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Hans-Joachim Müller: Wenn man alte Kataloge durchblättert
oder alte Fotos von Ihnen sieht, dann bekommt man eine Ahnung
davon, wie lang der Weg gewesen ist, wie viel Zeit sich in
Ihrem Werk gestaut hat.

Markus Raetz: Das ist schon wahr, es ist eine grosse Spanne, und
der Weg ist auch nicht gerade gewesen, und manches liegt schon
sehr weit zurück. Wenn ich nur an die sechziger Jahre denke,
an all die Zeitströmungen, die mich damals beeinflusst haben,
es war wie eine Lehrzeit, und die starken Impulse kamen aus
allen möglichen Richtungen. Erst langsam ist daraus entstanden,
was ich heute mache. Und wenn man zurückblickt, dann
kommt es einem doch vor wie eine Linie, die sich durch alles
zieht. So gross sind die Unterschiede zwischen damals und
heute halt doch nicht. Letztendlich geht es immer um die gleichen
Sachen. Wenn man so lange schafft, dann kommen bestimmte
Themen immer wieder, und auch die eigenen Techniken
greift man immer wieder auf. Ich denke mir, auch die
Umwege haben eine Bedeutung gehabt und sind letztlich für
die Entwicklung wichtig gewesen, und all die Verschlingungen
und Verknotungen des Weges scheinen mir heute gar nicht mehr
so unauflösbar zu sein. Wäre ja auch ziemlich langweilig, wenn
man alles so geradlinig anpeilen könnte.

Hans-Joachim Müller: Was waren ganz am Anfang die entscheidenden
Einflüsse?

Markus Raetz: Es fängt bei mir ganz sicher in der Kinderzeit an,
in der die Weichen gestellt worden sind. In meinem Umfeld ist
viel gezeichnet worden, mein Vater hat gerne gezeichnet und
geschrieben und Musik gemacht, und das hat mich natürlich
beeinflusst und gelenkt. Dann gab es einen Nachbarn, einen
Künstler, bei dem ich in den Ferien im Atelier war und ihm
zugeschaut und später bei der Arbeit geholfen habe. Von ihm
habe ich ungemein viel gelernt - vor allem im technisch handwerklichen
Bereich, im Umgang mit dem Material und wie man
sich für eine bestimmte Arbeit auch das jeweilige Wissen aneignen
kann. Er war wirklich enorm innovativ.

Hans-Joachim Müller: Und damit war von Anfang an klar, dass
Sie selber Künstler werden wollten?

Markus Raetz: Daran gab es eigentlich nie einen Zweifel ?

Hans-Joachim Müller: ? und keine Widerstände in der Familie?

Markus Raetz: Widerstände nicht, Bedenken schon. Damals hat
man halt nur Künstler gekannt, die verkrachte Existenzen waren,
oder solche, die von ihrer Arbeit kaum leben konnten. Davor
haben die Eltern schon gewarnt, aber es war nicht so, dass
ich meinen Beruf gegen sie hätte wählen müssen. Ein Glück
war ja auch, dass mit den Umwälzungen der sechziger Jahre
die Kunst ein ganz neues Ansehen in der Öffentlichkeit bekommen
hat und sich immer mehr junge Sammler für sie zu interessieren
begannen. Die haben dann schon immer mal wieder
eine Zeichnung gekauft. Auch das Leben war damals viel billiger,
man hat noch günstig eine kleine Mansarde mieten können,
hat da und dort einen Job bekommen, mal eine Zeichnung für
eine Werbeagentur gemacht, mal eine Illustration für ein Magazin,
also irgendwie kam man schon durch.

Hans-Joachim Müller: Und das alles vor dem Hintergrund des
ungemein vitalen Ausstellungsprogramms der Berner Kunsthalle
damals.

Markus Raetz: Ja, das war schon alles sehr aufregend. Es begann
bereits Ende der fünfziger Jahre, als noch Franz Meyer Direktor
an der Kunsthalle war. Und erst recht, als Harald Szeemann
kam. Da wurde es dann richtig turbulent. Ich habe zusammen
mit Freunden und Freundinnen bei manchen Ausstellungseinrichtungen
mitgeholfen. Man war ganz nahe dran. Und die
grossen Ausstellungen «Licht und Bewegung», «Weiss auf
Weiss», «Science-Fiction», «Environment» bis hin zu «When
attitudes become form», das waren wirklich starke Momente.

