ist bei der Figur geblieben.
Aus dem gleichen Nicht-anders-Können wie ich arbeitete er mit seinen
Modellen weiter. Freud war mit Gewissheit stundenlang in der National
Gallery und studierte, was und wie beispielsweise Rembrandt malte.

KT Die Auseinandersetzung mit diesem genau beobachtenden Maler ist
für Sie wichtig.

RB Im Sommer 2006 waren meine Frau und ich in London. Ich studierte
dort immer wieder zwei Rembrandt-Gemälde. Wie Rembrandt die Hände malt,
das hat etwas Skulpturales. Für mich war es dann interessant, in der
grossen Rodin-Ausstellung in der Royal Academy eine Figur zu entdecken,
die die gleichen Hände hatte: Ich fand die Rembrandt-Hände bei Rodin. Das
ist verrückt - und kunstgeschichtlich vermutlich auch nicht haltbar.

KT Was ist mit Rodin selbst, der als Schlüsselfi gur der modernen
Skulptur gilt?

RB In jener Ausstellung habe ich einfach wieder gesehen, was eine
Skulptur ist. Und wie aktuell Rodins Werk ist. Ich betrachte das auch als
Signal für die Skulptur im Allgemeinen. Sie ist wieder am Kommen. Sie wird
wieder gebraucht - weil sie ein Zeichen setzt gegen das Versinken in den
virtuellen Räumen. Ich meine damit den Verlust an Wirklichkeit, der heute
zu beobachten ist - weil man das Körper- und Dinghafte in den aktuellen
Medien verloren hat. Ich bin überzeugt, dass die Skulptur von den Menschen
wieder gebraucht wird, weil sie sich daran halten können - erst recht, wenn
ich an die Probleme denke, die auf uns zukommen. Diese werden die Welt so
durcheinander wirbeln, dass es in der Kunst keinen Bluff mehr ertragen
wird - weil man sich an Bildern festhalten wird, die wirkliche Bilder sind.

KT An welche Probleme denken Sie?

RB Ich denke an die massiven Umweltprobleme, an die Migrationsbewegungen,
an die Verteilkämpfe zwischen den Völkern, beispielsweise
wegen des Wassers. Das sind wie Meteoriten, die einschlagen werden. Das
wird nicht in nächster Zukunft so sein, aber ich bin sicher, dass das in
fünfzig Jahren der Fall sein wird. Aber auch bis dahin wird es gewaltige
Verschiebungen geben, derart, dass die Menschen wieder neue Religionen
suchen werden. Davon bin ich überzeugt - und in dem Zusammenhang denke ich
auch, dass die Skulptur eine neue Notwendigkeit erhalten wird.

KT Meinen Sie, dass die Skulptur ein besonderes Potenzial zur Welterfahrung
in sich hat, für eine ganz diesseitige Wahrnehmung von Welt?

RB Lassen Sie mich einen Vergleich machen: Die Skulptur wird in
naher Zukunft etwa die Wirkung haben, wie wenn ich vom Walliser Bergdorf
Finhaut aus den Mont Blanc sehe. Er ist aus der Distanz zwar klein, aber
ich mache die Erfahrung und weiss, dass er so lange vor mir schon da war
und dass er nach mir noch so lange dort sein wird... Er gibt eine Richtung
an. Er weist zurück und nach vorne. Er gibt mir ein Mass an - so weit er
auch entfernt sein mag. Eben dieses Unfassliche berührt mich, weil dadurch
alles, was wir heute machen, relativiert wird.

KT Und das ist die Potenz, die eine Skulptur haben sollte?

RB Sie soll etwas öffnen, das man noch nicht kennt. Sie muss nichts
anderes als Welt eröffnen. Die Grösse spielt dabei keine Rolle. In der
Rodin-Ausstellung ist mir wieder bewusst geworden, was eine monumentale
Skulptur sein kann - auch wenn sie bloss 60 Zentimeter hoch ist. Und was es
für ein Schwachsinn sein kann, wenn sie acht Meter hoch ist, wie sie Damien
Hirst im Hof der Londoner Royal Academy aufgestellt hat. Monumentalität
ist also keine Frage der Grösse, sondern der inneren Kraft.