Hans-Joachim Müller: An der Attitüden-Ausstellung waren Sie
ja auch selber beteiligt. Wie war das damals für Sie als junger
Berner Künstler inmitten der internationalen Avantgarde?

Markus Raetz: Das war toll. Plötzlich hat man auch gespürt, dass
man vielleicht doch nicht aus einem Provinznest stammt und
mithalten kann mit den berühmten Kollegen, die da zusammengekommen
sind. Früher hatte man immer den Eindruck gehabt,
alles Wichtige passiere anderswo, nur nicht hier in Bern. Und
jetzt war plötzlich Bern ein Zentrum.

Hans-Joachim Müller: Haben die Arbeiten der internationalen
Künstler, die Szeemann für seine Attitüden-Ausstellung bestimmt
hatte, Ihre Arbeit gravierend beeinflusst? Ist sie über
der Begegnung ganz anders geworden?

Markus Raetz: Ob sie ganz anders geworden ist, weiss ich nicht.
Aber beeinflusst hat mich diese Kunst der Zeit schon. Das war
auch ein Grund, Ende der sechziger Jahre die Schweiz zu verlassen
und für ein paar Jahre in Amsterdam zu leben und zu
arbeiten. Nicht weil ich mein Land loswerden, sondern weil ich
wieder etwas freier werden und mich auf meine eigene Arbeit
besinnen wollte. Ich habe in Holland sehr zurückgezogen gelebt
und habe dann wohl auch in Reaktion auf die ganzen künstlerischen
Aufbrüche, die ich in Bern mitgemacht habe, fast nur
noch gezeichnet. Das hat ein paar Jahre gedauert, in denen
täglich mindestens eine Zeichnung entstanden ist, oft sind es
aber sehr viel mehr gewesen, und daraus ist dann so eine Art
Tagebuch geworden. Und wenn ich das heute anschaue, dann
kann ich überall Themen entdecken, die mich auch heute noch
beschäftigen. Irgendwie schliessen sich die Kreise doch immer
wieder. Und wenn manches damals noch eine sehr rudimentäre
Form hatte, dann kann ich doch heute sehen, wie sich die Dinge
aufeinander beziehen und wie das eine aus dem anderen
stammt.

Hans-Joachim Müller: Können Sie das noch beschreiben, wie die
Berner Erfahrungen auf Ihre Arbeit eingewirkt haben?

Markus Raetz: Es war die Zeit der Pop-Art und der Op-Art, und
das sieht man an den farbigen Holzreliefs, die ich damals gemacht
habe. Und im Sog der neuen Kunst Ende der sechziger
Jahre ist dann meine Arbeit immer konzeptueller geworden.
Das hat sich auch nicht ganz verloren, als ich in Amsterdam
nur noch gezeichnet habe. Bestimmte Themen der sechziger
Jahre sind auch da immer wieder aufgetaucht.

Hans -Joachim Müller: Kann man sagen, dass Sie im Grunde
Zeichner sind - auch im Blick auf die fragilen Objekte, die Sie
später gemacht haben und heute noch machen?

Markus Raetz: Das hat schon was. In jedem Fall ist Zeichnen fast
immer der erste Schritt - auch bei den Skulpturen. Was zu ihnen
führt, führt über die Zeichnung. Und auch die Druckgrafik, die
ich lange gemacht habe, kommt aus dem Zeichnen. Zeichnen ist
eben schon als Technik überlegen. Man kann überall zeichnen,
man braucht dazu keine besonderen Werkzeuge oder Räume.
Bleistift und Papier reichen aus.

Hans-Joachim Müller: Zeichnen ist aber auch, wenn Sie einen
kleinen, seltsam gewachsenen Zweig finden und ihn an einem
Faden aufhängen.

Markus Raetz: Das kommt natürlich auch aus dem zeichnerischen
Impuls. Linie und Raum haben tatsächlich bei mir schon immer
eine viel grössere Rolle gespielt als die Farbe. Das war schon
in den sechziger Jahren so, dass es immer wieder diese Schritte
vom Zwei- ins Dreidimensionale und wieder zurückgegeben
hat.

Hans-Joachim Müller: Wobei Raum bei Ihnen, denke ich, sehr
viel mit Imagination und Phantasie zu tun hat. Sie sind ja nicht
der Bildhauer, dem besonders viel an körperhaften Volumina
gelegen wäre.

Markus Raetz: Obschon die Skulpturen, die in den neunziger
Jahren entstanden sind, deutlich von Volumina geprägt sind.
Aber die Volumina sind eher wie ein Reservoir an zweidimensionalen
Formen. Ich habe immer intensiv mit Umrissen gearbeitet,
und auch diese Skulpturen haben ihr eigentliches Thema
in den Silhouetten. Vielleicht sollte man es so sagen: Meine
Arbeit geht entweder von der Linie aus oder vom zweidimensionalen
Netzhautbild. Schauen Sie diese Quader, die sich hier
oben an der Decke bewegen. Sie sind ein gutes Beispiel dafür:
Es sind ja gar keine Quader, es sind flache Gebilde, und unser
Gehirn diktiert, dass wir sie als Quader sehen. Das hat mit der
Konvention oder der Konditionierung des Sehens zu tun. So
etwas interessiert mich sehr.

Hans-Joachim Müller: Mit dem Sehen oder mit Sehgewohnheiten
hat auch zu tun, wie erfolgreich Sie im Finden von kleinen Ästen
oder Zweigen geworden sind, die alle aussehen wie kleine
Strichfiguren. Ich stelle mir vor, Sie sind inzwischen derart
visuell trainiert, dass Sie an einer Schirm-Pinie vorbeilaufen
und sofort erkennen, was Sie alles an ihr «ernten» können.

Markus Raetz: Ein solches Training gibt es, das ist wahr. Es fällt
einem einfach auf, dass es durch die Verzweigungen immer diese
umgekehrten Y-Formen gibt, die an einfache Figurenzeichnungen
erinnern. Schon bei den Astzeichnungen, die ich in den
siebziger Jahren gemacht habe, kommen diese Elemente vor.
Das waren Zeichnungen im Raum oder Zeichnungen aus Ästen,
die eine Entdeckung aufgreifen, die ich beim Holzsammeln in
Südfrankreich gemacht habe. Wir bewohnen dort ein Haus in
einem Wald, und man muss für das Brennholz sehr viele Äste
in die Hand nehmen. Und da ist mir bald aufgefallen, dass in
den Zweigen alle Elemente vorkommen, die auch in einer Zeichnung
vorkommen - sei es nun die Gerade oder der Bogen, die
Kreuzung oder die Verzweigung. In der Natur ist gleichsam das
ganze Vokabular des Zeichnens aufgehoben, man muss diesen
zeichnerischen Vorrat der Natur nur gebrauchen. Und es ist
schön zu beobachten, wie sich die Naturformen dann an der
Wand oder vor der Wand verändern. Sie sind ja nie flach wie
eine Zeichnung. Wenn man vor ihnen steht, sieht man, wie sie
sich in den Raum wölben. Aber ihr Schatten an der Wand ist
wie eine Zeichnung, und von der Seite aus betrachtet nehmen
die Zweige immer wieder andere zeichnerische Formen an.

Hans-Joachim Müller: Wie spielen die beiden ästhetischen Verfahren
zusammen, Entdeckung, Zufall, Überraschung auf der
einen Seite und Konstruktion, Arbeit an der Erfindung auf der
anderen Seite? Zum Beispiel bei den Gesichtsprofilen, die Sie
aus Drahtspiralen gewonnen haben, indem Sie sie in einer ganz
bestimmten Weise auseinandergezogen haben. War das Zufall,
dass Sie mal eine Spirale verformt und entdeckt haben, welche
interessanten Möglichkeiten sich da auftun? Oder war umgekehrt
erst die Idee da, ein Profil aus Draht zu biegen, und dabei
ist Ihnen die Spirale eingefallen?

Markus Raetz: Nein, das war ein bisschen anders. Es begann, als
ich Äste oder Drahtstücke aufgehängt habe und sehen konnte,
wie sie in der Windbewegung - vor einem hellen Hintergrund
oder vor dem Himmel - flach und zweidimensional aussehen.
Man kann dann die Formen kaum mehr dreidimensional inter
pretieren, man sieht nicht mehr, was vorn und was hinten ist,
man sieht sie nur als Linie, die in sich beweglich ist. Und das
hat mich sehr fasziniert, und ich habe begonnen, ein bisschen
genauer zu studieren, was für Bewegungen da geschehen. Wenn
man solche Anordnungen wie einen Animationsfilm anschaut,
dann erkennt man bei spiralförmig gewachsenen Ästen, dass
es eine Aufwärts- oder Abwärtsbewegung gibt. Oder Äste, in
denen fast schon anthropomorphe Formen enthalten sind. Solche
Beobachtungen haben mich zur Überlegung geführt, wie
man so etwas selber aus Draht herstellen könnte. Es sind immer
wechselseitige Prozesse, in denen bei mir die Dinge entstehen.
Man kann nie genau sagen: Hier spielt der Zufall, dort herrscht
die Konstruktion.