KT Spielt für die Wirkung die Sockelfrage mit?

RB Das hat man in den letzten Jahren ewig diskutiert. Und jetzt
merkt man, dass man einen Sockel durchaus brauchen kann. Wenn ich eine
60 Zentimeter grosse Figur mache, kann ich sie doch nicht auf den Boden
stellen, selbst wenn sie in sich monumental ist. Der Sockel ist ein Hilfsmittel,
damit man die Skulptur erfahren kann. Es geht überhaupt nicht
darum, sie damit zu überhöhen. Das einzige, was stimmen muss, ist das
Verhältnis von Sockel und Figur.

KT Und wie steht es mit dem Verhältnis von Distanz und Nähe?

RB Eine Skulptur, zu der ich nahe herangehe, die plötzlich mehr
als zwei Meter gross ist, die ein grosses Geschlecht hat und starke Brüste
und riesige Hände - vor der habe ich aus der Nähe selbstverständlich mehr
Angst als aus der Distanz. Das ist die Wirklichkeit der Skulptur, die so
direkt und massiv erscheint...

KT ... und das Befremdliche...

RB ... das Un-Menschliche, das Fremde.

KT Wo ist der richtige Ort, damit eine Skulptur in dieser Weise
stehen und wirken kann?

RB Die Art meiner Skulpturen rief meist danach, dass sie in der
Natur platziert sein mussten - weil sie selbst etwas Naturhaftes in sich
haben. Aber die Aussage kann durchaus stärker sein, wenn sie in einem
Museumsraum platziert werden. Der Raum muss nur die richtigen Masse haben.

KT Das meint vermutlich nicht das metrische Mass?

RB Das ist ja das Schöne, dass die Skulptur aktiv wird, dass
sie ein Wesen, ein Körper wird. Wenn ich die Möglichkeit habe, etwas zu
platzieren - ob in der Natur oder in der Architektur -, muss ich selbst
zuerst den Raum erfahren. Ich habe mit Ausnahme des « Ubinas » in Beckenried
- diesem grossen Kopf, der nach dem Vulkan in Peru benannt ist - und jetzt
in Hohenklingen nie für einen spezifi schen Raum gearbeitet. Ich habe immer
im Atelier meine Figuren gemacht, die für mich notwendig waren, und sie
erst dann an bestimmte Orte herangetragen. Und sie funktionieren nur dann
an diesem Ort, wenn sie auch eine Aussage zum Ort und zum Raum machen
können. Das kann im übrigen auch im urbanen Umfeld sein.

KT In den « Schwarzen Räumen » arbeiten Sie immer auch als Licht-
Installateur. Welche Rolle spielt das Licht überhaupt für Ihre Arbeit?

RB Es ist das Licht, das die Skulptur zum Leben erweckt. Es lässt
sie vom Morgen bis zum Abend lebendig werden, in immer neuen Facetten.
Eine Skulptur hat hunderttausend Erscheinungsformen. Sie ist trotz der
geballten Materialität ein Lichtwesen. Das zeigte sich auch im Kunstmuseum
Luzern. Ich schuf für das « Schwarze Haus II » - das erste machte ich 1981
- eine grosse Skulptur, die für mich eindeutig ein weibliches Geschlecht
war. Es war 14 Meter lang und 8 Meter breit. Ich holte sie total in die
Nacht hinein. Ich löste die Vulva in der Schwärze auf und liess nur wenig
Licht hinein. Die Betrachter sahen alle etwas anderes: Der eine sah eine
Welle, der andere ein Boot, der dritte sah Wasser, jemand sah ein Auge
und ein fünfter einen Mund. Ich fand es faszinierend, dass alle auf ein
archetypisches, weibliches Zeichen kamen. Das war im wahrsten Sinn ein
Phänomen. Das Licht wurde wie ein lebendiges Ding. Das weibliche Genital
verschwand und schien auf, atmete und war eine Lichterscheinung.

Infos

Type
Artikel
Share

Artistes

Details Name Portrait
Rudolf Blättler