Hans -Joachim Müller: Aber das Entdecken spielt schon eine
zentrale Rolle. Sie sitzen ja nicht da und tüfteln an einer Erfindung.

Markus Raetz: In einem späteren Stadium gibt es das schon. Aber
meist ist es so, dass der erste Impuls von etwas ausgeht, das ich
gefunden habe oder das mir irgendwie aufgefallen ist. Eine
meiner neueren Arbeiten zeigt zum Beispiel die Bewegung einer
Skulptur, deren Elemente sich auf Kugellagern drehen und miteinander
über ein Zahnradgetriebe verbunden sind. Und dann
sieht man eine tanzende Figur zwischen diesen skulpturalen
Formen, deren Silhouetten nach einem Foto von Man Ray gezeichnet
ist. Ausgehend von dieser Silhouette habe ich die
Grundposition schichtweise aufgebaut, und bei jeder Schicht
hat es vier Punkte gegeben, die mit Ellipsenbögen miteinander
verbunden sind. Sie sehen, das ist ein Beispiel für eine Vorgehensweise,
die fast nur mit Konstruktion zu tun hat. Auf der
anderen Seite machen mir schöne Fundsachen ungemein Spass,
ein sauber spiralförmig gewachsener Ast ist wirklich selten,
das ist eine Trouvaille. Und es ist wunderbar, nach so etwas zu
suchen, wobei das Suchen in einer gewissen Weise ja auch Strategie
ist, viel mehr Strategie jedenfalls als das zufällige Finden
und Entdecken.

Hans-Joachim Müller: Und zum Finden und Entdecken eignet
sich Südfrankreich besonders gut?

Markus Raetz: Das hat damit zu tun, dass ich nach Südfrankreich
nie viel habe mitnehmen können, dass die ganzen Arbeitsmaterialien
zu Hause geblieben sind und ich bald darauf angewiesen
war, dort meine eigenen künstlerischen Techniken zu entwickeln
und mit dem Material zu arbeiten, das man dort finden
kann. Ich habe das immer ausgesprochen interessant gefunden,
dass man in solchen Situationen gleichsam als Notbehelf auf
Dinge zurückgreifen muss, die man zu Hause noch gar nicht
ausprobiert hat. Es ist eine Bereicherung des Vokabulars und
auch eine Chance und zudem eine ganz besonders schöne Art
zu schaffen. Es ist das Gegenteil von dem, was man hier in der
Stadt macht. Hier geht man in den Laden und kauft, was man
braucht. Dort findet man etwas, was man nicht gesucht hat und
von dem man noch nicht weiss, wie man es gebrauchen kann,
das man also erst einmal zu gebrauchen lernt.

Hans-Joachim Müller: Es gibt in Ihrem Werk eine hohe Fragilität,
nicht nur, was die feinen Materialien angeht. Viele Arbeiten
besitzen diesen einen richtigen Blickpunkt. Den muss man
treffen. Wenn man ihn verpasst, sieht man möglicherweise
nicht, was es zu sehen gibt.

Markus Raetz: Das ist für mich aber kein Muss. Es ist eher so etwas
wie eine Spielregel, die mir hilft, eine bestimmte Form zu
machen, auf die ich nicht käme, wenn ich nur von mir aus, von
irgendeiner Phantasie ausginge. Ein Beispiel: eine Skulptur, in
der zwei verschiedene Motive enthalten sind, der Beuys und
der Hase etwa. Ich will gar nicht bestreiten, dass die Motive
schon auch eine Wichtigkeit haben, aber mehr noch ist es darum
gegangen, zwei Silhouetten zu haben, die man gut erkennt und
die so aufeinander abgestimmt sind, dass man, wenn man sich
vor der Skulptur bewegt, vom einen Motiv zum anderen kommt.
Die Verwandlung ist etwas, das mich viel mehr interessiert als
die einzelnen Motive oder der richtige Standpunkt.

Hans-Joachim Müller: Ihre Arbeit hat eine Tendenz, sich zu entziehen.
Sie ist nicht und sie bleibt vor allem nicht, wie man
denkt, dass sie sei.

Markus Raetz: Ja, wie alles. Nichts ist ja wirklich unveränderlich.
Vielleicht ist das für mich die einzige Art von Realismus, die
ich pflege. Realismus ist diese Übereinstimmung der Arbeiten
mit der äusseren Welt in der Weise, dass alles voneinander abhängt
und alles abhängig ist vom Standort, von Einflüssen, von
Erosion, von Korrosion.

Hans-Joachim Müller: Also Einspruch gegen die Grandiosität,
mit der die Dinge von sich behaupten, dass sie so seien, wie sie
seien?

Markus Raetz: Sie sind nicht so unabänderlich, wie sie sich geben.
Es sind nur Zustände.

Hans-Joachim Müller: In der Literatur über Ihr Werk ist häufig
betont worden, dass Sie ein sehr schweizerischer Schweizer
Künstler seien. Ist das so?

Markus Raetz: Sie finden wahrscheinlich schon Dinge in meiner
Arbeit, die man mit der Schweiz in Zusammenhang bringen
kann. Diesen Hang zur Präzision zum Beispiel. Das ist etwas,
was ich in der Schweiz viel sehe - auch bei Kollegen. Ich denke
auch an die Ironie, die doch auch zu meinem Werk gehört. Oder
diese Tendenz zum Kleinräumigen, zum kleinen Format. Es
gibt wenige wirklich grosse Arbeiten bei mir. Aus der ironischen
Grundeinstellung heraus kann man nicht ein riesiges,
monumentales Werk schaffen. Das wäre ein Widerspruch. Dann
würde auch die Ironie nicht viel taugen. Aber ich weiss nicht,
ob das alles wirklich schweiztypisch ist. Es ist schwer, darüber
etwas zu sagen. Man wird das nie ganz verleugnen können,
woher man kommt. Warum sollte man das auch. Aber damit ist
noch gar nichts gesagt über die Formen oder Erscheinungsweisen
einer Schweizer Kunst. Ich bin viel im Ausland, habe jahrelang
in Holland gelebt - vielleicht nicht umsonst in einem
Land, das von der Grösse her durchaus Ähnlichkeiten mit der
Schweiz hat, wenn die Geschichte auch ganz anders verlief.
Aber es bringt nicht viel, wenn man meine Sachen daraufhin
prüft, wie schweizerisch sie sind.

Hans-Joachim Müller: Das Stichwort Ironie führt auch ziemlich
tief in Ihre Arbeit. Es gibt diese ganze Spanne - vom heiteren
Staunen des Kindes bis zur Karikatur.

Markus Raetz: Karikaturen mag ich sehr. Ich sehe sie mir in den
Zeitungen fast lieber an, als die Texte zu lesen. Wie sie schwierige
Sachverhalte auf den Punkt bringen, das ist manchmal
schon imponierend.

Hans-Joachim Müller: Verstehen Sie sich als politischer Künstler?

Markus Raetz: Aber nicht in dem Sinn, dass ich auf Tagesgeschehen
reagiere. Das könnte ich gar nicht. Ich nehme zwar wahr,
was politisch geschieht, habe aber nicht den Anspruch, dass ich
mich mit meiner Arbeit irgendwie einmischen könnte. Und doch
denke ich, wenn man sich als Künstler vorgenommen hat, die
Wahrnehmung bewusster zu machen, dann ist das durchaus
eine politische Sache. Die Kunst, die für mich wichtig geworden
ist, ist immer Kunst gewesen, die die Dinge für einen Moment
ganz anders gezeigt hat. Das ist politisch, denke ich.
Hans-Joachim Müller: Sie haben die Arbeit «Beuys und der Hase»
angesprochen. Enthält sie nicht auch ein kunstpolitisches Statement?
Eine leise Ironie, mit der Sie sich vom emphatischen
Künstler Joseph Beuys abgrenzen? Ironie ist doch gerade das
Gegenteil zum Beuys?schen Messianismus.
Markus raetz: So habe ich das eigentlich nie gesehen. Nein, Beuys
hat schon auch mir eine Welt aufgetan. Und ich habe das Gefühl,
dass er recht viel Humor besessen hat. Er hat die Arbeit ja nicht
kennen können, weil sie erst nach seinem Tod entstanden ist.
Aber ich denke mir, sie hätte ihm so schlecht nicht gefallen. Ich
habe mal erlebt, wie er auf eine Bildergeschichte, die ich gezeichnet
habe, reagiert hat. Ich finde die Arbeiten von Beuys sehr
wichtig, und es wäre ein Irrtum, wenn man aus meiner Arbeit
eine versteckte Beuys-Kritik herauslesen wollte.

Hans-Joachim Müller: Was für Kunst mögen Sie?

Markus Raetz: Ganz verschiedene, und von Phase zu Phase auch
immer wieder andere. Ich bin da nicht so festgelegt. Eine grosse
Entdeckung ist für mich zum Beispiel Magritte gewesen. Von
ihm habe ich in den späten fünfziger Jahren die ersten Bilder
gesehen, und die Faszination ist bis heute geblieben. Ich habe
auch an mir beobachtet, dass man andere Künstler und Werke
häufig im Zusammenhang mit der eigenen Arbeit entdeckt. Bei
den Astzeichnungen zum Beispiel haben mich die Linienkürzel
stark an Matisse erinnert, und in dieser Zeit habe ich mich
sehr für Matisse interessiert. Dann gab es wieder Zeiten, in
denen ich alte Kupferstiche und Stahlstiche studiert habe.
Überhaupt haben mich die grafischen Techniken immer interessiert.
Wenn man zum Beispiel Banknoten unter die Lupe
nimmt, dann sieht der Liniengrund wie ein geflochtener Korb
aus. Das sind so Beobachtungen, die dann als wellige Linien
und Schraffuren bei mir wieder aufgetaucht sind. Und ganz
wichtig ist das Studium der Kupferstiche für die Halbtöne geworden.
Das ist eine ganz grosse Entdeckung gewesen, die mich
lange beschäftigt hat. In den Büchern von Amsterdam habe ich
ausprobiert, wie man mit Linienrastern und Punktrastern
Halbtöne zwischen Schwarz und Weiss erreichen kann. Die
Grafik ist mir immer näher gelegen als die Malerei.

Hans-Joachim Müller: Wie wichtig war für Sie der Auftritt auf
der Biennale in Venedig im Jahr 1988?

Markus Raetz: Es ist ja ein bisschen anders als beim Theater, wo
der Erfolg oder Misserfolg einer Aufführung sogleich feststeht.
Als bildender Künstler bekommt man die Reaktionen nicht so
unmittelbar mit. Ich kann nicht sagen, wie meine Dinge damals
wahrgenommen worden sind. Aber es war zum ersten Mal für
mich, dass ich mein Werk vor einem so grossen internationalen
Publikum zeigen konnte. Das war schon sehr wichtig.

Hans-Joachim Müller: Ihre jungen Kolleginnen und Kollegen, die
sich dem Kunstmarkt verschrieben haben, werden heute innerhalb
von wenigen Jahren zu Weltstars gemacht. Wie beobachten
Sie, dessen Werk so langsam gewachsen ist, diese hektischen
Entwicklungen?

Markus Raetz: Ich habe schon das Gefühl, solche Entwicklungen
werden von Leuten diktiert, denen es gar nicht um Kunst geht,
sondern nur ums Geld. Das halte ich wirklich für fatal, für die
völlig falsche Richtung. Es geht nicht mehr um die Sache, es
geht nur noch um das Geschäft. Wenn reiche Leute bestimmen
können, was Kunst ist, dann ist wirklich etwas schiefgelaufen.

Hans-Joachim Müller: Man wird auch ein bisschen einsam angesichts
einer solchen Entwicklung.

Markus Raetz: Wobei ich ja den Eindruck habe, dass es inzwischen
recht viele gibt und dass es immer mehr werden, die diese
Zustände vehement kritisieren und ganz andere Ansprüche
verteidigen. Unter denen hat es durchaus auch Sammler oder
Leute, die in der Kunstvermittlung arbeiten, also auch Stimme
und Gewicht haben. Das scheint mir nicht einmal eine Minderheit
zu sein. Ich denke, es ist eine Entscheidung, ob man in dem
Zirkus mitmachen will oder nicht. Es gibt keinerlei Zwang.
Es soll mir niemand sagen, er sei in irgendetwas reingedrängt
worden. Es ist immer die eigene Entscheidung.

Hans-Joachim Müller: Sind Sie zufrieden mit der Resonanz auf
Ihre Arbeit?

Markus Raetz: Das ist schon in Ordnung, wie alles geworden ist.
Mir kommt es darauf an, dass ich meine Arbeiten in einem guten
Rahmen und unter guten Voraussetzungen zeigen kann. Und
solche Gelegenheiten tun sich immer wieder auf. Mehr brauche
ich nicht.

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